Leitsatz (amtlich)
Die Inanspruchnahme des Arbeitnehmers für nicht einbehaltene und abgeführte Lohnsteuer durch Einkommensteueränderungsbescheid ist keine Ermessensentscheidung.
Orientierungssatz
Liegen die Voraussetzungen des § 46 EStG für eine Arbeitnehmerveranlagung vor, ist das FA im Falle des § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO 1977 zum Erlaß eines Einkommensteueränderungsbescheids verpflichtet. Selbst wenn dem Arbeitnehmer unbekannt ist, daß die von seinem Lohn einbehaltene Lohnsteuer vom Arbeitgeber nicht angemeldet und abgeführt worden ist und daher der Arbeitnehmer für die Lohnsteuer nicht in Anspruch genommen werden kann, steht dies einer Steuerfestsetzung auch unter Einbeziehung der Lohnteile, auf die die vom Arbeitgeber nicht abgeführte Lohnsteuer entfällt, nicht entgegen. Gleiches gilt, wenn der Arbeitgeber im Rahmen eines Haftungsverfahrens nicht einbehaltene Lohnsteuerbeträge gezahlt hat. Im Erhebungsverfahren (§ 218ff. AO 1977) ist zu berücksichtigen, welche Beträge der Arbeitgeber als Haftungsschuldner bereits auf die Steuerschuld des Arbeitnehmers gezahlt hat.
Normenkette
EStG 1975 § 42d Abs. 3; AO 1977 §§ 155, 191, 218; EStG § 46; AO 1977 § 173 Abs. 1 Nr. 1
Verfahrensgang
FG Köln (Entscheidung vom 08.06.1982; Aktenzeichen V 482/80 E) |
Tatbestand
Im Anschluß an eine Lohnsteuer-Außenprüfung beim Arbeitgeber des Klägers und Revisionsbeklagten (Kläger) vertrat der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt --FA--) nach einer entsprechenden Kontrollmitteilung des Betriebsstätten-FA die Auffassung, der Kläger habe in den Streitjahren 1975 und 1976 ihm zustehende Tantiemen in ein Darlehen an den Arbeitgeber umgewandelt. Das FA sah darin den Zufluß von Arbeitslohn und erließ gemäß § 173 Abs.1 Nr.1 der Abgabenordnung (AO 1977) geänderte Einkommensteuerbescheide für die Jahre 1975 und 1976.
Das Finanzgericht (FG) gab der nach erfolglosem Vorverfahren erhobenen Klage statt, mit der der Kläger sich gegen die Heranziehung wehrte, weil bereits gegen seinen Arbeitgeber ein Haftungsbescheid ergangen sei. Zur Begründung führte es in seiner in Entscheidungen der Finanzgerichte (EFG) 1983, 85 veröffentlichten Entscheidung im wesentlichen aus: Zwischen dem Arbeitnehmer und dem Arbeitgeber bestehe gemäß § 42d Abs.3 des Einkommensteuergesetzes (EStG) ein Gesamtschuldverhältnis. Daher sei es erforderlich, daß das FA Ermessenserwägungen darüber anstelle, welcher der Gesamtschuldner aus welchem Grund in Anspruch genommen werde. Da das FA im Streitfall sein Handlungsermessen nicht ausgeübt bzw. nicht begründet habe, seien die gegen den Kläger ergangenen Einkommensteueränderungsbescheide aufzuheben.
