Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorlage zur Vorabentscheidung. Sozialpolitik. Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf. Verbot von Diskriminierungen wegen der Religion oder der Weltanschauung. Staatlicher Sektor. Arbeitsordnung einer öffentlichen Verwaltung, die das sichtbare Tragen weltanschaulicher oder religiöser Zeichen am Arbeitsplatz verbietet. Islamisches Kopftuch. Erfordernis der Neutralität im Umgang mit dem Publikum, den Vorgesetzten und den Kollegen
Normenkette
Richtlinie 2000/78/EG
Beteiligte
Tenor
Art. 2 Abs. 2 Buchst. b der Richtlinie 2000/78/EG des Rates vom 27. November 2000 zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf
ist dahin auszulegen, dass
eine interne Regel einer Gemeindeverwaltung, die es deren Personal allgemein und undifferenziert verbietet, am Arbeitsplatz sichtbare Zeichen zu tragen, die u. a. weltanschauliche oder religiöse Überzeugungen erkennen lassen, damit gerechtfertigt werden kann, dass die Gemeindeverwaltung unter Berücksichtigung ihres spezifischen Kontexts ein vollständig neutrales Verwaltungsumfeld schaffen möchte, sofern diese Regel im Hinblick auf diesen Kontext und unter Berücksichtigung der verschiedenen betroffenen Rechte und Belange geeignet, erforderlich und verhältnismäßig ist.
Tatbestand
In der Rechtssache C-148/22
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Tribunal du travail de Liège (Arbeitsgericht Lüttich, Belgien) mit Entscheidung vom 24. Februar 2022, beim Gerichtshof eingegangen am 2. März 2022, in dem Verfahren
OP
gegen
Commune d’Ans
erlässt
DER GERICHTSHOF (Große Kammer)
unter Mitwirkung des Präsidenten K. Lenaerts, des Vizepräsidenten L. Bay Larsen, der Kammerpräsidentinnen A. Prechal und K. Jürimäe, der Kammerpräsidenten C. Lycourgos, F. Biltgen (Berichterstatter) und N. Piçarra, der Richter M. Safjan, S. Rodin und P. G. Xuereb, der Richterin I. Ziemele, der Richter J. Passer und D. Gratsias, der Richterin M. L. Arastey Sahún und des Richters M. Gavalec,
Generalanwalt: A. M. Collins,
Kanzler: M. Krausenböck, Verwaltungsrätin,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 31. Januar 2023,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- – von OP, vertreten durch S. Gioe, Avocate,
- – der Gemeinde d’Ans, vertreten durch J. Uyttendaele und M. Uyttendaele, Avocats,
- – der belgischen Regierung, vertreten durch C. Pochet, L. Van den Broeck und M. Van Regemorter als Bevollmächtigte,
- – der französischen Regierung, vertreten durch D. Colas, V. Depenne, A.-L. Desjonquères und N. Vincent als Bevollmächtigte,
- – der schwedischen Regierung, durch O. Simonsson und C. Meyer-Seitz als Bevollmächtigte,
- – der Europäischen Kommission, vertreten durch B.-R. Killmann, D. Martin und E. Schmidt als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 4. Mai 2023
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 2 Abs. 2 Buchst. a und b der Richtlinie 2000/78/EG des Rates vom 27. November 2000 zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf (ABl. 2000, L 303, S. 16).
Rz. 2
Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen OP, einer Vertragsbediensteten der Gemeinde Ans (im Folgenden: Gemeinde), und der Gemeinde über das von dieser ihren Arbeitnehmern gegenüber ausgesprochene Verbot, sichtbare Zeichen zu tragen, die die ideologische oder weltanschauliche Zugehörigkeit oder die politischen oder religiösen Überzeugungen der Arbeitnehmer erkennen lassen.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Rz. 3
Art. 1 der Richtlinie 2000/78 bestimmt:
„Zweck dieser Richtlinie ist die Schaffung eines allgemeinen Rahmens zur Bekämpfung der Diskriminierung wegen der Religion oder der Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Ausrichtung in Beschäftigung und Beruf im Hinblick auf die Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung in den Mitgliedstaaten.“
Rz. 4
Art. 2 („Der Begriff ‚Diskriminierung‘“) dieser Richtlinie sieht vor:
„(1) Im Sinne dieser Richtlinie bedeutet ‚Gleichbehandlungsgrundsatz‘, dass es keine unmittelbare oder mittelbare Diskriminierung wegen eines der in Artikel 1 genannten Gründe geben darf.
(2) Im Sinne des Absatzes 1
a) liegt eine unmittelbare Diskriminierung vor, wenn eine Person wegen eines der in Artikel 1 genannten Gründe in einer vergleichbaren Situation eine weniger günstige Behandlung erfährt, als eine andere Person erfährt, erfahren hat oder erfahren würde;
b) liegt eine mittelbare Diskriminierung vor, wenn dem Anschein nach neutrale Vorschriften, Kriterien oder Verfahren Personen mit einer bestimmten Religion oder Weltanschauung, einer bestimmten Behinderung, eines bestimmten Alters oder mit einer bestimmten sexuellen Ausrichtung gegenüber anderen Per...