Rz. 17
Als Ausgleich dafür, dass die Vollstreckung aus einer nicht rechtskräftigen Entscheidung betrieben werden kann, besteht nach § 199 Abs. 2 die Möglichkeit, die Vollstreckung im Rechtsmittelverfahren durch eine einstweilige Anordnung auszusetzen. Die Vorschrift des § 199 Abs. 2 ersetzt die Bestimmungen der §§ 709, 719 ZPO und stellt einen besonderen Fall der einstweiligen Anordnung nach § 86b Abs. 2 dar.
Rz. 18
Eine einstweilige Anordnung nach § 199 Abs. 2 ist zulässig, wenn
- ein vollstreckungsfähiger Titel i. S. v. § 199 Abs. 1 mit vollstreckungsfähigem Inhalt vorliegt,
- ein Rechtsmittel - Berufung, Revision oder Beschwerde - eingelegt ist und
- das Rechtsmittel keine aufschiebende Wirkung hat.
Es ist nicht erforderlich, dass eine Vollstreckung begonnen hat oder droht.
Rz. 19
Die Vorschrift des § 199 Abs. 2 gilt auch in Rechtsbehelfsverfahren gegen vollstreckbare Titel nach § 199 Abs. 1, die keinen Devolutiveffekt besitzen, wie z. B. die Erinnerung gegen einen Kostenfestsetzungsbeschluss, die Wiederaufnahmeklage nach § 179 und der Einspruch gegen einen Vollstreckungsbescheid, sofern jeweils der Rechtsbehelf keine aufschiebende Wirkung hat (vgl. Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, § 199 Rn. 7).
Rz. 20
Nach der überwiegenden Auffassung in Rechtsprechung und Literatur handelt es sich bei der Entscheidung nach § 199 Abs. 2 um eine Ermessensentscheidung, bei der eine Interessenabwägung zu erfolgen hat (BSG, Beschlüsse v. 26.11.1991, 1 RR 10/91, und v. 5.9.2001, B 3 KR 47/01 R m. w. N.; Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, § 199 Rn. 8 m. w. N.). Abzuwägen sind die Folgen, die eintreten, wenn der Vollstreckungsaussetzungsantrag abgelehnt, das Urteil anschließend aber aufgehoben wird, gegenüber den Folgen, die eintreten, wenn dem Vollstreckungsaussetzungsantrag stattgegeben, die Berufung später aber zurückgewiesen wird. Die Einstellung der Zwangsvollstreckung erfolgt, wenn der Vollstreckungsschuldner einen nicht zu ersetzenden Nachteil erleiden würde und ein überwiegendes Interesse des Gläubigers nicht entgegensteht (BSG, Urteil v. 8.12.2009, B 8 SO 17/09 R, BayLSG, Beschluss v. 27.5.2009, L 18 R 178/09 ER). Inwieweit bei der Ermessensentscheidung die Erfolgsaussicht des Rechtsmittels zu berücksichtigen ist, ist umstritten. Es wird vertreten, dass der in § 154 Abs. 2 zum Ausdruck gekommene Wille des Gesetzgebers zu beachten ist, dass Rechtsmittel i. d. R. aufschiebende Wirkung nur hinsichtlich der für die Zeit vor Erlass der Entscheidung zu zahlenden Beträge haben sollen. Eine Aussetzung kommt danach nur in Ausnahmefällen, z. B. wenn das Rechtsmittel offensichtlich Erfolg hat, in Betracht (BayLSG, Beschluss v. 28.4.2009, L 20 R 299/09 ER). Teilweise wird auch vertreten, dass eine Aussetzung der Vollstreckung auch angeordnet werden kann, wenn es nur überwiegend wahrscheinlich ist, dass der Vollstreckungsschuldner mit seinem Rechtsmittel in wesentlichem Umfang Erfolg haben wird (BayLSG, Beschluss v. 20.4.2009, L 13 R 57/09 ER). Sind die Erfolgsaussichten des Rechtsmittels nicht überschaubar, kommt es auf die Abwägung der betroffenen Interessen unter Berücksichtigung ihrer Bedeutung und Dringlichkeit sowie der Möglichkeit oder Unmöglichkeit einer etwaigen späteren Rückgängigmachung des Ausspruchs an. Dazu gehört auch die Aussicht des Leistungsträgers, bei Aufhebung der angefochtenen Entscheidung die gewährten Leistungen zurückzuerhalten (LSG Baden-Württemberg, Beschlüsse v. 26.1.2006, L 8 AS 403/06 ER, und v. 27.4.2007, L 8 AS 1503/07 ER; BayLSG, Beschluss v. 13.11.2008, L 18 U 392/08 ER). Maßgeblich sind dabei die Umstände des Einzelfalles, die vom Vollstreckungsschuldner konkret und glaubhaft vorzutragen sind (BayLSG, Beschluss v. 27.5.2009, L 18 R 178/09 ER). In Verfahren nach § 86b Abs. 2, deren Gegenstand die vorläufige Gewährung von existenzsichernden Leistungen nach dem SGB II oder SGB XII ist, muss im Wesentlichen auf die Folgen einer Aussetzungsentscheidung für die Hilfesuchenden abgestellt werden. Im Streit über existenzsichernde Leistungen ist regelmäßig davon auszugehen, dass die Nachteile, die dem Antragsteller bei Versagung der erstinstanzlich zugesprochenen existenzsichernden Leistungen entstünden, die Nachteile überwiegen, die einem Leistungsträger durch die vorläufige Gewährung von Leistungen entstehen (LSG Baden-Württemberg, Beschluss v. 24.6.2008, L 7 AS 2955/08 ER; Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, § 199 Rn. 8).
Rz. 21
Es wird auch die Auffassung vertreten, dass es sich bei der Entscheidung nach § 199 Abs. 2 um eine gebundene Entscheidung handelt (BSG, Urteil v. 9.8.1999, B 4 RA 25/98 B, SozR 3-1500 § 199 Nr. 1; offen gelassen BayLSG, Beschluss v. 29.8.2005, L 13 KN 6/05 ER; BayLSG, Beschluss v. 8.2.2006, L 10 AS 17/06 ER; BayLSG, Beschluss v. 15.5.2009, L 2 U 60/09 ER). Dies wird damit begründet, dass § 199 Abs. 2 keine Regelungen darüber enthält, unter welchen Voraussetzungen die Aussetzung der Zwangsvollstreckung bei Rechtsmitteln zu erfolgen hat. Deshalb ergebe sich der Tatbestand aus der Regelung des §§ 719, ...