Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialgerichtliches Verfahren. Revisionszulassung. Verfahrensmangel. Zustimmung der Beteiligten zu einer Entscheidung des Berufungsgericht durch Urteil ohne mündliche Verhandlung. Auslegung der Prozesserklärungen
Orientierungssatz
Hat das LSG im Rahmen eines Berufungsverfahrens bei den Beteiligten angefragt, ob sie mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden sind, so ist es unter Berücksichtigung der Vorgaben, dass Prozesserklärungen im Hinblick auf das wirklich Gewollte auszulegen sind und im zweitinstanzlichen Verfahren eine Entscheidung durch Gerichtsbescheid ausgeschlossen ist, naheliegend, dass es sich bei dem von einem Beteiligten erklärten Einverständnis mit einer Entscheidung durch Gerichtsbescheid um ein Versehen handelt und das Einverständnis mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung erklärt werden sollte.
Normenkette
SGG § 160 Abs. 2 Nr. 3, § 124 Abs. 2, § 153 Abs. 1, § 105 Abs. 1
Verfahrensgang
Tenor
Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 24. April 2020 wird als unzulässig verworfen.
Außergerichtliche Kosten des Beschwerdeverfahrens sind nicht zu erstatten.
Gründe
Die Nichtzulassungsbeschwerde ist unzulässig, weil weder der geltend gemachte Zulassungsgrund der Divergenz (§ 160 Abs 2 Nr 2 SGG) noch ein Verfahrensmangel (§ 160 Abs 2 Nr 3 SGG) in der erforderlichen Weise bezeichnet worden ist (§ 160a Abs 2 Satz 3 SGG). Die Beschwerde ist daher ohne Zuziehung ehrenamtlicher Richter zu verwerfen (§ 160a Abs 4 Satz 1 Halbsatz 2 SGG, § 169 SGG).
1. Eine Abweichung (Divergenz) iS von § 160 Abs 2 Nr 2 SGG ist nur dann hinreichend dargelegt, wenn aufgezeigt wird, mit welcher genau bestimmten entscheidungserheblichen rechtlichen Aussage die angegriffene Entscheidung des LSG von welcher ebenfalls genau bezeichneten rechtlichen Aussage des BSG, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes (GmSOGB) oder des BVerfG abweicht. Eine Abweichung liegt nicht schon vor, wenn die angefochtene Entscheidung nicht den Kriterien entsprechen sollte, die das BSG, der GmSOGB oder das BVerfG aufgestellt haben, weil die Unrichtigkeit einer Entscheidung im Einzelfall nicht die Zulassung einer Revision wegen Abweichung rechtfertigt. Erforderlich ist vielmehr, dass das LSG diesen Kriterien widersprochen und über den Einzelfall hinausgehende andere rechtliche Maßstäbe entwickelt hat. Nicht die - behauptete - Unrichtigkeit der Entscheidung im Einzelfall, sondern die fehlende Übereinstimmung im Grundsätzlichen kann die Zulassung wegen Abweichung begründen (stRspr; vgl etwa BSG vom 25.9.2002 - B 7 AL 142/02 B - SozR 3-1500 § 160a Nr 34; Voelzke in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGG, 2017, § 160 RdNr 119).
Diese Anforderungen sind nicht erfüllt. Der Kläger benennt weder ausdrücklich einen Rechtssatz des BSG noch einen solchen des LSG. Allenfalls der Sache nach macht der Kläger geltend, das BSG habe im Urteil vom 13.2.2014 (B 4 AS 22/13 R - BSGE 115, 126 = SozR 4-1300 § 44 Nr 28) den Rechtssatz aufgestellt, dass die Verwaltung auch bei einem Antrag nach § 44 SGB X den Untersuchungsgrundsatz des § 20 SGB X beachten müsse. Er stellt dem aber jedenfalls keinen Rechtssatz des LSG gegenüber, sondern bringt lediglich vor, dass das LSG in unzureichender Weise berücksichtigt habe, dass der Untersuchungsgrundsatz auch im Verfahren nach § 44 SGB X Anwendung finde. Damit wird aber nur die Unrichtigkeit der Entscheidung im Einzelfall gerügt. Die schlüssige Behauptung einer Divergenz kann im Übrigen auch deswegen nicht gelingen, weil der Kläger selbst vorbringt, dass der vorliegende Sachverhalt ein völlig anderer gewesen sei als im Verfahren B 4 AS 22/13 R und die Abweichung durch das LSG darauf beruhe, die nicht vergleichbaren Fallkonstellationen identisch behandelt zu haben.
2. Nach § 160 Abs 2 Nr 3 SGG ist die Revision zuzulassen, wenn ein Verfahrensmangel geltend gemacht wird, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen kann; der geltend gemachte Verfahrensmangel kann nicht auf eine Verletzung der §§ 109 (Anhörung eines bestimmten Arztes) und 128 Abs 1 Satz 1 SGG (freie richterliche Beweiswürdigung) und auf eine Verletzung des § 103 SGG (Aufklärung des Sachverhalts von Amts wegen) nur gestützt werden, wenn er sich auf einen Beweisantrag bezieht, dem das LSG ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt ist. Wer eine Nichtzulassungsbeschwerde auf diesen Zulassungsgrund stützt, muss zu seiner Bezeichnung (§ 160a Abs 2 Satz 3 SGG) die diesen Verfahrensmangel des LSG (vermeintlich) begründenden Tatsachen substantiiert dartun, also die Umstände schlüssig darlegen, die den entscheidungserheblichen Mangel ergeben sollen (stRspr; siehe bereits BSG vom 29.9.1975 - 8 BU 64/75 - SozR 1500 § 160a Nr 14; Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 13. Aufl 2020, § 160a RdNr 16 mwN).
a) Der Kläger macht zum einen geltend, dass fraglich sei, ob der zuständige Berichterstatter entschieden habe. Der Beschluss über das Ruhen des Verfahrens vom 17.7.2019 sei vom Richter am LSG R. gefasst worden, während das hier streitige Urteil nach Wiederanrufung des Verfahrens vom Richter am LSG H. erlassen worden sei. Wäre der Richter am LSG H. zum Berichterstatter bestellt gewesen, hätte er auch den Ruhensbeschluss fassen müssen, zumal er bereits zum Zeitpunkt des Ruhensbeschlusses Mitglied des Senats gewesen sei, bei dem das Verfahren anhängig gewesen sei.
