Entscheidungsstichwort (Thema)
Referenzzeitraum von zwei Jahren bei negativer Gesundheitsprognose im Rahmen einer personenbedingten Kündigung. Zulässigkeit der einvernehmlichen Aufhebung des bEM-Verfahrens. Notwendige Kenntnisse des Arbeitnehmers für Entscheidung im bEM-Verfahren
Leitsatz (amtlich)
1. Ein Referenzzeitraum von zwei Jahren vor Ausspruch einer personenbedingten Kündigung wegen häufiger (Kurz-)Erkrankungen kann eine hinreichende Basis der negativen Prognose zukünftiger Arbeitsunfähigkeiten sein.
2. Zur Feststellung zu erwartender Entgeltfortzahlungskosten von mehr als sechs Wochen jährlich: Bei Anwendung eines 6/2-Schichtsystems müssen die zu erwartenden Entgeltfortzahlungskosten insgesamt 31,5 Arbeitstage jährlich übersteigen.
3. Das betriebliche Eingliederungsmanagement (bEM) ist jedenfalls dann abgeschlossen, wenn sich Arbeitgeber und Arbeitnehmer einig sind, dass der Suchprozess durchgeführt ist oder nicht weiter durchgeführt werden soll (BAG 18.11.2021 - 2 AZR 138/21 - Rn. 29). Wie der Arbeitnehmer von vornherein die Zustimmung zur Durchführung eines bEM nicht erteilen kann, sodass es überhaupt nicht begonnen wird, so kann das bEM einvernehmlich beendet werden, und zwar unabhängig davon, wie weit es vorangebracht wurde. Es kommt dann darauf an, ob der Arbeitnehmer die notwendigen Kenntnisse über das bEM-Verfahren besaß, um beurteilen zu können, ob es beendet oder fortgesetzt werden sollte.
Normenkette
BetrVG § 102 Abs. 1; KSchG § 1 Abs. 2, § 17 Abs. 1, 3; SGB IX § 167 Abs. 2; ZPO § 138 Abs. 2; BGB § 134; ZPO § 97 Abs. 1
Verfahrensgang
ArbG Düsseldorf (Entscheidung vom 05.08.2021; Aktenzeichen 12 Ca 1365/21) |
Tenor
- Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Arbeitsgerichts Düsseldorf vom 05.08.2021 - 12 Ca 1365/21 - abgeändert und die Klage abgewiesen.
- Die Kosten des Rechtsstreits werden dem Kläger auferlegt.
- Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Die Parteien streiten über die Wirksamkeit einer ordentlichen, personenbedingten Kündigung des Arbeitsverhältnisses und hilfsweise über die Weiterbeschäftigung des Klägers als Luftsicherheitsassistent.
Die Beklagte ist ein Unternehmen der Sicherheitsbranche, das mit rund 1.100 Beschäftigten Fluggastkontrollen am Flughafen E. durchführt. Zwischen ihr bzw. ihrer Rechtsvorgängerin und dem am 12.03.1994 geborenen, verheirateten Kläger bestand auf der Grundlage eines Arbeitsvertrages vom 10.08.2018 (Anlage B1, Bl. 72 ff. dA.) seit dem 11.08.2018 ein zunächst auf ein Jahr befristetes Arbeitsverhältnis. Nach Ankündigung mit arbeitgeberseitigem Schreiben vom 19.07.2019 wurde es unbefristet fortgeführt. Das Arbeitsverhältnis ging durch Betriebsübergang nach § 613a Abs. 1 Satz 1 BGB am 01.06.2020 auf die Beklagte über. Der Kläger wurde beschäftigt als Luftsicherheitsassistent in einem 6/2-Schichtsystem gegen ein durchschnittliches Monatsentgelt iHv. 2.661,40 € brutto.
Im Jahr 2019 war der Kläger in neun Zeiträumen - erstmals ab dem 12.07.2019 - an insgesamt 36 Arbeitstagen arbeitsunfähig erkrankt, für die die Beklagte 3.053,64 € brutto an Entgeltfortzahlung entrichtete.
Im Jahr 2020 war der Kläger in 13 Zeiträumen an insgesamt 82 Arbeitstagen arbeitsunfähig erkrankt, an denen die Beklagte Entgelt iHv. 6.955,50 € brutto fortzahlte. Wegen der Daten der einzelnen Krankheitsphasen in den Jahren 2019 und 2020 wird auf die von der Beklagten vorgetragene Übersicht (S. 3 und 5 f. des Schriftsatzes vom 11.06.2021, Bl. 63 und 65 f. dA.) Bezug genommen.
Wegen der verschiedenen Ursachen der einzelnen Ausfallzeiten wird auf die tabellarische Zuordnung des Klägers (S. 2 ff. des Schriftsatzes vom 11.03.2022, Bl. 222 ff. dA.) Bezug genommen. Insbesondere litt der Kläger an Bronchitis, akuter Infektion der oberen Atemwege, Kreuz-, Lendenschmerz und Lumbago, Radikulopathie im Lumbosakral- sowie im Thorakolumbalbereich, Skoliose im Thorakalbereich, Gelenkschmerz im Unterschenkel, Gonarthrose, virusbedingter Darminfektion, Enteritis, Gastroenteritis und Kolitis und nicht näher bezeichneten Virusinfektionen sowie an Schwindel und Kopfschmerzen und an Problemen mit Bezug auf Schwierigkeiten bei der Lebensbewältigung. Die Arbeitsunfähigkeit am 02.10.2019 wurde durch eine Erkrankung der Zähne bzw. des Zahnhalteapparates verursacht, die vom 20.-29.12.2019 durch Übelkeit und Erbrechen. Für die Arbeitsunfähigkeiten vom 12.-14.07.2019 und vom 11.-13.10.2019 sind die Ursachen nicht dargetan.
Mit Schreiben vom 23.07.2020, auf das und seine Anlagen wegen der Einzelheiten Bezug genommen wird (Teil des Anlagenkonvoluts B2, Bl. 87 ff. dA.), lud die Beklagte den Kläger zu einem "Klärungsgespräch im Rahmen des betrieblichen Eingliederungsmanagements" (im Folgenden bEM) ein. In der Einladung heißt es insbesondere:
"Ziel des Verfahrens ist es, gemeinsam mit Ihnen nach Wegen zu suchen, Ihre Arbeitsunfähigkeit schneller zu überwinden, eine erneute Arbeitsunfähigkeit zu verhindern, möglichen Behinderungen und chronischen Erkrankungen vorzubeugen und den Arbeitsplatz dauerhaft zu sichern. Im Rahmen d...