Entscheidungsstichwort (Thema)
Baugenehmigung. Nachbarwiderspruch. Rücknahme. Vertrauen. Vertrauensschutz. Abhilfe. Bekanntgabe
Leitsatz (amtlich)
Die Voraussetzungen des § 50 VwVfG können auch vorliegen, wenn im Falle eines Nachbarwiderspruchs die angegriffene Baugenehmigung dem Nachbarn nicht förmlich bekanntgegeben wurde.
Normenkette
VwVfG § 48 Abs. 2-4, § 50; VwGO §§ 70, 72
Verfahrensgang
Bayerischer VGH (Urteil vom 26.10.1993; Aktenzeichen 20 B 92.3833) |
VG München (Entscheidung vom 02.11.1992; Aktenzeichen 8 K 91.389) |
Tenor
Die Beschwerde der Klägerin gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom 26. Oktober 1993 wird zurückgewiesen.
Die Klägerin trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens mit Ausnahme der außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen, die diese selbst tragen.
Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwerdeverfahren auf 680 000 DM festgesetzt.
Gründe
Die Klägerin wehrt sich dagegen, daß die ihr erteilte Baugenehmigung auf den Widerspruch der Beigeladenen im Widerspruchsverfahren zurückgenommen worden ist. Die Beigeladenen hatten die ihnen nicht bekanntgegebene Genehmigung 18 Monate nach deren Erlaß, jedoch wenige Tage nach Baubeginn durch Einlegung des Widerspruchs angefochten. Das Berufungsgericht hat für die Rücknahme der Baugenehmigung die erleichternden Voraussetzungen des Art. 50 BayVwVfG (= § 50 VwVfG) angewendet. Die Anwendbarkeit dieser Vorschrift sei nicht dadurch ausgeschlossen, daß die Beigeladenen die Baugenehmigung nicht früher angefochten haben. Dagegen wendet sich die Klägerin mit der auf Zulassung der Revision gerichteten Beschwerde.
Die Beschwerde ist nicht begründet. Das Beschwerdevorbringen ergibt nicht, daß die allein geltend gemachten Voraussetzungen des § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO erfüllt sind.
In der Beschwerdeschrift wird als grundsätzlich bedeutsam und klärungsbedürftig sinngemäß die Frage dargelegt, ob Art. 50 BayVwVfG dann nicht anzuwenden sei, wenn die Behörde es versäumt habe, den begünstigenden Verwaltungsakt einem klagebefugten Dritten bekanntzugeben und dieser den Verwaltungsakt anfechte, nachdem der Begünstigte wegen Ablaufs der “üblichen” gesetzlichen Rechtsmittelfrist nicht mehr mit einem Widerspruch rechnen müsse.
Das Berufungsgericht hat geprüft, ob der Bescheid des Landratsamtes vom 7. April 1988 objektiv rechtswidrig und daher nach Art. 48 Abs. 1 BayVwVfG rücknahmefähig war. Dies hat es bejaht. Den besonderen Vertrauensschutz, den Art. 48 Abs. 1 Satz 2, Abs. 2 bis 4 BayVwVfG vermitteln, hat es wegen Art. 50 BayVwVfG für nicht gegeben angesehen. Das hiergegen gerichtete Vorbringen rechtfertigt keine Zulassung der Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung.
Nicht jede Frage sachgerechter Auslegung und Anwendung einer Vorschrift enthält gleichzeitig auch eine gemäß § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO erst im Revisionsverfahren zu klärende Fragestellung. Nach der Zielsetzung des Revisionszulassungsrechts ist Voraussetzung vielmehr, daß der im Rechtsstreit vorhandene Problemgehalt aus Gründen der Einheit des Rechts einschließlich gebotener Rechtsfortentwicklung eine Klärung gerade durch eine höchstrichterliche Entscheidung verlangt. Das ist nach der ständigen Rechtsprechung aller Senate des Bundesverwaltungsgerichts dann nicht der Fall, wenn sich die aufgeworfene Rechtsfrage auf der Grundlage des Gesetzeswortlauts mit Hilfe der üblichen Regeln sachgerechter Interpretation ohne weiteres beantworten läßt. So liegt es hier.
Die Anwendbarkeit des Art. 50 BayVwVfG ist in den Fällen, in denen ein begünstigender Verwaltungsakt einem durch ihn belasteten Dritten nicht bekanntgegeben worden ist und deshalb von dem Dritten ohne Säumnis erst nach tatsächlicher Kenntniserlangung angefochten wird, nicht ausgeschlossen. Für eine Auslegung des Art. 50 BayVwVfG, wie sie demgegenüber die Beschwerde vertritt, gibt der Wortlaut der Vorschrift nichts her. Auch sonst spricht nichts für eine derart einengende Auslegung der Vorschrift, und zwar auch nicht für den Fall des Nachbarwiderspruchs gegen eine Baugenehmigung.
