Entscheidungsstichwort (Thema)
Pflegeversicherung – Pflegestufe III – Härtefall – Härtefall-Richtlinien – Anwendbarkeit – Ermessen – Beurteilungsspielraum – Einschätzungsprärogative – Quote
Leitsatz (amtlich)
1. Die Härtefall-Richtlinien der Spitzenverbände der Pflegekassen idF vom 3.7.1996 werden der gesetzlichen Vorgabe nicht gerecht, die Quoten von 3% im häuslichen Bereich und 5% im stationären Bereich auszuschöpfen. Sie sind deshalb neu zu fassen, bleiben vorerst aber weiter anwendbar.
2. Der Pflegekasse steht bei der Entscheidung über den Antrag auf Anerkennung als Härtefall kein Ermessen zu.
Stand: 20. Februar 2002
Normenkette
SGB XI §§ 16, 17 Abs. 1 S. 3, Abs. 2 S. 2, § 36 Abs. 4 S. 1, § 43 Abs. 3
Beteiligte
Barmer Ersatzkasse – Pflegekasse– |
Verfahrensgang
Tenor
Auf die Revision der Beklagten werden die Urteile des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 16. Februar 2001 und des Sozialgerichts Ulm vom 22. September 1999 geändert. Die Klage wird abgewiesen.
Kosten sind in allen Rechtszügen nicht zu erstatten.
Tatbestand
I
Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob der Kläger als Härtefall gemäß § 36 Abs 4 Elftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB XI) einzustufen ist und daher weitere häusliche Pflegesachleistungen bis zu einem Gesamtwert von 3.750 DM monatlich zu erbringen sind.
Der im Jahre 1945 geborene Kläger, der bei der beklagten Pflegekasse versichert ist, leidet seit 40 Jahren an der „Friedreich'schen Ataxie”, einer erblich bedingten fortschreitenden Nerven- und Muskellähmung, die den gesamten Körper erfaßt und zu einer umfassenden Lähmung nebst völliger Stuhl- und Harninkontinenz und aufgrund der totalen Bewegungsunfähigkeit zu einem chronischen Druckgeschwür geführt hat. Tagsüber sitzt der Kläger im Rollstuhl, in dem er mit Gurten an Oberkörper, Bauch und Beinen fixiert ist. Er ist nahezu taub, erheblich sehbehindert und kann sich sprachlich kaum noch verständlich machen. Seine Sitz- und Liegeposition kann er nicht selbst verändern, so daß er regelmäßig umgelagert werden muß. Der Kläger bezieht Pflegesachleistungen nach der Pflegestufe III. Seine 1954 geborene Schwester leidet an der gleichen Krankheit, die bei ihr ähnlich weit fortgeschritten ist; sie erhält ebenfalls Pflegesachleistungen nach der Pflegestufe III. Beide leben bei ihrer jetzt 79 Jahre alten Mutter, die ihre Kinder rund um die Uhr betreut und pflegt und dabei von einem ambulanten Pflegedienst unterstützt wird.
Den Antrag des Klägers vom 14. Oktober 1998, ihm Pflegesachleistungen über den zugebilligten monatlichen Betrag von bis zu 2.800 DM hinaus bis zur Höhe von 3.750 DM nach § 36 Abs 4 SGB XI zu gewähren, lehnte die Beklagte nach Einholung eines Gutachtens des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung (MDK) mit der Begründung ab, sein Pflegebedarf entspreche nicht den Kriterien der Härtefall-Richtlinien (HRi) der Spitzenverbände der Pflegekassen zu den §§ 36 Abs 4 und 43 Abs 3 SGB XI (Bescheid vom 19. November 1998, Widerspruchsbescheid vom 10. März 1999).
Mit der Klage hat der Kläger geltend gemacht, maßgebend für die Anerkennung eines Härtefalls seien allein die besonderen Umstände eines jeden Einzelfalls. Die außerordentlich hohe Belastung seiner Mutter durch die jahrzehntelange Pflege zweier schwerstpflegebedürftiger erwachsener Kinder müsse berücksichtigt werden. Diese Belastung würde durch die zusätzlichen Pflegeeinsätze im Werte von bis zu 950 DM monatlich merklich verringert.