Mit seiner Revision beantragt das FA sinngemäß, die Vorentscheidung aufzuheben und die Klage abzuweisen. Zur Begründung führt es im wesentlichen aus, die Vorentscheidung gehe zu Unrecht davon aus, daß sich die gesamtschuldnerische Haftung des Arbeitgebers nicht nur auf die einzubehaltende und abzuführende Lohnsteuer, sondern auch auf den verkürzten Einkommensteuerbetrag in vollem Umfange einschließlich der durch die jeweilige Progressionsstufe des Arbeitnehmers bewirkten Mehrbeträge erstrecke. Diese Auffassung sei deshalb unzutreffend, weil für die rein progressionsbedingte Einkommensverkürzung die pflichtwidrige Verhaltensweise des Arbeitgebers nicht kausal gewesen sei. Hätte der Arbeitgeber seine Pflichten nach § 39b EStG erfüllt, so wären lediglich entsprechend den Angaben in der Lohnsteuerkarte die Lohnsteuerabzugsbeträge einbehalten und abgeführt worden, nicht dagegen der Progressionsspitzenbetrag, der sich durch das höhere Gesamteinkommen der Eheleute ergeben habe. Hieraus folge, daß mangels eines Gesamtschuldverhältnisses kein Ermessensspielraum für das FA gegeben gewesen sei.
Der Kläger ist nicht vertreten.
Entscheidungsgründe
Die Revision des FA führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Zurückverweisung der Sache an das FG.
1. Das FG ist zu Unrecht davon ausgegangen, daß das FA vor Erlaß der Einkommensteueränderungsbescheide Ermessenserwägungen darüber hätte anstellen müssen, ob eine Inanspruchnahme des Klägers als Schuldner der festgesetzten Steuer (§ 38 Abs.2 Satz 1 EStG) geboten war. Steuern werden, soweit nichts anderes vorgeschrieben ist, von der Finanzbehörde durch Steuerbescheid festgesetzt (§ 155 Abs.1 Satz 1 AO 1977). Steuerbescheide sind gemäß § 173 AO 1977 aufzuheben oder zu ändern, falls die Voraussetzungen dieser Vorschrift gegeben sind. Hieraus folgt, daß sowohl die erstmalige Einkommensteuerfestsetzung als auch der Erlaß eines Einkommensteueränderungsbescheides --auch eines Arbeitnehmers-- nicht im Ermessen des FA stehen (Tipke/Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, 11.Aufl., § 155 AO 1977 Tz.2, § 173 AO 1977 Tz.41; Kühn/Kutter/Hofmann, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, 14.Aufl., § 173 AO 1977 Bem.9). Im Streitfall lagen die Voraussetzungen des § 46 EStG für eine Veranlagung vor. Das FA war daher, nachdem es die Voraussetzungen des § 173 AO 1977 für gegeben erachtete, zum Erlaß der Einkommensteueränderungsbescheide 1975 und 1976 verpflichtet.
Daran änderte nichts der Umstand, daß neben dem Kläger als dem Steuerschuldner auch dessen Arbeitgeber als Haftungsschuldner durch Haftungsbescheid in Anspruch genommen worden ist (Tipke/Kruse, a.a.O., § 191 AO 1977 Tz.6). Die von der Rechtsprechung zur Inanspruchnahme des Arbeitgebers entwickelten Ermessenskriterien sind auf die Inanspruchnahme des Arbeitnehmers durch Einkommensteuerbescheid nicht anwendbar (ebenso FG Köln, Urteil vom 8.Februar 1984 VIII 164/81 L, EFG 1984, 506; Herrmann in Frotscher, Einkommensteuergesetz, Kommentar, § 42d Anm.61; Schmidt/Drenseck, Einkommensteuergesetz, Kommentar, 4.Aufl., § 42d Anm.5a; anderer Ansicht Herrmann/Heuer/Raupach, Einkommensteuer- und Körperschaftsteuergesetz mit Nebengesetzen, Kommentar, 19.Aufl., § 42d EStG 1975, Erläuterungen zu Abs.3, Grüne Blätter S.4; Hartz/Meeßen/Wolf, ABC- Führer Lohnsteuer, Stichwort "Haftung für Lohnsteuer" B IV 3 b).
