1 Allgemeines
Rz. 1
In den Vorschriften § 180 und § 181 sind besondere Wiederaufnahmeverfahren geregelt, mit denen der Gesetzgeber in Fällen von Zuständigkeitskonflikten bei Vorliegen bindender oder rechtskräftiger Entscheidungen eigene Verfahrenswege eröffnet. Sinn und Zweck der §§ 180, 181 ist – ebenso wie § 75 Abs. 5 –, verfahrensrechtlich zu ermöglichen, dass im Sozialrecht widersprechende Entscheidungen vermieden und die materiell-rechtlich richtige Entscheidung ohne Rücksicht auf eine bereits ergangene Bindungs- und Rechtskraftwirkung durchgesetzt werden kann. § 75 Abs. 5 gibt dem Gericht durch die Beiladung die Möglichkeit, schon im Verfahren gegen den ersten ablehnenden Bescheid einen neuen Rechtsstreit zu vermeiden und der Gefahr widersprechender Entscheidungen vorzubeugen, in dem es anstelle des nicht passiv legitimierten (unzuständigen) verklagten Leistungsträgers den in Wahrheit leistungspflichtigen Leistungsträger als Beigeladenen verurteilen kann (BSG, Urteil v. 19.10.2016, B 14 AS 40/15 R). Das Verfahren nach § 75 Abs. 5 ist nicht mehr zulässig, wenn der beigeladene Leistungsträger bereits einen bindend gewordenen ablehnenden Bescheid erlassen hat oder rechtskräftig von der Leistungspflicht befreit worden ist (BSG, Urteil v. 31.5.1988, 2 RU 67/87; BSG, Urteil v. 13.8.1981, 11 RA 56/80). Die Verfahren nach §§ 180, 181 bieten als außerordentliche Rechtsbehelfe die verfahrensrechtliche Handhabe, verbindliche oder rechtskräftige Entscheidungen zu beseitigen, die einander widersprechen (§ 180) oder im Widerspruch zu einer beabsichtigten Entscheidung stehen (§ 181). Die Bindungswirkung von Verwaltungsakten (§ 77) und die Rechtskraftwirkung von Urteilen und urteilsersetzenden Beschlüssen (§ 141) kann durch Entscheidungen in den Verfahren nach §§ 180, 181 durchbrochen werden.
Rz. 2
§ 180 ist durch das 6. SGGÄndG v. 17.8.2001 (BGBl. I S. 2144) neu gefasst worden. Bei dem Verfahren nach § 180 handelt es sich um ein Wiederaufnahmeverfahren, dessen Wiederaufnahmegrund in der ZPO nicht geregelt ist. Die Vorschrift kommt zur Anwendung, wenn einander widersprechende Entscheidungen über die Passivlegitimation verschiedener in Betracht kommenden Versicherungsträger oder eines Landes ergangen sind.
2 Rechtspraxis
2.1 Wiederaufnahmegründe
Rz. 3
§ 180 Abs. 1 regelt den Zuständigkeitskonflikt mehrerer Versicherungsträger. Unter Versicherungsträger i. S. v. § 180 Abs. 1 sind die Sozialversicherungsträger, einschließlich der Bundesagentur für Arbeit, zu verstehen. Nach § 180 Abs. 2 gilt das Verfahren nach § 180 auch in einem Zuständigkeitskonflikt zwischen Sozialversicherungsträgern und einem Land, wenn das Land als Träger des sozialen Entschädigungsrechts in Anspruch genommen wird. § 180 Abs. 1 trifft nach seinem Wortlaut keine Regelung hinsichtlich eines Zuständigkeitskonflikts, an dem ein Träger der Grundsicherung für Arbeitssuchende, ein Träger der Sozialhilfe oder ein kommunaler Träger beteiligt ist. Im Gegensatz zu der Vorschrift des § 75 Abs. 5 SGG hat es der Gesetzgeber unterlassen, andere Träger als Versicherungsträger oder ein Land in das besondere Wiederaufnahmeverfahren nach §§ 180, 181 miteinzubeziehen. In der Rechtsprechung wird zumindest in Verfahren nach § 86b eine entsprechende Anwendung der Vorschriften der §§ 180, 181 diskutiert (bejahend: LSG Rheinland-Pfalz, Beschluss v. 12.2.2010, L 1 SO 84/09 B ER; ablehnend für Klageverfahren: LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss v. 27.8.2009, L 8 SO 149/07 und Urteil v. 28.1.2016, L 8 SO 385/12).
2.1.1 Positiver Konflikt (Doppelanerkennung), § 180 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2
Rz. 4
Eine Wiederaufnahme ist nach § 180 Abs. 1 Nr. 1 und Abs. 2 zulässig, wenn mehrere Versicherungsträger oder ein oder mehrere Versicherungsträger und ein Land als Träger des sozialen Entschädigungsrechts denselben Anspruch endgültig anerkannt haben oder wegen desselben Anspruchs zur Leistung verurteilt worden sind.
Entscheidungen i. S. v. § 180 Abs. 1 Nr. 1 sind eine rechtskräftige Verurteilung zur Leistung und/oder ein bindender Verwaltungsakt. Eine rechtskräftige Verurteilung (§ 141) setzt eine Entscheidung in der Sache voraus. Nach § 180 Abs. 1 ist ein bindender Verwaltungsakt einem rechtskräftigen Urteil gleichgestellt, wenn durch ihn die Leistung endgültig anerkannt worden ist. Ein Verwaltungsakt über die Gewährung einer vorläufigen Leistung stellt keine Entscheidung i. S. v. § 180 Abs. 1 Nr. 1 dar (BSG, Urteil v. 28.11.1961, 2 RU 76/59). Die Entscheidungen müssen denselben Anspruch betreffen. Der Anspruch muss nicht auf einem einheitlichen Lebenssachverhalt beruhen, es genügt, wenn ein bestimmter Schaden (Gesundheitsstörung) alternativ auf verschiedene tatsächliche Vorgänge zurückzuführen ist (BSG, Urteil v. 28.9.1972, 7 RU 20/70). Der Anspruch kann sich aus verschiedenen Rechtsgrundlagen herleiten, dem Berechtigten darf aber nur ein Anspruch zustehen.
Ein positiver Konflikt liegt in folgenden Fällen vor:
- zwei oder mehrere Versicherungsträger bzw. ein oder mehrere Versicherungsträger und ein Land haben sich durch Verwaltungsakt endgültig verpflichtet, denselben Anspruch zu erfüllen;
- ein Versicherungsträger oder ein ...