Das Sozialgericht (SG) hat der Klage stattgegeben (Urteil vom 22. September 1999), das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung der Beklagten zurückgewiesen (Urteil vom 16. Februar 2001). Es hat den durchschnittlichen täglichen Grundpflegebedarf des Klägers mit 366 Minuten, davon regelmäßig 60 Minuten nachts, festgestellt und die Ansicht vertreten, dieser Pflegebedarf übersteige die Mindestvoraussetzungen der Pflegestufe III nach § 15 Abs 1 Satz 1 Nr 3 und Abs 3 Nr 3 SGB XI in einem solchen Maße, daß ein Härtefall anzuerkennen sei. Die HRi seien für die Gerichte nicht verbindlich, sondern stellten nur eine Auslegungs- und Beurteilungshilfe dar. Daher könne die – vom SG bejahte – Frage offenbleiben, ob auch ein außergewöhnlicher Einsatz der Pflegeperson zu berücksichtigen sei.
Mit der Revision rügt die Beklagte die Verletzung des § 36 Abs 4 SGB XI. Sie sieht die HRi als verbindlich an.
Die Beklagte beantragt,
die Urteile des LSG Baden-Württemberg vom 16. Februar 2001 und des SG Ulm vom 22. September 1999 zu ändern und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Entscheidungsgründe
II
Die Revision ist begründet. Die Beklagte hat es zu Recht abgelehnt, den Versicherungsfall des Klägers zum jetzigen Zeitpunkt als Härtefall der Pflegestufe III anzuerkennen und ihm einen über den monatlichen Betrag von 2.800 DM hinausgehenden Leistungsanspruch bis zur Höhe von 3.750 DM zuzubilligen.
Als Rechtsgrundlage für den geltend gemachten Sachleistungsanspruch kommt allein § 36 Abs 4 Satz 1 SGB XI in Betracht. Danach können die Pflegekassen in besonders gelagerten Einzelfällen zur Vermeidung von Härten Pflegebedürftigen der Pflegestufe III im häuslichen Bereich weitere Pflegeeinsätze bis zu einem Gesamtwert von 3.750 DM monatlich gewähren, wenn ein außergewöhnlich hoher Pflegeaufwand vorliegt, der das übliche Maß der Pflegestufe III weit übersteigt, beispielsweise wenn im Endstadium von Krebserkrankungen regelmäßig mehrfach auch in der Nacht Hilfe geleistet werden muß. Eine vergleichbare Regelung für die stationäre Pflege findet sich in § 43 Abs 3 SGB XI. Was in beiden Vorschriften unter den unbestimmten Rechtsbegriffen „außergewöhnlich hoher Pflegeaufwand” (§ 36 Abs 4 SGB XI) bzw „außergewöhnlich hoher und intensiver Pflegeaufwand” (§ 43 Abs 3 SGB XI) zu verstehen ist, hat der Gesetzgeber allerdings nicht selbst definiert, sondern dies den – hier streitigen – Richtlinien der Spitzenverbände der Pflegekassen (§ 17 SGB XI) und daneben einer Verordnung (§ 16 SGB XI) des Bundesministeriums für Arbeit und Sozialordnung (jetzt: Bundesministerium für Gesundheit, vgl Organisationserlaß des Bundeskanzlers vom 27. Oktober 1998, BGBl I 3288; zur Problematik dieses Vorgehens: Wenner, SGb 1999, 501, 502) überlassen, die aber bisher nicht erlassen worden ist. Das Fehlen einer solchen Rechtsverordnung ist für die Anerkennungsverfahren nach den §§ 36 Abs 4 und 43 Abs 3 SGB XI unschädlich. Nach der Vorstellung des Gesetzgebers (BT-Drucks 12/5262 S 99 zu § 14 E) kommt der Verordnungsermächtigung nur für den Fall Bedeutung zu, daß die Spitzenverbände der Pflegekassen dem ihnen erteilten Auftrag nicht zufriedenstellend nachkommen. Durch die Verordnungsermächtigung soll also nur die Möglichkeit eröffnet werden, Entwicklungen in der Praxis zu korrigieren und ggf durch weitere Konkretisierungen steuernd einzugreifen (vgl Udsching, SGB XI, 2. Aufl 2000, § 16 RdNr 2). Einen solchen Korrektur- und Konkretisierungsbedarf hat der Verordnungsgeber – jedenfalls für die Vergangenheit zu Recht – nicht gesehen.