Daß Art. 50 BayVwVfG bereits seinem Wortlaut nach auch den Nachbarn als einen “Dritte” erfaßt, ist nicht zweifelhaft. Auch der Nachbar kann, soweit drittschützende Rechtsvorschriften bestehen und diese zu seinem Nachteil verletzt wurden, eine erteilte Baugenehmigung mit dem Ergebnis der Aufhebung erfolgreich anfechten. Das gilt für das Vorverfahren oder das Klageverfahren gleichermaßen.
Dabei ist es unerheblich, ob die angegriffene Baugenehmigung dem Nachbarn förmlich bekanntgegeben wurde (vgl. Art. 41 Abs. 1 Satz 1 BayVwVfG) oder ob dies unterblieb und der Nachbar in anderer Weise von dem Bestehen einer Baugenehmigung erfahren hat. Die unterlassene Bekanntgabe macht den Bauherrn, der im Besitze einer ihm günstigen Baugenehmigung ist, nicht schutzlos. Wird die Baugenehmigung dem in seinen Rechten betroffenen Nachbarn nicht förmlich bekanntgegeben, so wird zwar die Widerspruchsfrist des § 70 VwGO nicht ausgelöst. Der Nachbar kann aber bei anderweitiger Kenntnis von der erteilten Baugenehmigung sein Anfechtungsrecht nach Maßgabe von Treu und Glauben verwirken (vgl. BVerwG, Urteil vom 16. Mai 1991 – BVerwG 4 C 4.89 – Buchholz 406.19 Nachbarschutz Nr. 102 = NVwZ 1991, 1182; BVerwG, Beschluß vom 17. Februar 1989 – BVerwG 4 B 28.89 – Buchholz 406.19 Nachbarschutz Nr. 87; ebenso bereits BVerwG, Beschluß vom 18. Januar 1988 – BVerwG 4 B 257.87 – Buchholz 406.19 Nachbarschutz Nr. 76 = NVwZ 1988, 532; Urteil vom 25. Januar 1974 – BVerwG 4 C 2.72 – BVerwGE 44, 294 ≪300≫). In diesem Sinne “läuft” zugunsten des Nachbarn eine Rechtsbehelfsfrist. Wird mithin der Bauherr im Falle fehlender förmlicher Bekanntgabe der Baugenehmigung – wie unumstritten ist – mit dem Risiko späterer gerichtlicher Aufhebung ohnedies belastet, so hat dasselbe für das dem verwaltungsgerichtlichen Verfahren vorgeschaltete Vorverfahren zu gelten.
Der Beschwerde ist darin zu folgen, daß ein Bauherr im Falle der ihm bekannten förmlichen Bekanntgabe der Baugnehmigung das Risiko späterer Anfechtung besser beurteilen kann. Er kann sich mit Eintritt der Bestandskraft verhältnismäßig sicher fühlen. Bei gegebener Rechtswidrigkeit kann er auf die besonderen gesetzlichen Wertungen des Vertrauensschutzes verweisen. Das ist ihm bei Anwendung des Art. 50 BayVwVfG versagt. Damit wird aber sein Vertrauen in den Bestand der erteilten Genehmigung nicht entwertet, wie die Beschwerde vorbringt. Die Fragestellung hat sich – das Berufungsgericht hat dies richtig gesehen – vielmehr verlagert. Zum einen ergibt sich auf der Grundlage der angeführten Rechtsprechung, daß sich der Nachbar ggf. nach den Grundsätzen von Treu und Glauben entgegenhalten lassen muß, sein Rechtsbehelf komme zu spät. Das gibt dem Bauherrn bereits einen gewissen Schutz. Zum anderen ist im Rahmen der nach Art. 48 Abs. 1 Satz 1 BayVwVfG unverändert gebotenen Ermessensentscheidung auch zu berücksichtigen, in welcher Weise der Bauherr auf den Bestand vertraut und hierbei bereits Belastungen auf sich genommen hat. Der Gesetzgeber ist in Art. 50 BayVwVfG nur von der “regelhaften” Beurteilung des Vertrauens nach Art. 48 Abs. 2 bis 4 BayVwVfG abgerückt; er hat aber die Behörde nicht davon befreit, die Umstände des Einzelfalles im Rahmen der Ermessensentscheidung zu berücksichtigen. Damit ist gerade ein auf den Einzelfall stärker bezogener Interessenausgleich möglich, wenn sich ein Dritter in der für ihn noch offenen Anfechtungslage gegen einen objektiv rechtswidrigen Verwaltungsakt wendet.
Das Berufungsgericht ist den vorstehenden Erwägungen gerecht geworden. Es hat die Frage der Bestandskraft des Ausgangsbescheides und die Ermessensentscheidung des Rücknahmebescheides geprüft.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2, § 162 Abs. 3 VwGO. Die Festsetzung des Streitwertes folgt aus § 14 Abs. 1, § 13 Abs. 1 Satz 1 GKG.
Unterschriften
Gaentzsch, Berkemann, Halama
Fundstellen