Zu Unrecht hat sich das FG für seine Auffassung auf § 42d Abs.3 EStG berufen. Nach Satz 2 dieser Vorschrift kann das Betriebsstätten-FA die Steuerschuld oder die Haftungsschuld nach pflichtgemäßem Ermessen gegenüber jedem der Gesamtschuldner geltend machen. Im Streitfall hat jedoch nicht etwa das Betriebsstätten-FA (§ 41a Abs.1 EStG) vom Kläger durch Lohnsteuernachforderungsbescheid zu Unrecht nicht einbehaltene Lohnsteuerbeträge nachgefordert, sondern das für die Veranlagung des Klägers zuständige Wohnsitz-FA hat durch Einkommensteueränderungsbescheide bisher im Lohnsteuerabzugsverfahren nicht berücksichtigte Lohnteile in die Veranlagung einbezogen. § 42d Abs.3 Satz 2 EStG ist daher nicht einschlägig.
Die Auffassung des FG wird auch nicht durch die Formulierung des § 42d Abs.3 Satz 4 EStG gestützt: "Der Arbeitnehmer kann im Rahmen der Gesamtschuldnerschaft nur in Anspruch genommen werden ...". Die Fassung des Gesetzes ist irreführend. Durch sie wird der Eindruck erweckt, die Inanspruchnahme des Arbeitnehmers sei der Ausnahmefall, der hinter der Arbeitgeberhaftung zurücktrete (Oeftering/Görbing, Das gesamte Lohnsteuerrecht, § 42d EStG Rdnr.39; Herrmann, a.a.O., § 42d Anm.60). Durch diese Formulierung wird indessen weder der Grundsatz des § 38 Abs.2 Satz 1 EStG eingeschränkt, demzufolge der Arbeitnehmer der Schuldner der Steuer ist, noch ergibt sich hieraus, daß das Wohnsitz-FA im Rahmen des Steuerfestsetzungsverfahrens Ermessenserwägungen bezüglich der Inanspruchnahme des Arbeitnehmers anstellen muß. Selbst wenn dem Arbeitnehmer unbekannt ist, daß die von seinem Lohn einbehaltene Lohnsteuer vom Arbeitgeber nicht vorschriftsmäßig angemeldet und abgeführt worden ist und daher der Arbeitnehmer für die Lohnsteuer nicht in Anspruch genommen werden kann (Umkehrschluß aus § 42d Abs.3 Satz 4 Nr.2 EStG), steht dies einer Steuerfestsetzung auch unter Einbeziehung der Lohnteile, auf die die vom Arbeitgeber nicht abgeführte Lohnsteuer entfällt, nicht entgegen. Erst bei der der Steuerfestsetzung nachfolgenden Verwirklichung des Steueranspruchs (§§ 218 ff. AO 1977) stellt sich die Frage, in welcher Höhe der Arbeitnehmer im Hinblick auf seine Unkenntnis von der nicht vorschriftsmäßigen Anmeldung der Lohnsteuerbeträge nicht in Anspruch genommen werden darf. Das gleiche gilt, wenn der Arbeitgeber im Rahmen eines Haftungsverfahrens nicht einbehaltene Lohnsteuerbeträge gezahlt hat. Auch diese Zahlung steht nicht etwa der Einbeziehung der betreffenden Lohnbestandteile in ein Steuerfestsetzungsverfahren des Arbeitnehmers entgegen. Vielmehr ist im Erhebungsverfahren (§ 218 ff. AO 1977) zu berücksichtigen, welche Beträge der Arbeitgeber als Haftungsschuldner bereits auf die Steuerschuld des Arbeitnehmers gezahlt hat.
Da das FG die angegriffenen Einkommensteueränderungsbescheide zu Unrecht unter Hinweis auf eine Nichtausübung des Ermessens aufgehoben hat, war die Vorentscheidung aufzuheben.
2. Die Sache ist nicht spruchreif. Das FG wird nochmals darüber entscheiden müssen, ob und ggf. wann in der Umwandlung der Tantiemeansprüche des Klägers in Darlehensansprüche ein Zufluß von Arbeitslohn zu sehen ist.
Fundstellen
Haufe-Index 61069 |
BStBl II 1985, 660 |
BFHE 144, 217 |
BFHE 1986, 217 |
BB 1985, 2154-2155 (ST) |
DB 1985, 2386 |
DStR 1986, 53-53 (ST) |
HFR 1986, 14-15 (ST) |