Rz. 7
Auch im sozialgerichtlichen Verfahren sind nach allgemeiner Meinung die Grundsätze des Beweises des ersten Anscheins ("Prima-facie-Beweis") anwendbar (vgl. etwa BSG, USK 99115; BSG, Urteil v. 30.11.2006, B 9a VS 1/05 R und Keller, in: Meyer-Ladewig/Keller/Schmidt, SGG, § 128 Rz. 9 m. w. N.). Hierdurch wird nicht die objektive Beweislast beeinflusst, sondern die Beweiswürdigung erleichtert. Der Beweis des ersten Anscheins findet Anwendung bei nach der Lebenserfahrung typischen Geschehensabläufen, in denen das Vorliegen eines bestimmten Sachverhalts auf eine bestimmte Ursache oder einen bestimmten Ursachenzusammenhang hinweist. Es handelt sich um eine Tatsachenvermutung, den auf Lebenserfahrung beruhenden Schluss, dass gewisse typische Sachverhalte bestimmte Folgen auslösen oder dass umgekehrt bestimmte Folgen auf einen typischen Geschehensablauf hindeuten (BFHE 156, 66). Den gestellten Beweisanforderungen genügt es dann, wenn die den Sachverhalt ergebenden Tatsachen bewiesen sind, die typischerweise auf das Vorliegen der Haupttatsache schließen lassen (BSG, USK 9848). Liegen jedoch Anhaltspunkte dafür vor, dass im konkreten Fall entgegen dem normalen Lauf der Dinge ein atypischer Geschehensablauf ernsthaft möglich ist, ist dem Anscheinsbeweis die Grundlage entzogen (vgl. BSG, SozR 5670 Anl. 1 Nr. 2102 Nr. 2; BSG, USK 99115). Der Beweisbelastete kann sich dann auf den Ablauf nach der Lebenserfahrung nicht mehr berufen, sondern bedarf zur Durchsetzung seines Anspruchs vollständig des Beweises aller anspruchsbegründenden Tatsachen (vgl. BSGE 8, 245; BSGE 41, 297, 300; BSG, USK 9848; BSG, USK 99115).
In der Rechtsprechung des BSG ist z. B. der Anscheinsbeweis der Unwirtschaftlichkeit im Vertragsarztrecht anerkannt. Ergibt die Prüfung, dass der Behandlungsaufwand des Arztes je Fall bei dem Gesamtfallwert, bei Sparten- oder Einzelleistungswerten in offensichtlichem Missverhältnis zu dem durchschnittlichen Aufwand der Vergleichsgruppe steht, ihn nämlich in einem Ausmaß überschreitet, das sich im Regelfall nicht mehr durch Unterschiede in der Praxisstruktur oder in den Behandlungsnotwendigkeiten erklären lässt, hat das die Wirkung eines Anscheinsbeweises der Unwirtschaftlichkeit (st. Rspr., z. B. BSG, SozR 4-2500 § 106 Nr. 4 Rz. 5; BSG, Urteil v. 14.12.2005, B 6 KA 3/05 R). Der Anscheinsbeweis ist nicht schon dann geführt, wenn zwei verschiedene Möglichkeiten eines Geschehensablaufs in Betracht zu ziehen sind, von denen die eine wahrscheinlicher ist als die andere (BSG, Urteil v. 26.7.2007, B 13 R 4/06 R; BSG, Urteil v. 10.12.2003, B 9 VG 3/02 R; BGHZ 24, 308, 312). Denn die volle Überzeugung des Gerichts lässt sich auf eine – wenn auch große – Wahrscheinlichkeit nicht gründen (BFHE 156, 66, 71). Auch wenn nach der Lebenserfahrung die weitaus größte Anzahl der abgesandten Briefe beim Empfänger ankommt, ist damit lediglich eine mehr oder minder hohe Wahrscheinlichkeit für den Zugang einer Briefsendung gegeben. Die Grundsätze des Anscheinsbeweises gelten deshalb nicht für die Zustellung mittels einfachen Briefes (BSG, Urteil v. 26.7.2007, B 13 R 4/06 R; BFHE 156, 66; BGH, VersR 1978, 671; BGH, NJW 1996, 2033). Wegen der verschiedenen Möglichkeiten von Störungen im Bereich der Übertragung oder des Empfangsgerätes, die nicht notwendigerweise im Ergebnisprotokoll des Sendegeräts registriert werden, ist durch ein Telefaxsendeprotokoll kein Anscheinsbeweis für den Zugang des Telefaxschreibens zu führen (vgl. LSG Rheinland-Pfalz, Urteil v. 14.6.2007, L 5 KA 42/06 m. w. N.; BayLSG, Beschluss v. 26.5.2009, L 11 AS 258/09; BGH, NJW 1995,665). Weil der Anscheinsbeweis einen Sachverhalt voraussetzt, der nach der Lebenserfahrung regelmäßig einen bestimmten Verlauf nahelegt, und es rechtfertigt, besondere Umstände des Einzelfalls in ihrer Bedeutung zurücktreten zu lassen (BVerwG, NVwZ-RR 2000, 256; BSGE 63, 270), muss ein Hergang zugrunde liegen, der erfahrungsgemäß gleichmäßig abläuft und zwar vom menschlichen Willen unabhängig, gleichsam mechanisch (BSGE 81, 288; BVerwG, NJW 1980, 252). Gerade, wenn das Geschehen nicht aufklärbar ist, es sich also um einen völlig unklaren Ablauf handelt, liegt kein typischer Sachverhalt vor, dem bestimmte Folgen entspringen, oder aus dessen Folgen auf einen bestimmten typischen Ablauf geschlossen werden kann (vgl. BSG, Urteil v. 30.11.2006, B 9a VS 1/05 R zum Sturz aus dem Fenster einer Kaserne).