Rz. 1
Im Beweissicherungsverfahren wird eine vorsorgliche Tatsachenfeststellung getroffen, wenn ein Prozess noch nicht begonnen hat oder bei einem schwebenden Prozess eine Beweisaufnahme noch nicht angeordnet oder möglich ist. Ein berechtigtes Interesse für eine Beweisaufnahme im Rahmen eines Beweissicherungsverfahrens besteht, wenn die Behörde ihrer Amtsermittlungspflicht nicht oder nicht angemessen nachkommt (SG Konstanz, Beschluss v. 18.8.2003, S 18 AL 487/03 AR-BS, juris). Voraussetzung für das Beweissicherungsverfahren ist das Gesuch eines Beteiligten, das mit der Besorgnis begründet wird, dass ein Beweismittel verloren geht oder die Durchführung der Beweisaufnahme erschwert wird. Ein typisches Beispiel hierfür ist der Wegzug eines Zeugen ins Ausland (vgl. SG Ulm, Beschluss v. 9.3.2009, S 10 U 4214/08 A, juris) oder die erforderliche Sektion einer Leiche (vgl. BSG, Urteil v. 10.8.1993, 9/9a RV 10/92, SozR 3-1750 § 444 Nr. 1). Eine Beweissicherung kommt ferner in Betracht, wenn der gegenwärtige Zustand einer Person oder Sache festgestellt werden soll und der Antragsteller ein berechtigtes Interesse an der Feststellung hat. Letzteres ist etwa anzunehmen, wenn ohne eine vorsorgliche Tatsachenfeststellung der gegenwärtige Gesundheitszustand zu einem späteren Zeitpunkt nicht mehr oder nur erschwert festgestellt werden kann (vgl. LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss v. 18.5.2005, L 4 KR 7/05). Die Feststellung des "gegenwärtigen Zustandes einer Person" umfasst nicht die Feststellung eines Ursachenzusammenhangs zwischen einer Gesundheitsstörung und einem Unfallereignis (SG Hildesheim, Beschluss v. 29.1.2003, S 11 U 132/02, Breithaupt 2003 S. 465). Das Beweissicherungsverfahren gibt grundsätzlich nur die Gelegenheit, Erkenntnismaterial zu sammeln und zu bewahren, das die Grundlage für die Feststellung der zu beweisenden Tatsache bildet. Ein Beweisergebnis wird noch nicht formuliert (BSG, Urteil v. 21.2.1996, 5 RJ 82/95). Die Durchführung eines Beweissicherungsverfahrens ist unzulässig, wenn die beantragte Beweisaufnahme einen anderen Streitgegenstand betrifft als das Hauptsacheverfahren (LSG Bayern, Beschluss v. 23.9.2010, L 8 SF 223/10 BW, juris).
Rz. 2
Nach § 76 Abs. 3 SGG i. V. m. § 487 ZPO muss der Antragsteller den Prozessgegner und die Tatsachen angeben, über die Beweis erhoben werden soll, sowie die Beweismittel bezeichnen. Grundsätzlich ist das selbständige Beweisverfahren auf Beweiserhebung durch Augenscheinseinnahme, die Vernehmung von Zeugen oder Begutachtung durch Sachverständige beschränkt (Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, ZPO, 70. Auflage, 2012, § 487 Rn. 7). Soweit die Begutachtung durch einen Sachverständigen beantragt wird, kann die Auswahl auch in das Ermessen des Gerichts gestellt werden. Nicht möglich ist die Einholung eines Urkundsbeweises; allerdings kann die Herkunft oder Echtheit einer Urkunde Gegenstand eines Augenscheins oder einer Zeugen-/Sachverständigenvernehmung und damit eines selbständigen Beweisverfahrens sein (Musielak/Huber, ZPO, 7. Auflage, 2009, § 485 Rn. 5). Der Antrag auf Anordnung zur Vorlage bestimmter Unterlagen durch eine Behörde kann nicht Gegenstand eines Beweissicherungsverfahrens sein, da es sich hierbei um einen Urkundsbeweis handelt (SG Ulm, Beschluss v. 9.3.2009, S 10 U 4214/08 A, juris). Die Tatsachen, die die Zulässigkeit des selbständigen Beweisverfahrens und die Zuständigkeit des Gerichts begründen sollen, sind glaubhaft zu machen. Wie in anderen Fällen der Glaubhaftmachung kommt in erster Linie eine eidesstattliche Versicherung in Betracht.
Rz. 3
Die Zuständigkeit richtet sich nach § 76 Abs. 2. Danach ist in erster Linie das Sozialgericht zuständig, das für das Hauptsacheverfahren zuständig ist oder wäre. Nur in Fällen dringender Gefahr kann das Gesuch auch bei einem anderen Sozialgericht oder einem Amtsgericht angebracht werden (§ 76 Abs. 2 Satz 2). Angesichts des eindeutigen Wortlauts der Vorschrift kommt eine Zuständigkeit des LSG oder des BSG auch dann nicht in Betracht, wenn der Antrag in einem dort anhängigen Hauptsacheverfahren gestellt wird (so auch Leitherer, in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 9. Auflage, 2008, § 76 Rn. 3; a. A. LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss v. 18.5.2005, L 4 KR 7/05, juris; LSG Bayern, Beschl. v. 12.12.1962, L 9/1712/62 Breith 1963 S. 361).
Rz. 4
Das Gericht entscheidet über den Antrag durch Beschluss (§ 490 Abs. 1 ZPO). Es prüft lediglich die Voraussetzungen des Abs. 1, nicht die Zweckmäßigkeit der Beweiserhebung oder die Beweiserheblichkeit der zu ermittelnden Tatsachen. Ein stattgebender Beschluss ist unanfechtbar (§ 76 Abs. 3 SGG i. V. m. § 490 Abs. 2 Satz 2 ZPO). In dem Beschluss sind die Tatsachen, über die der Beweis zu erheben ist, und die Beweismittel unter Benennung der zu vernehmenden Zeugen und Sachverständigen zu bezeichnen (§ 490 Abs. 2 Satz 1 ZPO). Ein ablehnender Beschluss des Sozialgerichts ist gemäß § 172 SGG mit der Beschwerde anfechtbar, der Beschluss des LSG ist nicht mit der Beschwerde anfechtbar (§...