Rz. 3
Als Grundregel bestimmt § 86a Abs. 1 Satz 1 SGG, dass Widerspruch und Anfechtungsklage aufschiebende Wirkung haben. Folgerichtig regelt Abs. 1, dass insoweit auch Berufung und Beschwerde aufschiebende Wirkung haben. Gemäß § 154 Abs. 1 hat die Berufung aufschiebende Wirkung, soweit die Klage nach § 86a SGG Aufschub bewirkt. Der Anwendungsbereich des § 154 Abs. 1 ist auf Anfechtungsklagen beschränkt (BayLSG, Beschluss v. 16.12.2004, L 18 SB 132/04 ER, juris; Knecht, in: Breitkreuz/Fichte, SGG, 2009, § 154 Rn. 5); diese haben keinen vollstreckungsfähigen Inhalt, entfalten ihre Gestaltungswirkung vielmehr ohne Vollstreckung aus sich hieraus. Demzufolge ist die Vorschrift dahin zu interpretieren, dass sie nicht nur die eigentliche Vollstreckung, sondern jede Verwirklichung des Inhalts der erstinstanzlichen Entscheidung betrifft (Bernsdorff, in: Hennig, SGG, 5/1997, § 154 Rn. 31; Keller, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 9. Aufl. 2008, § 154 Rn. 2; Knecht, a. a. O.).
Die aufschiebende Wirkung der Anfechtungsklage (§ 86a Abs. 1 Satz 1 SGG) kann durch die Anordnung der sofortigen Vollziehung (§ 86a Abs. 2 Nr. 5 SGG) oder dadurch beseitigt sein, dass die aufschiebende Wirkung durch Gesetz ausgeschlossen ist (z. B. § 39 Nr. 1 SGB II).
Rz. 4
Sind die Voraussetzungen des § 154 Abs. 1 gegeben, tritt die aufschiebende Wirkung als notwendige gesetzliche Folge ein (Bernsdorff, in: Hennig, SGG, 5/1997, § 154 Rn. 5). Die aufschiebende Wirkung beginnt, wenn und soweit die Klage Aufschub bewirkt (§ 86a SGG) mit der Einlegung der Berufung oder der Nichtzulassungsbeschwerde, bezogen ex tunc auf den Zeitpunkt des Erlasses des Verwaltungsakts (vgl. § 86a Rn. 10). Grundsätzlich unerheblich ist, ob die Berufung begründet ist. Anderes gilt ausnahmsweise dann, wenn die Berufung offensichtlich unzulässig ist (vgl. § 86a Rn. 22 ff.). Sind bereits Vollstreckungsmaßnahmen durchgeführt worden, werden diese unwirksam. Die aufschiebende Wirkung endet grundsätzlich ex tunc mit der Rechtskraft der Entscheidung des SG (vgl. § 86a Rn. 15).
Rz. 5
Die aufschiebende Wirkung bedeutet Hemmung der Vollstreckbarkeit. Die Regelung entspricht § 80 Abs. 1 VwGO. Die Bedeutung der aufschiebenden Wirkung ist streitig (Bracher, MedR 2001, 452 ff.; hierzu Redeker/von Oertzen, VwGO, 14. Aufl. 2004, § 80 Rn. 4 m. w. N.). Teilweise wird sie als Wirksamkeitshemmung, teilweise als Vollziehbarkeitshemmung verstanden. Das kann letztlich dahinstehen, denn sowohl im Falle einer Vollziehbarkeitshemmung als auch – erst Recht – im Falle einer Wirksamkeitshemmung darf der Verwaltungsakt nicht vollzogen werden (LSG NRW, Beschluss v. 19.1.2011, L 11 KA 106/10 B ER, juris; Beschluss v. 17.3.2009, L 11 B 25/09 KA ER, MedR 2011, 465; Beschluss v. 16.4.2003, L 10 B 21/02 KA ER, MedR 2004, 233; vgl. auch Keller, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 9. Aufl. 2008, § 86a Rn. 4 m. w. N.; hierzu s auch § 86a Rn. 17 ff.).
Rz. 6
Nach § 86a Abs. 1 Satz 2 SGG dürfen auch rechtsgestaltende und feststellende Verwaltungsakte sowie solche mit Drittwirkung im Fall eines Widerspruchs bzw. einer Anfechtungsklage nicht umgesetzt werden. Der Grundsatz der aufschiebenden Wirkung von Widerspruch und Anfechtungsklage wird in § 86a Abs. 2 Nr. 1 bis 5 SGG durchbrochen. Kraft Gesetzes ist in diesen - abschließenden - Fällen die aufschiebende Wirkung aufgehoben. Dennoch ist der Bescheidadressat nicht schutzlos gestellt, denn er kann in den Fällen des § 86a Abs. 2 SGG behördlichen (§ 86a Abs. 3 SGG) oder gerichtlichen Rechtsschutz (§ 86b Abs. 1 SGG) in Anspruch nehmen. Über die Fälle der Nr. 1 bis Nr. 3 hinaus erlaubt Nr. 4 dem Gesetzgeber, den Grundsatz der aufschiebenden Wirkung hinaus durch Bundesgesetz im Einzelfall aufzuheben (hierzu § 86a Rn. 56). Die Vorschrift hat rein deklaratorischen Charakter, denn dem Bundesgesetzgeber bleibt es unbenommen, das SGG durch gleichrangige Gesetze zu modifizieren. Hiervon hat der Gesetzgeber Gebrauch gemacht. So wurde § 85 Abs. 4 SGB V durch Art. 4 des 6. SGGÄndG dahin ergänzt, dass Widerspruch und Klage gegen die Honorarfestsetzung sowie ihre Änderung oder Aufhebung keine aufschiebende Wirkung haben. Darüber hinaus versagt Art. 4 des 6. SGGÄndG auch Klagen gegen Festsetzungen des Schiedsamtes (§ 89 Abs. 1 Satz 6 und Abs. 1a Satz 4 SGB V) oder gegen eine vom Beschwerdeausschuss festgesetzte Honorarkürzung (§ 106 Abs. 5 SGB V) die aufschiebende Wirkung (hierzu auch Schlarmann/Buchner, NJW 2002 S. 644 ff.). Nach Nr. 5 entscheidet die Stelle, die den Verwaltungsakt erlassen oder über den Widerspruch zu entscheiden hat, im Einzelfall, ob die aufschiebende Wirkung entfallen soll (hierzu Bernsdorff, SGb 2001 S. 465, 470). Auf eine detaillierte Aufzählung der Fälle, in denen die aufschiebende Wirkung entfällt, hat der Gesetzgeber in § 86a Abs. 2 Nr. 4 SGG verzichtet. Hinsichtlich weiterer Einzelheiten wird auf die Kommentierung zu § 86a SGG (Rn. 56 ff.) verwiesen.
Rz. 7
Die aufschiebende Wirkung der Anfechtungsklage gegen einen Bescheid der (im Anschluss an e...