Nach § 17 Abs 1 Satz 3 SGB XI haben die Spitzenverbände der Pflegekassen unter Beteiligung des MDK gemeinsam und einheitlich Richtlinien zur Anwendung der Härtefallregelungen des § 36 Abs 4 SGB XI und des § 43 Abs 3 SGB XI zu beschließen. Diesem Auftrag sind die Spitzenverbände der Pflegekassen durch die HRi vom 10. Juli 1995 idF der Beschlüsse vom 19. Oktober 1995 und 3. Juli 1996 nachgekommen. Das Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung hat die HRi, wie nach § 17 Abs 2 SGB XI vorgeschrieben, genehmigt (Schreiben vom 15. Juli 1996). Ziff 4 der HRi definiert die Merkmale für einen außergewöhnlich hohen Pflegeaufwand: „Der Pflegeaufwand wird bestimmt durch die Art, die Dauer und den Rhythmus der erforderlichen Pflegemaßnahmen. Dieser kann sich aufgrund der individuellen Situation des Pflegebedürftigen als außergewöhnlich hoch bzw intensiv darstellen, wenn die täglich durchzuführenden Pflegemaßnahmen das übliche Maß der Grundversorgung im Sinne von Ziff 4.1.3 der Pflegebedürftigkeits-Richtlinien (PflRi) qualitativ und quantitativ weit übersteigen. Das ist der Fall, wenn die Grundpflege für den Pflegebedürftigen auch des Nachts nur von mehreren Pflegekräften gemeinsam (zeitgleich) erbracht werden kann oder Hilfe bei der Körperpflege, der Ernährung oder Mobilität mindestens sieben Stunden täglich, davon wenigstens zwei Stunden in der Nacht, erforderlich ist. Zusätzlich muß ständige Hilfe bei der hauswirtschaftlichen Versorgung erforderlich sein.”
Diese Voraussetzungen erfüllt der Kläger nicht. Die erforderlichen Pflegemaßnahmen können bei ihm jeweils durch eine Pflegekraft allein durchgeführt werden; die Hilfe einer zweiten Pflegekraft (1. Alternative) ist, auch aufgrund der behindertengerechten Ausstattung der Wohnung, nicht notwendig. Die Mindestzeiten der Grundpflege von täglich sieben Stunden, davon zwei Stunden nachts (2. Alternative), weist der Kläger nach den nicht angegriffenen und für den Senat daher bindenden (§ 163 Sozialgerichtsgesetz ≪SGG≫) Feststellungen des LSG ebenfalls nicht auf, weil sich sein täglicher Grundpflegebedarf auf „nur” gut sechs Stunden, davon eine Stunde nachts, beläuft.
Die HRi stellen – vorbehaltlich anderweitiger Regelungen in einer Verordnung nach § 16 SGB XI – bezüglich der inhaltlichen Ausgestaltung des Tatbestandsmerkmals des außergewöhnlich hohen Pflegeaufwandes (§ 36 Abs 4 SGB XI) eine abschließende Regelung dar. Es kann nicht beanstandet werden, daß der Gesetzgeber selbst darauf verzichtet hat, die näheren zeitlichen Voraussetzungen eines Härtefalls im Gesetz zu normieren und sich nur auf Beispielsfälle beschränkt hat (durch Nennung einiger schwerer Erkrankungen mit erfahrungsgemäß sehr hohem Pflegebedarf, der in der Regel auch mehrfach – also mindestens zweimal – nachts anfällt), in denen die Regelung zum Tragen kommen kann (nicht aber zwangsläufig zum Tragen kommen muß), sondern dies den Spitzenverbänden der Pflegekassen sowie dem Verordnungsgeber übertragen hat. Schon wegen des Fehlens jeglicher Erfahrungswerte war dieses die speziellen medizinischen und pflegerischen Kenntnisse der Pflegekassen nutzende Vorgehen des Gesetzgebers einwandfrei. Ein Verstoß gegen den verfassungsrechtlichen Wesentlichkeitsgrundsatz (vgl BVerfGE 61, 260, 275; 77, 170, 230) liegt nicht vor, weil der Gesetzgeber den äußeren Rahmen der Härtefallregelungen im SGB XI abgesteckt hat (Einführung von Höchstbeträgen von 3.750 DM bzw 3.300 DM; Beschränkung auf Fälle mit außergewöhnlich hohem Pflegeaufwand im Bereich der Grundpflege; Ausklammerung des Bereichs der hauswirtschaftlichen Versorgung; Beschränkung auf Quoten von 3 bzw 5 vH der jeweiligen Pflegebedürftigen der Pflegestufe III).
