Rz. 10
§ 53 SGB XII befasst sich mit dem Anspruch auf Eingliederungshilfe. Zwar verweist der bis 31.12.2019 geltende § 53 Abs. 1 SGB XII (vgl. Art. 12 und 13 BTHG) auf den Behinderungsbegriff des § 2 Abs. 1 Satz 1 SGB IX, anspruchsberechtigt sind jedoch nur Personen, die wegen einer Behinderung wesentlich in ihrer Fähigkeit, an der Gesellschaft teilzuhaben, eingeschränkt oder von einer solchen wesentlichen Behinderung bedroht sind. Die Rede ist somit nicht von einer wesentlichen Behinderung, sondern von einer Behinderung, die – in Zusammenhang mit den Kontextfaktoren (vgl. Rz. 8f und 8g) – wesentliche (also nicht nur geringfügige) Barrieren bei den Aktivitäten bzw. der Partizipation (Beeinträchtigung auf die Teilhabemöglichkeit) auslöst (BSG, Urteil v. 22.3.2012, B 8 SO 30/10 R; vgl. auch LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss v. 27.8.2015, L 8 SO 177/15 B ER).
Nach dem Beschluss des Hessischen LSG v. 7.5.2007 (L 9 SO 54/06 ER) ist auch bei einer geringeren Beeinträchtigung der geistigen Fähigkeiten (hier: IQ von 70) dann eine wesentliche Behinderung gegeben, wenn durch die Behinderung im Einzelfall die Teilhabe wesentlich eingeschränkt ist. Dabei werden alle Lebensbereiche tangiert – also Kommunikation, Mobilität, Selbstversorgung, häusliches Leben Schule/Arbeit usw.
Rz. 10a
Im Zusammenhang mit der Beurteilung einer wesentlich Behinderung/Teilhabestörung stellt sich die Frage, wann man in der Teilhabe wesentlich eingeschränkt ist. Die auf der Grundlage des § 60 SGB XII erlassene Eingliederungshilfeverordnung (EHVO, gilt gemäß Art. 12 und 13 BTHG bis 31.12.2019) nennt hier in deren §§ 1 bis 3 folgende Personenkreise beispielhaft:
a) Körperlich wesentlich behinderte Menschen
Durch körperliche Gebrechen wesentlich in ihrer Teilhabefähigkeit eingeschränkt i. S. d. § 53 Abs. 1 Satz 1 SGB XII sind
- Personen, deren Bewegungsfähigkeit durch eine Beeinträchtigung des Stütz- oder Bewegungssystems in erheblichem Umfange eingeschränkt ist,
- Personen mit erheblichen Spaltbildungen des Gesichts oder des Rumpfes oder mit abstoßend wirkenden Entstellungen vor allem des Gesichts,
- Personen, deren körperliches Leistungsvermögen infolge Erkrankung, Schädigung oder Fehlfunktion eines inneren Organs oder der Haut in erheblichem Umfange eingeschränkt ist,
Blinde oder solchen Sehbehinderte, bei denen mit Gläserkorrektion ohne besondere optische Hilfsmittel
- Personen, die gehörlos sind oder denen eine sprachliche Verständigung über das Gehör nur mit Hörhilfen möglich ist,
- Personen, die nicht sprechen können, Seelentauben und Hörstummen, Personen mit erheblichen Stimmstörungen sowie Personen, die stark stammeln, stark stottern oder deren Sprache stark unartikuliert ist.
b) Geistig wesentlich behinderte Menschen
Geistig wesentlich behindert i. S. d. § 53 Abs. 1 Satz 1 SGB XII sind Personen, die infolge einer Schwäche ihrer geistigen Kräfte in erheblichem Umfange in ihrer Fähigkeit zur Teilhabe am Leben in der Gesellschaft eingeschränkt sind.
c) Seelisch wesentlich behinderte Menschen
Seelische Störungen, die eine wesentliche Einschränkung der Teilhabefähigkeit i. S. d. § 53 Abs. 1 Satz 1 SGB XII zur Folge haben können, sind
- körperlich nicht begründbare Psychosen,
- seelische Störungen als Folge von Krankheiten oder Verletzungen des Gehirns, von Anfallsleiden oder von anderen Krankheiten oder körperlichen Beeinträchtigungen,
- Suchtkrankheiten,
- Neurosen und Persönlichkeitsstörungen.
Rz. 10b
Die in der Praxis gebräuchlichen Begriffe der Mehrfachbehinderung und der Schwer-/Schwerstbehinderung werden im SGB XII und der EHVO weder verwandt noch definiert. Damit stellen sie für sich keine Grundlage für die Feststellung einer wesentlichen Behinderung dar.
Aus der Tatsache, dass ein Mensch schwerbehindert i. S. d. § 2 Abs. 2 ist, ergibt sich somit nicht automatisch, dass er auch "wesentlich" behindert ist.