Rz. 23

Die Neuregelung des § 159 Abs. 1 Nr. 2 ist in mehrfacher Hinsicht verfehlt (hierzu oben Rz. 2). In nahezu allen unter Rz. 22, 23 gelisteten Beispielsfällen scheidet eine Zurückverweisung nunmehr aus. Die Neuregelung entzieht der "prozessualen Qualitätssicherung" weitgehend die Grundlage. Es geht nur noch darum, unter dem Etikett der "Effizienzsteigerung" (BT-Drs. 315/11 S. 2) die Verfahrenslaufzeiten zu verringern (vgl. BR-Drs. 315/11 S. 41).

 

Rz. 24

Was als "umfangreiche und aufwändige Beweiserhebung" zu verstehen ist, verschweigen Gesetz und Begründung (vgl. BR-Drs. 315/11 S. 41). Die Begründung zu § 130 Abs. 2 Nr. 1 VwGO führt wenig weiter. Die am seinerzeitigen Gesetzgebungsverfahren beteiligte Bundesregierung versteht hierunter (BT-Drs. 14/6393 S. 14; vgl. auch BT-Drs. 14/4722 S. 102 zu § 538 ZPO) :

"Nach Satz 1 Nr. 1 ist eine Zurückverweisung wegen eines Verfahrensmangels nur noch statthaft, wenn es sich um einen wesentlichen Verfahrensmangel handelt und aufgrund dessen eine umfangreiche (z. B. Vernehmung einer Vielzahl von Zeugen oder Sachverständigen) oder aufwendige (z. B. an einem weit entfernt liegenden Ort vorzunehmende) Beweisaufnahme erforderlich ist. In Betracht kommt damit also nicht die "einfache" Vernehmung lediglich eines Zeugen, es sei denn, die Vernehmung muss z. B. im Ausland stattfinden."

Das mag zur Kenntnis genommen werden. Indessen gilt, dass die Motive und Vorstellungen der Mitglieder der gesetzgebenden Körperschaften (!) bei einer Gesetzesauslegung nur dann berücksichtigt werden, wenn sie im Gesetz einen ausreichenden Niederschlag gefunden haben (vgl. BFH, Urteil v. 23.9.1999, IV R 56/98, BFHE 189 S. 351; vgl. auch LSG NRW Beschlüsse v. 29.5.2012, L 11 KR 206/12 B und L 11 KR 299/12 B; Beschluss v. 4.5.2011, L 11 KA 120/10 B ER; Beschluss v. 9.2.2011, L 11 KA 91/10 B ER, MedR 2011 S. 317). Das ist hier schon deswegen nicht der Fall, weil die Formulierung "umfangreiche und aufwändige Beweisaufnahme" im Gesetz durch Nichts eingegrenzt, mithin allein der Interpretation durch die Gerichte unterliegt. Es wird entgegen der Gesetzesbegründung je nach Sachlage und Beweisthema zu entscheiden sein. Auch die Vernehmung von zwei Zeugen kann zeitraubend und kompliziert sein (Zöller/Heßler, ZPO, 29. Aufl. 2012, § 538 Rn. 31).

 

Rz. 25

Es bietet sich an, die verwaltungs- und zivilgerichtliche Rechtsprechung daraufhin zu untersuchen, wie dort die Begrifflichkeit "umfangreiche und aufwändige Beweisaufnahme" aufgefasst wird. Umfangreich kann eine Beweisaufnahme aufgrund der Zahl der Zeugen oder Sachverständigen oder des Umfangs der Fragen sein (BGH, Urteil v. 1.3.2011, II ZR 83/09, NJW 2011 S. 2578). Aufwändig ist sie, wenn sie nicht in einem Termin vor dem Prozessgericht durchgeführt werden kann, sondern zum Beispiel im Wege der Auslandsrechtshilfe durchgeführt werden muss oder mehrere Termine erfordert (Oberheim, in: Prütting/Gehrlein, ZPO, 3. Aufl. 2011, § 538 Rn. 16).

 

Rz. 26

Konkreter: In der Neufassung der ZPO hat der Gesetzgeber neben dem Vorliegen eines wesentlichen Verfahrensmangels den Antrag einer Partei sowie das Erfordernis einer umfangreichen oder aufwändigen Beweisaufnahme als Voraussetzung einer Zurückverweisung geregelt, während dies im Rahmen des § 539 ZPO a. F. bei der Ermessensausübung berücksichtigt worden war. Der gegenüber § 538 Abs. 1 ZPO gesetzestechnisch als Ausnahmetatbestand gestaltete § 538 Abs. 2 Nr. 1 ZPO ist schon dem Wortlaut nach nicht auf krasse Ausnahmefälle beschränkt, weil dies die Hinzufügung weiterer Eigenschaften (besonders, sehr oder ähnliches) erfordern würde. Es ist auch nicht ersichtlich, dass der Gesetzgeber dieser Vorschrift in der praktischen Umsetzung letztlich den Anwendungsbereich entziehen wollte. Vielmehr hat er sich hinsichtlich des Anwendungsbereichs darauf beschränkt, festzustellen, dass die einfache Vernehmung eines Zeugen im Inland keine umfangreiche Beweisaufnahme darstellt, während die Vernehmung einer Vielzahl von Zeugen oder Sachverständigen als Beispiel für eine umfangreiche Beweisaufnahme genannt ist (BT-Drs. 14/4722 S. 102 f.). Konkrete Vorgaben zur Zahl der Beweismittel oder der beweisbedürftigen Tatsachen sind unterblieben, was es nicht rechtfertigt, die Tatbestandsvoraussetzungen so eng zu interpretieren, dass nur noch wenige Ausnahmefälle innerhalb der Konstellationen, in denen ein wesentlicher Mangel des Verfahrens in erster Instanz vorliegt, erfasst wären. Dabei bliebe unbeachtet, dass die Vorschrift – was der Gesetzgeber mangels inhaltlicher Änderung in diesem Zusammenhang nicht begründet hat – dem Interesse der Parteien an der Erhaltung einer (ihnen zu Unrecht genommenen) Überprüfungsmöglichkeit in einer zweiten Tatsacheninstanz dient. Mit Blick auf Umfang oder Aufwand der erforderlichen Beweisaufnahme ist daher auch darauf abzustellen, ob es den Parteien zumutbar ist, auf eine (tatsächliche) Nachprüfungsinstanz zu verzichten. Das (mögliche) Kosteninteresse steht dabei mit Rücksicht auf den Antrag der Parteien eher im Hintergru...

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