Rz. 2
Die Neuregelung beruht auf Vorschlägen der Justizministerkonferenz, was mit Blick auf die Zielrichtung der Neuregelung durchaus von Interesse ist. Die Gesetzesbegründung (vgl. Rz. 1) ist verfehlt. Die Formulierung "Die Stellung des Landessozialgerichts als Entscheidungsinstanz wird gestärkt" verdeckt den wahren Sachverhalt. Von einer Effizienzsteigerung (so Gesetzentwurf der Bundesregierung in BR-Drs. 315/11 S. 2) kann keine Rede sein. Die Neuregelung stärkt zwar die verfahrensrechtliche Bedeutung des LSG für die Streitentscheidung nachhaltig zu Lasten der ersten Instanz. Das ist umso erstaunlicher als der Gesetzgeber anlässlich einer Vielzahl von ZPO-Novellen ein durchaus anderes Ziel verfolgt, nämlich eine deutliche Stärkung der Eingangsinstanzen. Zu verweisen ist beispielsweise auf die durch das ZPO-ReformG (BGBl. I S. 1881, 1895) mit § 511 Abs. 2 und Abs. 4 ZPO zum 1.1.2002 eingeführte Zulassungsberufung. Auch für die VwGO gilt dieser Befund. Jeweils wird die erste Instanz gestärkt, was augenfällig dadurch ist, dass die Berufung seit dem am 1.1.1997 (6. VwGO-ÄndG) der Zulassung bedarf. Zuvor war die Berufung zulassungsbedürftig in Abhängigkeit vom Wert des Beschwerdegegenstandes in Bagatellsachen sowie in einigen gesetzlich besonders geregelten Fällen (§ 131 Abs 2 a. F.). Durch die Neuregelung wurde die im Regelfall zulassungsfreie Berufung durch die allgemeine Zulassungsberufung ersetzt. Hierdurch erhoffte sich der Gesetzgeber einen wesentlichen Beitrag zur Entlastung der Berufungsgerichte (BT-Drs. 13/1433 S. 13). Er ging dabei davon aus, dass 3eine Tatsacheninstanz regelmäßig ausreiche und die zweite Tatsacheninstanz nur in solchen Verfahren zur Verfügung stehen soll, in denen eine Überprüfung der Entscheidung erster Instanz von der Sache her notwendig sei (BT-Drs. 13/3993 S. 13; BT-Drs. 13/1433 S. 13). Der "SGG-Gesetzgeber" hingegen hat wenig Vertrauen in die Arbeit der erstinstanzliche Sozialgerichte. So heißt es im Gesetzentwurf der Bundesregierung zum Gesetz zur Änderung des SGG und des ArbGG vom 11.1.2008 (BT-Drs. 16/7716 S. 18) im Zusammenhang mit der Schaffung erstinstanzlicher Zuständigkeiten für das LSG in § 29:
„Im Sozialgerichtsverfahren spielen Tatsachenfragen eine nicht zu unterschätzende Rolle. Zudem sind existenzielle Leistungen häufig Streitgegenstand. In den meisten sozialgerichtlichen Rechtsbereichen ist daher eine zweite Tatsacheninstanz notwendig. Auch im sozialgerichtlichen Verfahren sind jedoch Bereiche zu identifizieren, in denen es vorwiegend um die Klärung von Rechtsfragen geht. In diesen Bereichen wird fast zwangsläufig der Weg in die zweite Instanz gegangen – zum Teil auch zum Revisionsgericht –, um diese Rechtsfragen endgültig durch ein Obergericht klären zu lassen. Das Sozialgericht erfüllt in diesen Fällen häufig die Funktion einer nicht endgültig streitschlichtenden Instanz.
Zur Entlastung der Sozialgerichte und zur Verkürzung der Phase der Unsicherheit, mit der die Parteien während des im Instanzenzug teilweise über Jahre anhängigen Rechtsstreits belastet sind, wird eine erstinstanzliche Zuständigkeit der Landessozialgerichte für die genannten Rechtsstreitigkeiten geschaffen. Dies dient der Prozessökonomie. Die Verfahrensbeteiligten erhalten schneller Rechtssicherheit; insbesondere die Sozialverwaltungen gewinnen rascher Klarheit für die Handhabung einzelner Normen.
Die in Absätzen 2 bis 4 genannten Verfahren werden in der Regel vor die Landessozialgerichte getrieben. Die unteren Instanzen werden mit den häufig sehr komplexen und schwierigen Sachverhalten in der Regel nicht befasst, um den Rechtsstreit einer endgültigen Klärung zuzuführen, sondern um die Voraussetzungen für eine Entscheidung des Landessozialgerichts herbeizuführen. Richter und Urkundsbeamte werden durch solche durchlaufenden Verfahren in erheblichem Maße belastet. Für die Justizhaushalte entstehen finanzielle Belastungen. Gleichzeitig wird die Erledigung vergleichsweise unkomplizierter Verfahren blockiert. Die Konzentration der Verfahren aus den in den Absätzen 3 und 4 genannten Bereichen vor einem bestimmten Landessozialgericht führt dazu, dass das dort aufgebaute Erfahrungswissen unmittelbar genutzt wird.”
Rz. 3
Diese Formulierungen lassen ein grundsätzliches Misstrauen der am Gesetzgebungsverfahren beteiligten Organe gegenüber den erstinstanzlichen Sozialgerichten erkennen. Nichts anderes verdeutlicht die Neuregelung des § 159. Dessen Begründung trägt nicht. Dass die Neuregelung prinzipiell mit einer Entlastung der ersten Instanz einhergeht, ist zwar zutreffend, rechnerisch indessen zu vernachlässigen. Zurückverweisungen sind äußerst selten. Dem Vorhaben immanent ist hingegen, dass die Sozialgerichte zu Durchlaufstationen degradiert werden. Ausgeblendet wird, dass § 159 in der bisherigen Fassung ein wesentliches Instrument der verfahrensmäßigen Qualitätssicherung ist. Wird der Anwendungsbereich der Vorschrift eingeschränkt, entfällt diese Funktion. Es besteht die Gefahr, dass erstinstanzliche Entsc...