Entscheidungsstichwort (Thema)
Vollständige Unterrichtung des Arbeitnehmers beim Betriebsübergang gem. § 613a Abs. 5 BGB. Beginn der Widerspruchsfrist des § 613a Abs. 6 BGB. Verwirkung als Sonderfall des Grundsatzes von Treu und Glauben
Leitsatz (amtlich)
Die Monatsfrist des § 613a Abs. 6 Satz 1 BGB zum Widerspruch gegen den Übergang eines Arbeitsverhältnisses infolge Betriebsübergangs beginnt nicht nur bei fehlerhafter Information des Arbeitnehmers nicht zu laufen, sondern auch nicht bei unvollständiger. Geht es um die rechtlich schwierig zu beurteilende (Weiter-) Geltung eines Tarifvertrags beim Erwerber und ist dieser Umstand für die Ausübung des Widerspruchsrechts ersichtlich von Bedeutung, müssen der Betriebsveräußerer und/oder der Betriebserwerber sich hierzu ausdrücklich und in einer für Nichtjuristen verständlichen Weise erklären.
Leitsatz (redaktionell)
Die Verwirkung ist ein Sonderfall der unzulässigen Rechtsausübung. Mit ihr wird die illoyal verspätete Geltendmachung von Rechten ausgeschlossen. Sie beruht auf dem Gedanken des Vertrauensschutzes und trägt dem Bedürfnis nach Rechtssicherheit und Rechtsklarheit Rechnung.
Normenkette
BGB §§ 613a, 242; BetrVG § 77 Abs. 3, § 112 Abs. 1
Verfahrensgang
ArbG Essen (Entscheidung vom 28.11.2019; Aktenzeichen 1 Ca 1874/19) |
Nachgehend
Tenor
Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Arbeitsgerichts Essen vom 28.11.2019 - Az.: 1 Ca 1874/19 - abgeändert.
Es wird festgestellt, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien über den 01.02.2017 hinaus fortbesteht.
- Die Kosten des Rechtsstreits trägt die Beklagte.
- Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Der Kläger begehrt die Feststellung des Bestehens eines Arbeitsverhältnisses nach einem Widerspruch gegen einen Betriebsübergang aus dem Jahr 2017.
Der Kläger wurde seit dem 01.07.2004 von der S. Systems Computing GmbH als Referent in der Organisationseinheit "Technology Competence" beschäftigt. Wegen der Arbeitsbedingungen im einzelnen wird auf die schriftlichen Anstellungsverträge vom 21.10.2003 (Blatt 15 ff. der Akte) und vom 01.06.2007 (Blatt 22 ff. der Akte) Bezug genommen. Beide Verträge enthielten den Passus, dass der Kläger die ihm übertragenen Aufgaben als außertariflicher Mitarbeiter ausübe. Der Kläger ist nicht gewerkschaftlich organisiert. Das Arbeitsverhältnis des Klägers ging in der Folge auf die S. IT GmbH über.
Unter dem 16.12.2014 schlossen der Arbeitgeberverband von Gas-, Wasser- und Elektrizitätsunternehmungen e.V. (AGWE), Hannover, und die Gewerkschaft ver.di - Vereinte Dienstleistungsgewerkschaft, Berlin, einen Tarifvertrag zur sozialverträglichen Begleitung von Personalanpassungsmaßnahmen im S.-Konzern (Tarifvertrag "Switch", im Folgenden TV Switch), wegen dessen einzelner Bestimmungen auf Blatt 351 ff. der Akte verwiesen wird. Im TV Switch ist unter anderem geregelt:
"Präambel
Die Energiewende und die damit verbundene Neuordnung des Energiemarktes in Deutschland erfordern auch in den S.-Gesellschaften der Tarifgruppe S. des AGWE deutliche strukturelle Veränderungen und Personalanpassungsmaßnahmen.
Ziel der Tarifvertragsparteien ist es, die Personalanpassungsmaßnahmen sozialverträglich zu gestalten. Dazu wird der S.-Konzern einen neuen, innovativen Stellenmarkt mit einer S.-eigenen Vermittlungsgesellschaft ("Switch") einrichten. Diese Maßnahmen haben das Ziel, Transparenz über den konzernweiten Beschäftigungsbedarf herzustellen und den von Personalanpassungsmaßnahmen betroffenen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern (nachfolgend gemeinsam "Arbeitnehmer" genannt), die sich im Personalüberhang befinden, zum Erhalt der Beschäftigung alternative Arbeitsplätze vorrangig innerhalb, aber auch außerhalb des S.-Konzerns zu vermitteln.
Der Erhalt von Beschäftigung im Sinne dieses Tarifvertrages setzt die Bereitschaft der betroffenen Arbeitnehmer zu Veränderungen, insbesondere zur Annahme zumutbarer alternativer Arbeitsplatzangebote und ggf. erforderlicher Qualifikationsmaßnahmen voraus. Die Arbeitgeberseite wird hierzu die erforderlichen Qualifizierungs- und Vermittlungsaktivitäten durchführen.
Die Tarifvertragsparteien erwarten eine rechtzeitige und umfassende Einbindung der jeweils zuständigen Mitbestimmungsgremien in den S.-Gesellschaften. Des Weiteren gehen sie davon aus, dass eine reibungslose Wahrnehmung der gesetzlichen Beteiligungs- und Mitbestimmungsrechte der Betriebsratsgremien sichergestellt wird.
Vor diesem Hintergrund schließen die Tarifvertragsparteien für die S.-Gesellschaften der Tarifgruppe S. an Stelle des Tarifvertrages zur Beschäftigungssicherung vom 01.06.2009 und des Änderungstarifvertrages vom 22.02.2013 mit Wirkung zum 01.01.2015 folgenden Tarifvertrag.
§ 1
Geltungsbereich
1. Dieser Tarifvertrag gilt für alle Personalanpassungsmaßnahmen, die in den S.-Gesellschaften der Tarifgruppe S. arbeitgeberseitig durchgeführt werden.
2. Dieser Tarifvertrag gilt für alle tarifgebundenen Arbeitnehmer der S.-Gesellschaften, die Mitglied der Tarifgruppe S. d...