Rz. 7
Auch eine Anschlussberufung kann statthaft sein. Sie ist im SGG nicht ausdrücklich geregelt, jedoch über § 202 SGG i. V. m. § 524 ZPO statthaft. Die Anschlussberufung hat den Zweck, diejenige Partei zu schützen, die in Unkenntnis des Rechtsmittels der Gegenpartei die Rechtsmittelfrist im Vertrauen auf den Bestand des Urteils verstreichen ließ (BGH, Beschluss v. 5.12.1979, IV ZB 75/79, NJW 1980 S. 702; Lemke, in: Prütting/Gehrlein, ZPO, 3. Aufl. 2011, § 524 Rn. 2).
Bis zum Inkrafttreten des Gesetzes zur Reform des Zivilprozesses (ZPO-ReformG) v. 27.7.2001 am 1.1.2002 (BGBl. I S. 1887) kam die Anschließung als selbständige oder als unselbständige Anschließung in Betracht. Eine selbständige Anschlussberufung (§§ 521 Abs. 1, 522 Abs. 2 ZPO a. F.) lag vor, wenn sie innerhalb der Berufungsfrist eingelegt wurde; sie wurde dann wie eine sonstige Berufung behandelt. Ihre Zulässigkeit und Begründetheit waren eigenständig zu prüfen und von der Hauptberufung unabhängig (vgl. auch von Olshausen, NJW 2002 S. 802 ff.). Die unselbständige Anschlussberufung (§§ 521 Abs. 1, 522 Abs. 1 ZPO a. F.) war ein zeitlich nicht beschränkter Rechtsbehelf, der bis zum Schluss der mündlichen Verhandlung in der letzten Tatsacheninstanz eingelegt werden konnte. Hierdurch sollte demjenigen die Möglichkeit der Anfechtung gegeben werden, der zwar teilweise unterlegen, jedoch bereit war, dies zu akzeptieren (Doms, NJW 2002 S. 777, 780).
Rz. 7a
Seit dem 1.1.2002 sind diese Möglichkeiten infolge des ZPO-ReformG begrenzt. Die Voraussetzungen für eine Anschlussberufung sind grundlegend umgestaltet worden (jetzt § 524 ZPO). Die selbständige Anschlussberufung ist abgeschafft worden (hierzu kritisch von Olshausen, NJW 2002 S. 802, 804: Es bleibt also nur die Folgerung, dass die Abschaffung der selbständigen Anschlussberufung auf mangelnder Vertrautheit der Gesetzesverfasser mit den für diese entwickelten Regeln beruht). Nunmehr ist nur noch eine unselbständige Anschließung innerhalb einer Frist von einem Monat nach Zustellung der Berufungsbegründung möglich (hierzu Grunsky, NJW 2002 S. 800, 801). Die Anschließung kann bis zur Verkündung des Berufungsurteils zurückgenommen werden (§ 516 Abs. 1 ZPO). Die Anschlussberufung ist streng akzessorisch zur Berufung. Sie verliert gemäß § 524 Abs. 4 ZPO mit der Rücknahme der Berufung in jedem Verfahrensstadium bis zur Verkündung des Urteils ihre Wirkung (kritisch hierzu Dom, NJW 2002 S. 777, 780 sowie Hartmann, NJW 2001 S. 2577, 2591; vgl. auch Grunsky, NJW 2002 S. 800, 801: offenkundiger Unsinn; dagegen BGH, Beschluss v. 30.4.2003, V ZB 71/02, NJW 2003 S. 2388). Der Berufungsbeklagte hat nunmehr die Wahl, ob er sich der Berufung des Gegners anschließt oder ob er, falls die Voraussetzungen des § 511 ZPO gegeben sind, eigenständig Berufung einlegt. Nur im ersten Fall verliert der Angriff gegen das Urteil seine Wirkung, wenn der Gegner die Berufung zurücknimmt (§ 524 Abs. 4 ZPO), mit anderen Worten: Innerhalb der noch offenen Berufungsfrist kann der Berufungsbeklagte Anschlussberufung oder selbständige Berufung einlegen; nur wenn die Frist für die selbständige Berufung verstrichen ist, wird er auf die Anschlussberufung beschränkt (BGH, NJW 2003 S. 2388).
Rz. 7b
Durch das am 1.9.2004 in Kraft getretene 1. Justizmodernisierungsgesetz (BGBl. I S. 2198) hat der Gesetzgeber die Rechtslage neuerlich modifiziert. Bislang musste die Anschlussberufung innerhalb eines Monats nach Zustellung der Berufungsbegründung eingelegt werden. Nunmehr gilt die Frist, die dem Berufungsbeklagten zur Berufungserwiderung gesetzt ist. Sofern allerdings zu wiederkehrenden Leistungen (§ 323 ZPO) verurteilt worden ist, gilt die Befristung nicht mehr. Damit soll sichergestellt werden, dass der Berufungsbeklagte während des Berufungsverfahrens eintretende und sich zu seinen Gunsten auswirkende Änderungen noch im Berufungsverfahren geltend machen kann und nicht auf eine Abänderungsklage (§ 323 ZPO) ausweichen muss (vgl. BT-Drucks. 15/3482 S. 18).
Rz. 7c
Die Berufungsfrist des § 151 Abs. 1 SGG gilt nicht für die Anschlussberufung (BSG, Urteil v. 5.5.2010, B 6 KA 6/09 R, SozR 4-2500 § 106 Nr. 27; LSG Berlin-Brandenburg, Urteil v. 27.1.2011, L 8 AL 474/07, juris). Auch die an die Berufungserwiderungsfrist geknüpfte Anschlussberufungsfrist (§ 524 Abs. 2 Satz 2 ZPO) greift nicht (vgl. Leitherer, § 143 Rn. 5), denn eine vergleichbare Regelung zur Berufungserwiderung gemäß § 521 Abs. 2 i. V. m. §§ 277, 296 ZPO fehlt im sozialgerichtlichen Verfahren (LSG Baden-Württemberg, Urteil v. 27.8.2010, L 8 U 1427/10, UV-Recht Aktuell 2010 S. 1173).
Rz. 7d
Zur Auslegung einer "selbständigen" Anschlussberufung, die innerhalb der Berufungsfrist eingelegt worden ist, vgl. BGH, Beschluss v. 30.4.2003, V ZB 71/02, NJW 2003 S. 2388. Die Bezeichnung "Anschlussberufung" ist nach Maßgabe der konkreten Umstände daraufhin zu überprüfen, ob tatsächlich eine Anschlussberufung oder eine Berufung eingelegt werden sollte. Im Urteil v. 7.12.2007 (V ZR 210/06, NJW 2008 S. 1953) hat...