Die Begrenzung auf Quoten von 3 bzw 5 vH ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Der Gesetzgeber war von Verfassungs wegen nicht verpflichtet, überhaupt eine Härtefallregelung einzuführen. Dann ist es nicht zu beanstanden, wenn er eine Quotierung einführt, dabei aber gewährleistet ist, daß alle Versicherten gleich behandelt werden, was durch die HRi gesichert ist. Den Pflegekassen steht danach bei der Entscheidung über den Antrag auf Anerkennung eines Härtefalls trotz der Verwendung des Begriffs „können” in § 36 Abs 4 Satz 1 SGB XI kein Ermessensspielraum zu, wenn die genannten Voraussetzungen der Ziff 4 der HRi erfüllt sind. In derartigen Fällen besteht vielmehr ein Rechtsanspruch auf Anerkennung als Härtefall.
Auf der anderen Seite berechtigt der Begriff „können” die Pflegekassen nicht, einen Härtefall auch dann anzuerkennen, wenn die Voraussetzungen der Ziff 4 der HRi zwar nicht erfüllt sind, aber sonstige außergewöhnliche Umstände vorliegen, die eine Einstufung als Härtefall rechtfertigen könnten. Ein Ermessensspielraum steht den Pflegekassen auch in dieser Hinsicht nicht zu. Zur Wahrung des aus Art 3 des Grundgesetzes (GG) folgenden Gebots der Gleichbehandlung aller Versicherten der sozialen Pflegeversicherung sind die Pflegekassen an die HRi gebunden, die bundesweit einheitlich gelten und zu Recht regionale Abweichungen ausschließen (Ziff 1 der HRi). Demgemäß konnte auch der ganz außergewöhnliche, jahrzehntelange Einsatz der Mutter des Klägers bei der Pflege ihrer beiden schwerstpflegebedürftigen Kinder nicht dazu führen, ausnahmsweise einen Härtefall zu bejahen. Maßgebend ist allein der Umfang des individuellen Pflegebedarfs des einzelnen Pflegebedürftigen und der darauf basierende finanzielle Mehraufwand des Pflegebedürftigen für die Sicherung seiner Versorgung.
Ein Beurteilungsspielraum bzw eine Einschätzungsprärogative steht nur den Spitzenverbänden der Pflegekassen in ihrer Gesamtheit bei der Ausgestaltung der Regelungen der HRi zu, zu der sie nach § 17 Abs 1 Satz 3 SGB XI verpflichtet sind. Von diesem Beurteilungsspielraum, den auch das zuständige Bundesministerium im Rahmen seines Beanstandungsrechts nach § 17 Abs 2 Satz 2 und 3 SGB XI zu respektieren hat (vgl Spinnarke in Klie/Krahmer, LPK-SGB XI, 1998, § 17 RdNr 17), haben die Spitzenverbände der Pflegekassen bei der Fassung der HRi im Jahre 1995 (mit Änderungen im Jahre 1996 im Zuge der Einführung der stationären Pflegesachleistungen zum 1. Juli 1996) in für die Einführungs- und Erprobungsphase nicht zu beanstandender Weise Gebrauch gemacht.
Die HRi halten – jedenfalls bisher – einer inhaltlichen Überprüfung stand. Sie sind bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt als rechtmäßig und ermächtigungskonform anzusehen und daher für die Pflegekassen sowie im Hinblick auf die Einschätzungsprärogative der Exekutive auch für die Gerichte verbindlich, weil den Spitzenverbänden der Pflegekassen angesichts der Neuartigkeit der Materie ein bestimmter Zeitraum eingeräumt werden muß, um die praktischen Folgen der ihnen vom Gesetzgeber übertragenen Aufgabe zur Entwicklung geeigneter Maßstäbe für eine gleichmäßige Anwendung des unbestimmten Rechtsbegriffs des außergewöhnlich hohen Pflegeaufwands zu beobachten. Eine wesentliche Vorgabe des Gesetzes besteht darin, daß die Zahl der ambulanten Härtefälle 3 vH der in die Pflegestufe III eingeordneten Versicherten, die ganz (§ 36 SGB XI) oder teilweise (§ 38 SGB XI) Pflegesachleistungen beziehen, nicht überschreiten darf. Im stationären Bereich darf die Zahl der Härtefälle 5 vH der in die Pflegestufe III eingeordneten Versicherten, die in zugelassenen Pflegeheimen leben, nicht übersteigen. Andererseits stand und steht es den Pflegekassen nach dem erkennbaren Willen des Gesetzgebers (vgl