Rz. 15

Die Vorschrift des § 128 Abs. 2, wonach das Urteil nur auf Tatsachen und Beweisergebnisse gestützt werden darf, zu denen sich die Beteiligten äußern konnten, konkretisiert den Anspruch auf rechtliches Gehör (Art. 103 GG, § 62 SGG). Sie soll verhindern, dass die Beteiligten durch eine Entscheidung überrascht werden, die auf Rechtsauffassungen, Tatsachen oder Beweisergebnissen beruht, zu denen sie sich nicht äußern konnten (BSG, Urteil v. 21.11.2000, B 2 U 288/00 B). Das Gericht muss deshalb den Beteiligten vollständig von allen zu den Akten gereichten Schriftsätzen Kenntnis geben und sie darüber unterrichten, welche Akten beigezogen worden sind und welche Ermittlungsmaßnahmen getroffen werden. Regelmäßig genügt es, wenn das Gericht den Beteiligten Mitteilung z. B. über die Beiziehung einer Akte macht. Es ist dann Sache der Beteiligten, sich durch Akteneinsichtnahme Kenntnis vom Inhalt zu verschaffen. Eine Hinweispflicht kann aber bestehen, wenn die Entscheidung auf sich aus der beigezogenen Akte ergebende Gründe gestützt werden soll, die im bisherigen Verfahren keine oder jedenfalls keine entscheidende Rolle gespielt haben (vgl. BVerwG, Beschluss v. 6.6.2007, 3 B 98/06). Verwertet das Gericht eine Urkunde aus einer beigezogenen Akte ohne mit der Terminsladung oder ausweislich des Protokolls auf die Beiziehung dieser Akte und die Absicht, die darin beurkundete Zeugenaussage zu verwerten, hingewiesen zu haben, verletzt es sowohl den Grundsatz der Unmittelbarkeit (siehe bei § 117) als auch die Vorschriften über die Durchführung des Urkundsbeweises (siehe bei § 118 Rn. 9) und den Anspruch des Beteiligten auf rechtliches Gehör (vgl. BSG, Beschluss v. 31.3.2004, B 4 RA 224/03 B). Zu den Friktionen zwischen Geheimhaltung nach § 78 Abs. 1 Satz 2 SGB X und § 128 Abs. 2 s. Wolff, NZS 2011 S. 161 (164).

Über den Wortlaut des § 128 hinaus bezieht sich das rechtliche Gehör nach h. M. auch auf Rechtsansichten (BSG, a. a. O.; Kopp/Schenke, § 108 Rn. 21; Schmidt, in: Eyermann, § 108 Rn. 12; Redeker/von Oertzen, § 108 Rn. 7). Zur Hinweispflicht auf Rechtsfragen (differenzierend) und zum sog. Rechtsgespräch vgl. Keller, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, § 62 Rn. 8a. Wenn Redeker (NJW 2002 S. 192) ausführt, mündliche Verhandlungen ohne Rechtsgespräch verfehlten ihren Sinn, kann dem nur zugestimmt werden. Für die Sozialgerichtsbarkeit lässt sich heute aber wohl feststellen, dass das Gericht regelmäßig seine – vorläufige – Rechtsauffassung darlegt und zur Diskussion stellt. Es besteht jedoch kein allgemeiner Verfahrensgrundsatz, der das Gericht verpflichten würde, die Beteiligten vor einer Entscheidung auf eine in Aussicht genommene Beweiswürdigung hinzuweisen (vgl. aber zu einer von der Vorinstanz abweichenden Beweiswürdigung BSG, Beschluss v. 5.9.2006, B 7a AL 78/06 B) oder die für die richterliche Überzeugungsbildung möglicherweise leitenden Gründe zuvor mit den Beteiligten zu erörtern (vgl. BSG, Beschluss v. 5.3.2007, B 4 RS 58/06 B; BSG, Beschluss v. 21.9.2006, B 12 KR 24/06 B; BSG, Urteil v. 21.11.2000, B 2 U 288/00 B; BSG, Urteil v. 17.2.1999, B 2 U 141/98 B), die Beteiligten auf alle nur möglichen Gesichtspunkte hinzuweisen und seine Rechtsauffassung zu der Rechtssache bzw. zu den Erfolgsaussichten zu erkennen zu geben (vgl. BSG, Beschluss v. 5.8.2004, B 13 RJ 206/03 B; BSG, Beschluss v. 17.10.2006, B 1 KR 104/06 B) oder auf die Stellung von Beweisanträgen hinzuwirken (vgl. BSG, Beschluss v. 6.3.2003, B 11 AL 129/02 B; BSG, Beschluss v. 12.2.2002, B 11 AL 249/01 B). Das Gericht darf seine Entscheidung aber nicht auf neue Gesichtspunkte stützen, ohne dass die Beteiligten damit rechnen konnten. Ein unzulässiges Überraschungsurteil liegt deshalb dann vor, wenn das Gericht einen bis dahin nicht erörterten rechtlichen oder tatsächlichen Gesichtspunkt zur Grundlage seiner Entscheidung macht und damit dem Rechtsstreit eine Wendung gibt, mit der die Beteiligten nach dem bisherigen Verlauf nicht zu rechnen brauchten (vgl. BVerwG, Beschluss v. 12.12.2007, 8 B 57/07; BVerwG, Buchholz 310 § 104 § 101 VwGO Nr. 29). Eine solche Überraschungsentscheidung liegt nicht vor, wenn dieser Gesichtspunkt zuvor Gegenstand des Vorbringens der Beteiligten gewesen ist (vgl. BFH, Beschluss v. 2.2.2004, VIII B 59/03; BFH, Urteil v. 14.10.2003, X B 77/03). Eine Überraschungsentscheidung in dem Sinne, dass ein gewissenhafter und kundiger Prozessbevollmächtigter mit ihr nicht zu rechnen brauchte, liegt bereits dann nicht vor, wenn sich das Gericht im Urteil dem Standpunkt eines Beteiligten angeschlossen hat, denn hiermit muss ein sorgfältiger Prozessbevollmächtigter rechnen (vgl. BSG, Urteil v. 20.8.2008, B 13 R 217/08 B m. w. N.)

Äußert der Vorsitzende eines Senats in der mündlichen Verhandlung seine Überzeugung, einem bestimmten Gutachten folgen zu wollen, so liegt in einer gegenteiligen Entscheidung des Senats jedenfalls dann keine Gehörsverletzung (Überraschungsentscheidung), wenn der betreffende Beteiligte rechtskundig vertreten ist. Eine s...

Das ist nur ein Ausschnitt aus dem Produkt Prüf Office. Sie wollen mehr?

Anmelden und Beitrag in meinem Produkt lesen