Ein Verfahrensmangel ist damit nicht hinreichend bezeichnet. Die Zuständigkeiten des Berichterstatters nach § 155 Abs 4 SGG sind funktionsbezogen, nicht personenbezogen. Dies gilt auch für die Zuständigkeit als konsentierter Einzelrichter nach § 155 Abs 3 SGG (BSG vom 26.10.2016 - B 11 AL 45/16 B - juris RdNr 6 f). Ist der zum Berichterstatter bestellte Berufsrichter etwa wegen Erkrankung oder Urlaub außer Dienst, tritt an seine Stelle der nach dem jeweiligen Geschäftsverteilungsplan berufene Vertreter. Der sinngemäß geltend gemachte Verfahrensmangel der Verletzung des Anspruchs auf den gesetzlichen Richter kann deshalb regelmäßig nicht allein durch den Vortrag schlüssig behauptet werden, dass während eines Rechtsstreites unterschiedliche Personen die Aufgaben des Berichterstatters tatsächlich wahrgenommen haben.
b) Der Kläger macht zum anderen geltend, dass die Voraussetzungen für eine Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung nach § 124 Abs 2 SGG nicht vorgelegen hätten. Das LSG habe mit Verfügung vom 16.4.2020 bei den Beteiligten unter anderem angefragt, ob mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung gemäß § 124 Abs 2 SGG Einverständnis bestehe. Während er dem ausdrücklich zugestimmt habe, habe der Beklagte hingegen mitgeteilt, dass er mit einer Entscheidung durch Gerichtsbescheid einverstanden sei. Damit liege keine wirksame Zustimmung zu einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung vor.
Auch insofern hat der Kläger einen Verfahrensmangel nicht hinreichend bezeichnet. Bei der Auslegung von Prozesserklärungen ist das wirklich Gewollte, das in der Äußerung erkennbar ist, zu ermitteln (BSG vom 15.6.2016 - B 4 AS 651/15 B - juris RdNr 7; BSG vom 23.2.2017 - B 11 AL 2/16 R - juris RdNr 15). Dabei ist nicht am Wortlaut zu haften, sondern der wirkliche Wille des Erklärenden zu erforschen (BSG vom 15.6.2016 - B 4 AS 651/15 B - juris RdNr 7 mwN; BSG vom 23.2.2017 - B 11 AL 2/16 R - juris RdNr 15 mwN). Auch die Begleitumstände einer Erklärung sind von Bedeutung (vgl BSG vom 25.6.2002 - B 11 AL 23/02 R - juris RdNr 21; BSG vom 23.2.2017 - B 11 AL 2/16 R - juris RdNr 15). Zwar kann im erstinstanzlichen Verfahren regelmäßig in der Erklärung, mit einer Entscheidung durch Gerichtsbescheid (§ 105 Abs 1 SGG) einverstanden zu sein, nicht (zugleich) ein Einverständnis mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung (§ 124 Abs 2 SGG) gesehen werden (aA offenbar Bolay in Lüdtke/Berchtold, SGG, 5. Aufl 2017, § 124 RdNr 11, der sich insofern - bezogen auf das erstinstanzliche Verfahren - zu Unrecht auf BSG vom 16.2.2007 - B 6 KA 60/06 B - juris RdNr 10 beruft), denn dem erstinstanzlich entscheidenden Gericht stehen grundsätzlich beide Möglichkeiten offen und beide Entscheidungsformen können unterschiedliche Rechtsmittel eröffnen und sich auch im Berufungsverfahren noch auswirken (vgl § 153 Abs 4 und 5 SGG). Anders verhält es sich aber im zweitinstanzlichen Verfahren, in dem eine Entscheidung durch Gerichtsbescheid ausgeschlossen ist (§ 153 Abs 1 SGG; vgl dazu Burkiczak in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGG, 2017, § 105 RdNr 17 ff). Jedenfalls dann, wenn - wie hier - das LSG im Rahmen eines Berufungsverfahrens ausdrücklich bei den Beteiligten anfragt, ob sie mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden sind, liegt die Deutung, dass es sich bei der anschließenden Erklärung eines Beteiligten, mit einer Entscheidung durch Gerichtsbescheid einverstanden zu sein, um ein Versehen handelt und das Einverständnis mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung erklärt werden sollte, nahe, da diese Erklärung anderenfalls keinen Sinn ergeben würde. Entsprechend wurde auch in der Rechtsprechung des BSG sogar die Bitte eines nicht vertretenen Beteiligten in zweiter Instanz um ein "schriftliches Verfahren" bzw um einen "schriftlichen Gerichtsbescheid ohne mündliche Verhandlung" als wirksames Einverständnis mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung angesehen (BSG vom 16.2.2007 - B 6 KA 60/06 B - juris RdNr 10). Der Kläger hätte daher weitere Gesichtspunkte vortragen müssen, aus denen sich im konkreten Fall ergeben könnte, dass der Beklagte kein Einverständnis mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung erklären wollte.
Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 193 Abs 1 Satz 1, Abs 4 SGG.
Fundstellen
Dokument-Index HI14206870 |