0 Rechtsentwicklung
Rz. 1
§ 2 trat durch das Pflege-Versicherungsgesetz (PflegeVG) v. 26.5.1994 (BGBl. I. S. 1014) zum 1.1.1995 in Kraft. Durch das Pflege-Weiterentwicklungsgesetz v. 28.5.2008 (BGBl. I S. 874) wurde in Abs. 2 ein Satz 3 angefügt, mit dem die Problematik der gleich-/verschiedengeschlechtlichen Pflege aufgegriffen wurde. Das Zweite Gesetz zur Stärkung der pflegerischen Versorgung und zur Änderung weiterer Vorschriften (Zweites Pflegestärkungsgesetz – PSG II) v. 21.12.2015 (BGBl. I S. 2424), in Kraft ab 1.1.2017, ergänzte in Abs. 1 Satz 2 die aktivierende Pflege.
1 Allgemeines
Rz. 1a
Die Vorschrift hebt die Individualität des Pflegebedürftigen hervor. Sie stellt klar, dass Pflege ungeachtet der zunehmenden Bedeutung von Pflegebedürftigkeit als allgemeinem gesellschaftlichen Problem im Einzelfall den Bedürfnissen des individuell Betroffenen Rechnung zu tragen hat.
2 Rechtspraxis
2.1 Selbständigkeit und Selbstbestimmung
Rz. 2
Nach Art. 1 Abs. 1 Satz 2 GG ist es Verpflichtung aller staatlichen Gewalt, die Würde des Menschen zu achten und zu schützen. Dieser Auftrag gilt gerade auch in dem sensiblen Feld der Pflege, bei welcher der betroffene Mensch Adressat von an seinem Körper durchgeführten Verrichtungen ist. Es soll Ziel der Leistungen der Pflegeversicherung nach Abs. 1 sein, den Pflegebedürftigen ungeachtet ihrer Hilfebedürftigkeit dabei zu helfen, ein möglichst selbständiges und selbstbestimmtes Leben in Menschenwürde zu führen. Zur Förderung der Selbständigkeit sind die Hilfen darauf auszurichten, die Kräfte des Pflegebedürftigen wiederzugewinnen oder zu erhalten. Diese Zielrichtung des Gesetzes ist etwa bei Auslegung der Einzelnormen des § 40 zu beachten, wenn es um Pflegehilfsmittel oder wohnumfeldverbessernde Maßnahmen geht (vgl. etwa LSG Saarland, Urteil v. 28.4.2009, L 2 P 4/08, RDG 2010 S. 68, sowie LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss v. 15.12.2008, L 27 B 127/08 PER). Die Versorgung eines inkontinenten Menschen mit Windeln verstößt indes nach der Rechtsprechung des BSG nicht gegen die Würde des Menschen, ist nicht körperlich unzumutbar und kein Verstoß gegen das Selbstbestimmungsrecht der Pflegebedürftigen. Es besteht daher keine Verpflichtung der Pflegekasse, bei der Ermittlung des Hilfebedarfs von einer zeitaufwendigeren Alternativversorgung auszugehen (BSG, Urteil v. 31.8.2000, B 3 P 16/99 R, SGb 2001 S. 177).
Mit Einführung des neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs kommt der aktivierende Pflege eine entscheidende Bedeutung zu. Die Ergänzung des § 2 Abs. 1 Satz 2 trägt dem Umstand Rechnung, dass § 28 Abs. 4 (i. d. F. bis 31.12.2016) aufgehoben wurde, gleichzeitig aber klargestellt werden soll, dass Pflege – auch und gerade unter Geltung des neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs – aktivierend zu erbringen ist. Aktivierende Maßnahmen sollen alle körperbezogenen Pflegemaßnahmen und pflegerischen Betreuungsmaßnahmen einbeziehen, aber auch die Hilfen bei der Haushaltsführung und die Organisation des Tagesablaufs geben. Soweit möglich sollen sich die Angehörigen an der aktivierenden Pflege beteiligen. Das kann z. B. in Form von psychologischer und persönlicher Hilfestellung beim Aufstehen und Umhergehen, in Form geistiger Anregung bei alleinstehenden und vereinsamten Menschen oder als Anleitung zum selbständigen Essen, Trinken oder Blutdruckmessen geschehen. Die aktivierende Pflege stellt keine besondere, eigenständige Leistung dar. Sie ist vielmehr Bestandteil aller zu erbringenden Leistungen und Ziel der Pflege insgesamt.
2.2 Wahlrecht des Pflegebedürftigen
Rz. 2a
Abs. 2 enthält ein Wahl- und Wunschrecht der Pflegebedürftigen hinsichtlich der von Einrichtungen und Trägern zu erbringenden Dienste. Dieses ist eine wesentliche Voraussetzung zur Führung eines menschenwürdigen Lebens bei Pflegebedürftigkeit. Dienste und Pflegeeinrichtungen können und sollen durch eine Bevormundung dem Pflegebedürftigen nicht zugewiesen werden. Abs. 2 Satz 2 ist Ausdruck des Selbstbestimmungsrechts der Pflegebedürftigen. Er gibt damit einen Grundsatz wieder, der sich in den verschiedenen Büchern des SGB an mehreren Stellen wiederfindet (BSG, Urteil v. 24.5.2006, B 3 P 1/05 R, BSGE 96 S. 233). Jedoch kann die Solidargemeinschaft nur angemessenen und im Einzelfall vertretbaren Wünschen entsprechen. So ist z. B. auf örtliche Gegebenheiten Rücksicht zu nehmen, die durch die Nähe der Verwandten oder Freunde bestimmt sein kann. Demgegenüber muss ein erhöhter Pflegeaufwand, der nicht aus individuellen Lebensgewohnheiten des Pflegebedürftigen selbst resultiert, sondern der durch besondere Lebensumstände der Pflegeperson begründet ist, bei der gebotenen objektiven Betrachtung ausgeklammert werden, etwa wenn es um die Ermittlung des zeitlichen Umfangs einer Hilfeleistung geht (vgl. BSG, Urteil v. 21.2.2002, B 3 P 12/01 R, Breithaupt 2002 S. 669).
Dem Pflegebedürftigen steht es grundsätzlich anheim, seine Pflege selbst zu organisieren. Hierzu gehört auch das Recht, nur gelegentlich Pflegepersonen in Anspruch zu nehmen. Allerdings hat er, will er nicht den Erhalt von Leistungen nach diesem Gesetzbuch gefährden, nach Maßgabe von § 37 Abs. 1 insgesamt darau...