Plenarprotokoll vom 10. Dezember 1993, Nr 12/200 S 17319 D, 17320 A) nicht frei, dieses für Härtefälle vorgesehene Leistungsvolumen auf Dauer nicht oder nur zum Teil auszuschöpfen. Insoweit ist der Beurteilungsspielraum der Spitzenverbände der Pflegekassen eingeschränkt. Die Härtefallregelungen der §§ 36 Abs 4 und 43 Abs 3 SGB XI stellen einen Kompromiß dar zwischen der Notwendigkeit, für besonders gelagerte Einzelfälle mit außerordentlich hohem Pflegeaufwand im Bereich der Grundpflege eine der Einzelfallgerechtigkeit dienende Ausnahmeregelung zu schaffen, ohne gleich eine reguläre Pflegestufe IV einzuführen, und der Notwendigkeit, die Beitragssatzstabilität zu wahren (§ 70 SGB XI). Die Quoten von 3 bzw 5 vH sind Ausdruck einer Budgetierung. Die Pflegekassen sind nicht nur berechtigt, sondern verpflichtet, diesen Quoten möglichst nahe zu kommen. Die Spitzenverbände sind demnach gehalten, die HRi so zu fassen, daß die Begrenzungen auf 3 bzw 5 vH zwar ausgeschöpft, dabei aber nicht überschritten werden. Da jegliche Erfahrungen fehlten, bei welchem Pflegebedarf diese Grenzen etwa erreicht werden könnten, kann das Vorgehen der Spitzenverbände, zunächst sehr strenge, eine Überschreitung der Höchstgrenzen ausschließende Kriterien einzuführen, nicht beanstandet werden. Die bisherigen Erfahrungen haben aber gezeigt, daß die bestehenden HRi deutlich zu eng gefaßt sind und deshalb überarbeitet werden müssen. Bundesweit sind pro Jahr durchschnittlich nur 0,85 vH aller einschlägigen Fälle der Pflegestufe III im ambulanten Bereich (seit 1995) und nur 1,8 vH der Fälle im stationären Bereich (seit 1996) als Härtefälle anerkannt; die Beklagte erreicht immerhin Quoten von durchschnittlich 1,5 vH bzw 2,9 vH. Die gesetzlichen Vorgaben (§§ 36 Abs 4, 43 Abs 3 SGB XI) sind in den HRi bislang also nur unzureichend umgesetzt worden.
Das kann aber nicht zur Folge haben, bereits zum jetzigen Zeitpunkt, also vor einer Neufassung der HRi, dem Kläger die für den Härtefall vorgesehene Leistungserhöhung zuzusprechen, wie es das LSG getan hat. Denn es läßt sich nicht übersehen, ob bei Einbeziehung aller Personen mit demselben Pflegebedarf wie dem des Klägers (täglicher Grundpflegebedarf sechs Stunden, davon mindestens eine Stunde nachts) noch die Begrenzung auf 3 vH der Schwerstpflegebedürftigen mit Leistungsbezug nach den §§ 36 oder 38 SGB XI eingehalten werden kann. Dies werden vielmehr die Spitzenverbände der Pflegekassen bei der anstehenden Überarbeitung der Richtlinien unter Auswertung der bisherigen Erfahrungen und evtl neuer statistischer Erhebungen zu erwägen haben. Bis zur Neufassung bleiben die HRi in ihrer jetzigen Form weiter zu beachten. Daher scheidet ein Erfolg der Klage zum jetzigen Zeitpunkt auch nur mit Wirkung für die Zukunft aus.
Soweit sich im Einzelfall in der Zukunft – nach Neufassung der HRi – einmal die Situation ergeben sollte, daß eine Pflegekasse zur Wahrung des verfassungsrechtlichen Gleichbehandlungsgebots die – seit dem 1. SGB XI-Änderungsgesetz vom 14. Juni 1996 (BGBl I S 830) nicht mehr auf den Durchschnitt aller Pflegekassen, sondern nunmehr auf die einzelne Pflegekasse bezogene – Quote überschreiten müßte, kann dies hingenommen werden. Eine vorübergehende Überschreitung der Quote durch einzelne Pflegekassen ist durch die §§ 36 und 43 SGB XI nicht generell ausgeschlossen; Sanktionen gegen die betroffenen Pflegekassen sind im Gesetz nicht vorgesehen. Wenn es sich aber um mehr als nur um Einzelfälle und um nachhaltige Überschreitungen der Quoten handeln sollte, wäre dies allerdings Anlaß, die HRi auf Dauer gesehen wieder zu verschärfen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen
BSGE 89, 44 |
BSGE, 44 |
NJW 2002, 1366 |
FA 2002, 223 |
FEVS 2002, 391 |
NZS 2002, 429 |
SozR 3-3300 § 36, Nr. 3 |
SozSi 2002, 306 |