Rz. 95
Bei der Bewertung des richterlichen Verhaltens im Verfahren geht es vielfach darum, ob sich für Äußerungen, prozessleitende Maßnahmen und Entscheidungen vernünftige und vertretbare Gründe finden lassen, oder ob sie unsachlich oder willkürlich erscheinen. In der zwischen diesen Polen liegenden "Grauzone" wird die Frage, ob der Richter befangen ist, maßgebend von den Umständen des Einzelfalles abhängen (vgl. Stein/Jonas/Bork, ZPO, § 42 Rn. 10). Das Ablehnungsverfahren dient weder der Überprüfung richterlicher Vorgehensweisen auf etwaige Rechts- bzw. Verfahrensfehler noch dazu, das Klagebegehren materiell-rechtlich, d. h. dahin gehend zu prüfen, ob einem Kläger der geltend gemachte Anspruch zusteht (vgl. Rz. 94). Berechtigte Zweifel an der Unvoreingenommenheit eines Richters werden ferner nicht dadurch begründet, dass er auf rechtliche Bedenken gegen das Vorbringen eines Beteiligten hinweist. Aus einem solchen Hinweis, der der rechtlichen Klärung, der Wahrung rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG) und der Gewährleistung eines fairen Verfahrens dient, kann grundsätzlich nicht geschlossen werden, dass der Richter sich auf eine bestimmte Rechtsauffassung festgelegt hätte. Von jeher wird von einem Richter erwartet, dass er auch dann unvoreingenommen an die Beurteilung einer Sache herantritt, wenn er sich schon früher über eine entscheidungserhebliche Rechtsfrage ein Urteil gebildet hat (BVerfG, Beschluss v. 11.10.2011, 2 BvR 1010/10). Zu bedenken ist auch, dass die Zivilprozessreform die in § 139 ZPO verankerte richterliche Aufklärungs-, Hinweis- und Fürsorgepflicht wesentlich verstärkt hat und das Gericht seither zu einer umfassenden Erörterung des Rechtsstreits in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht verpflichtet ist. Hieraus ist der Grundsatz abzuleiten, dass die Herstellung der "materiellen" Waffengleichheit durch richterliche Verhandlungsführung keine Parteilichkeit ist, so dass die früher zur Abgrenzung von § 42 Abs. 2 ZPO zu § 139 ZPO ergangene Rechtsprechung nur noch begrenzt zu verwerten ist (OLG Thüringen, Beschluss v. 20.2.2017, 6 W 52/17). Das lässt sich auf das SGG-Verfahren übertragen, in dem es seit je darum geht, mittels Amtsermittlung (§ 106 SGG) möglichst die materielle Richtigkeit zu finden.
Rz. 96
Maßnahmen der Prozessleitung begründen grundsätzlich keine Besorgnis der Befangenheit (OLG Brandenburg, Beschluss v. 27.10.2011, 13 U 79/09; LSG Sachsen-Anhalt, Beschluss v. 30.6.2011, L 7 SF 1/11 AB). Ein prozessrechtlich korrektes Vorgehen kann nicht zur Besorgnis der Befangenheit führen (OLG Frankfurt, Beschluss v. 19.4.2017, 2 U 174/16; LSG Sachsen-Anhalt, Beschluss v. 29.6.2011, L 6 SF 22/11 AB; vgl. Rz. 72).
Ungeachtet dessen kommt es auf die Rechtmäßigkeit der Rechtsanwendung regelmäßig nicht an (BGH, Beschluss v. 12.10.2011, V ZR 8/10). Eine Ausnahme hiervon ist dann geboten, wenn die Verfahrensgestaltung des Richters sich so weit von den anerkannten rechtlichen Grundsätzen entfernen, dass sie aus Sicht der Partei nicht mehr verständlich und offensichtlich unhaltbar erscheinen und dadurch den Eindruck einer willkürlichen oder doch jedenfalls sachfremden Einstellung des Richters erwecken (BGH, Beschluss v. 20.11.2017, IX ZR 80/15; Beschluss v. 12.11.1997, IV ZR 214/96; BVerwG, Beschluss v. 6.11.2017, 8 PKH 3/17; LSG Sachsen-Anhalt, Beschluss v. 30.6.2011, L 7 SF 1/11 AB; Zöller/Vollkommer, ZPO, § 42 Rn. 28; vgl. Rz. 48). Die Rüge von Rechtsverstößen kann daher allenfalls dann die Besorgnis der Befangenheit rechtfertigen, wenn Gründe dargetan werden, die dafür sprechen, dass das mögliche Fehlverhalten auf einer unsachlichen Einstellung des Richters gegenüber dem ablehnenden Beteiligten oder auf Willkür beruht. Davon kann bei einer vertretbaren Rechtsansicht des Richters keine Rede sein (FG Sachsen-Anhalt, Beschluss v. 16.7.2015, 4 K 804/12). Die Fehlerhaftigkeit muss ohne Weiteres feststellbar und gravierend sein sowie auf unsachliche Erwägungen schließen lassen (LSG Bayern, Beschluss v. 16.8.2017, L 16 SF 170/17 AB; OLG Karlsruhe, Beschluss v. 31.1.2017, 4 U 185/10; OLG München, Beschluss v. 27.9.2016, 19 W 1618/16). Dies ist nur dann anzunehmen, wenn der abgelehnte Richter die seiner richterlichen Tätigkeit gesetzten Schranken zielgerichtet missachtet und Grundrechte verletzt hat oder wenn in einer Weise gegen Verfahrensregeln verstoßen wurde, dass sich bei dem Beteiligten der Eindruck der Voreingenommenheit aufdrängen konnte (vgl. BFH, Beschluss v. 27.9.1994, VIII B 64-76/94; LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss v. 29.5.2012, L 11 KR 206/12 B; Beschluss v. 30.3.2011, L 11 SF 44/11 AB; Beschluss v. 19.7.2010, L 11 SF 108/10 AB; Beschluss v. 17.5.2010, L 11 SF 102/10 AB). Fehlverhalten und andere Missstände, die das gesamte Verfahren belasten und beide Parteien in gleicher oder ähnlicher Weise betreffen, begründen nicht Misstrauen gegen die Unparteilichkeit des Richters (OLG Brandenburg, Beschluss v. 30.3.2015, 13 WF 68/15).
Rz. 97
Beispiele: Die Rechtsansicht, dass § 139 ZPO im Verwaltungs...