Zurückweisung der Berufung vor Eingang der Berufungsbegründung

Hält ein Gericht eine Berufung für offensichtlich aussichtslos, so darf es diese nach entsprechendem Hinweis ohne mündliche Verhandlung zurückweisen. Vor Eingang der Berufungsbegründung ist schon der Hinweis auf diese Absicht unzulässig.

Dies urteilte der BGH in einer aktuellen Entscheidung, bei der ein besonders schnelles OLG den Berufungskläger schon vor Eingang der Berufungsbegründung auf seine Absicht hingewiesen hatte, die eingelegte Berufung gegen das erstinstanzliche Urteil als offensichtlich unbegründet zurückzuweisen.

Rechtsstreit über Kündigung einer gemieteten Gewerbefläche

Gegenstand des entschiedenen Rechtsstreits war das Kündigungsrecht des Eigentümers eines Gewerbegrundstücks gegenüber der Mieterin. Hintergrund war eine erbrechtliche Auseinandersetzung. Der Eigentümer hatte das Grundstückseigentum im Wege der vorweggenommenen Erbfolge erlangt. Die Mieterin war seine Schwester und hatte die Gewerbefläche von ihrem Vater als Nießbrauchberechtigtem des Grundstücks gemietet. Nach dem Tod des Nießbrauchberechtigten erklärte der Eigentümer seiner Schwester gegenüber die Kündigung des Mietverhältnisses.

Berufung als offensichtlich unbegründet zurückgewiesen

Das LG hat der Räumungsklage des Bruders stattgegeben. Gegen das noch nicht mit Gründen versehene Urteil hat die Beklagte 2 Tage nach der Verkündung Berufung eingelegt und einen Vollstreckungsschutzantrag auf einstweilige Einstellung der Zwangsvollstreckung aus dem Urteil gestellt. Das OLG hat den Einstellungsantrag abgelehnt und einen Hinweisbeschluss erlassen, wonach es beabsichtige, die eingelegte Berufung ohne mündliche Verhandlung als offensichtlich aussichtslos zurückzuweisen. Daraufhin hat die Beklagte die Berufung fristgerecht begründet, worauf das Berufungsgericht entsprechend dem zuvor gegebenen Hinweis die Berufung als offensichtlich unbegründet zurückgewiesen hat.

Unverzügliche Zurückweisung der Berufung in gesetzlich vorgesehenen Fällen

Der Hinweis des OLG auf die beabsichtigte Zurückweisung der Berufung beruht auf § 522 Abs. 2 ZPO. Danach „soll“ das Berufungsgericht die Berufung durch Beschluss unverzüglich zurückweisen, wenn

  • das Gericht einstimmig zu dem Ergebnis kommt, dass die Berufung offensichtlich keine Aussicht auf Erfolg hat,
  • der Rechtsstreit keine grundsätzliche oder für die Fortbildung des Rechts wesentliche Bedeutung hat und
  • eine mündliche Verhandlung nicht geboten ist.
  • Gemäß § 522 Abs. 2 Satz 2 ZPO ist das Gericht verpflichtet, die Parteien auf die beabsichtigte Zurückweisung und die Gründe hierfür hinzuweisen und den Parteien Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben.

Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör

Die gegen die Zurückweisung der Berufung und die Nichtzulassung der Revision eingelegte Nichtzulassungsbeschwerde der Beklagten hatte beim BGH Erfolg. Nach Auffassung des BGH hatte das Berufungsgericht mit seiner Vorgehensweise, die Beklagte bereits vor Eingang der Berufungsbegründungsschrift auf die beabsichtigte Zurückweisung der Berufung als offensichtlich aussichtslos hinzuweisen, den Anspruch der Beklagten auf Gewährung rechtlichen Gehörs gem. Art. 103 Abs. 1 GG verletzt.

Hinweis auf Zurückweisung der Berufung vor Berufungsbegründung unzulässig

Obwohl § 522 Abs. 2 ZPO keine Regelung dazu enthält, zu welchem Zeitpunkt der Hinweis auf die beabsichtigte Zurückweisung der Berufung zu erfolgen hat, ist es nach der Entscheidung des BGH geradezu „evident“, dass das Berufungsgericht seinen Hinweis auf eine beabsichtigte Zurückweisung der Berufung als offensichtlich unbegründet erst geben darf, wenn es die Berufungsgründe und etwaige neue Angriffs und Verteidigungsmittel kennt. Vorher sei dem Gericht keine Beurteilung möglich, ob für das Rechtsmittel Gründe vorgetragen werden, die der Berufung zum Erfolg verhelfen können.

Zweiter Hinweis auf Zurückweisungsabsicht wäre erforderlich gewesen

Der BGH stellte klar, dass gem. § 522 Abs. 2 ZPO eine Berufung nicht ohne mündliche Verhandlung zurückgewiesen werden darf, wenn zuvor kein rechtsgültiger Hinweis auf die beabsichtigte Zurückweisung erfolgt ist. Da der Hinweis auf die Zurückweisungsabsicht vor Eingang der Berufungsbegründungsschrift erfolgt war, entsprach der Hinweis nicht den Anforderungen des § 522 ZPO. Die Berufung hätte daher nach Auffassung des BGH ohne nochmaligen Hinweis auf die Zurückweisungsabsicht nach Kenntnisnahme der Berufungsgründe nicht zurückgewiesen werden dürfen (BGH, Beschluss v. 28.9.2021, VI ZR 946/20).

Gehörsverstoß war entscheidungserheblich

Der Gehörsverstoß war nach der Bewertung des BGH auch geeignet, die getroffene Entscheidung des Gerichts zu beeinflussen. Im anhängigen Fall beruhte diese Entscheidungserheblichkeit der Rechtsverletzung darauf, dass die in der Nichtzulassungsbeschwerdebegründung enthaltenen Ausführungen zur Auslegung des Vertrages zur Übertragung des Grundstücks im Wege der vorweggenommenen Erbfolge auf den Kläger und den damit verbundenen Beweisangeboten nicht als von vornherein abwegig erscheinen. Das Gericht hätte sich deshalb mit diesem Vorbringen zumindest argumentativ auseinanderzusetzen müssen. Damit sei zumindest die Möglichkeit einer von der bisherigen Entscheidung abweichenden Beurteilung nicht auszuschließen. Dies reiche für die Entscheidungserheblichkeit der Verletzung des rechtlichen Gehörs aus.

OLG muss erneut entscheiden

Mit dieser Argumentation gab der BGH der Nichtzulassungsbeschwerde der Beklagten statt, ließ die Revision gegen den Zurückweisungsbeschluss des OLG zu und hob das Berufungsurteil auf. Die Sache wurde zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückverwiesen.

(BGH, Urteil v. 12.6.2024, XII ZR 92/22)



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