Rz. 23
In § 15 Abs. 4 Satz 1 findet sich eine Sonderregelung zu dem vorstehend erläuterten Modell zur Ermittlung des Pflegegrades. Von der Regelung erfasst werden pflegebedürftige Personen mit einem besonders hohen Hilfebedarf, für die nach erfolgter Begutachtung ein Punktwert von mindestens 90 – der eine Eingruppierung in Pflegegrad 5 zur Folge hat – nicht festgestellt werden konnte. Nach § 15 Abs. 4 Satz 1 handelt es sich um Personen, die einen "spezifischen, außergewöhnlich hohen Hilfebedarf" haben und deren pflegerische Versorgung besondere Anforderungen stellt. Bei Vorliegen dieser Voraussetzungen können sog. pflegefachliche Gründe anerkannt werden, die eine Eingruppierung in Pflegegrad 5 ermöglicht, obgleich die hierfür erforderliche Mindestpunktzahl (ab 90 Punkten) nicht erreicht ist.
Hintergrund für diese Regelung ist, dass es bei einigen Pflegebedürftigen möglich sein kann, "dass der Pflegegrad 5 nicht automatisch erreicht wird, obwohl er nach der Schwere der Beeinträchtigungen der Selbständigkeit oder der Fähigkeiten angemessen wäre. Dies liegt daran, dass die jeweiligen gesundheitlichen Probleme sich einer pflegefachlichen Systematisierung im neuen Begutachtungsinstrument entziehen; eine regelhafte Einbeziehung wäre nur auf Kosten größerer Verschiebungen in der Bewertung anderer, deutlich häufigerer Fallkonstellationen möglich" (BT-Drs. 18/5926 S. 114).
Durch diese, von der eigentlichen Punktwert-Systematik abweichende Art der Feststellung des Pflegegrades, ermöglicht es der Gesetzgeber also, dort korrigierend einzugreifen, wo tatsächlich ein erheblicher Pflegeaufwand gegeben ist und die nicht erfolgende Einstufung in den Pflegegrad 5 eine besondere Härte darstellte.
Rz. 24
§ 15 Abs. 4 stellt jedoch – darauf weist der Gesetzgeber ausdrücklich hin – keine Einzelfallregelung oder Ermächtigung zu einer Einzelfallentscheidung bei Vorliegen etwa von bestimmten Diagnosen oder Krankheitsbildern dar. Vielmehr handelt es sich um eine "regelhafte Ergänzung der Einstufung anhand von Schwellenwerten für sehr seltene Fallkonstellationen" (BT-Drs. 18/5926 S. 114).
Mit § 15 Abs. 4 Satz 2 ermächtigt – und verpflichtet – der Gesetzgeber den Medizinischen Dienst Bund (bis zum 31.12.2019 den Spitzenverband Bund der Pflegekassen) daher auch, die pflegefachlich begründeten Voraussetzungen für derartige Härtefallkonstellationen in den Richtlinien nach § 17 Abs. 1 zu konkretisieren und typische Bedarfskonstellationen zu erfassen. Damit ist der Gesetzgeber der Empfehlung des Expertenbeirats gefolgt, der sich dafür ausgesprochen hatte, besondere Bedarfslagen zur Erreichung des Pflegegrades 5 nicht anhand von Diagnosen oder Krankheitsbildern, sondern anhand der Beeinträchtigungen zu beschreiben (Bericht des Expertenbeirats S. 37).
Rz. 25
Dieser Aufgabe ist seinerzeit der Spitzenverband mit der Veröffentlichung der Richtlinien zum Verfahren der Feststellung der Pflegebedürftigkeit sowie zur pflegefachlichen Konkretisierung der Inhalte des Begutachtungsinstruments nach dem Elften Buch des Sozialgesetzbuches vom 15.4.2016 (geändert zunächst durch Beschluss vom 31.3.2017, zuletzt geändert durch Beschluss vom 22.3.2021, nachfolgend: Begutachtungs-Richtlinien) nachgekommen. Mit der zuletzt vorgenommenen Änderung hat der Richtliniengeber beabsichtigt, die Voraussetzungen, die Qualität und Einheitlichkeit in der Begutachtung der Pflegebedürftigkeit weiter zu verbessern sowie die Transparenz und Nachvollziehbarkeit für Versicherte und Angehörige zu erhöhen. Darüber hinaus war es Ziel der Überarbeitung, die in der Begutachtungspraxis gewonnenen Erfahrungen einzubeziehen und damit eine stärkere Präzisierung einzelner Begutachtungskriterien zu erreichen. Zu diesem Zweck erfolgten an den Schnittstellen der Aufgaben der Pflegekassen und des Medizinischen Dienstes Klarstellungen. Diese sollen zu mehr Effizienz im Begutachtungsverfahren führen. Darüber hinaus wurden Begrifflichkeiten konkretisiert und vereinheitlicht. Ebenso wurden Abgrenzungen zwischen den Ausprägungen der einzelnen Bewertungskriterien präzisiert. Mit Blick auf eine bessere Verständlichkeit für Versicherte und ihre An- und Zugehörigen hat der Richtliniengeber die Bereiche "Außerhäusliche Aktivitäten" und "Haushaltsführung" klarer als bisher dargestellt (Begutachtungs-Richtlinien 2021, S. 4). Die vorliegende Kommentierung berücksichtigt zunächst noch die Begutachtungs-Richtlinien auf dem Stand des Beschlusses vom 31.3.2017.
Rz. 26
Während der Expertenbeirat noch 2 Bedarfskonstellationen identifiziert hatte (Gebrauchsunfähigkeit beider Arme und Beine/ausgeprägte motorische Verhaltensauffälligkeiten mit Selbst- oder Fremdgefährdung), kommt nach den aktuell geltenden Begutachtungs-Richtlinien, die auf den – durch die Praktikabilitätsstudie des Medizinischen Dienstes des Spitzenverbandes Bund der Krankenkassen (MDS) bestätigten – Feststellungen des Expertenbeirates beruhen, als besondere Bedarfskonstellation letztlich allein die Gebrauchsunfähigkeit von Armen und Beinen in Betracht.