Entscheidungsstichwort (Thema)
Krankenversicherung. KVdR-Versicherter mit Wohnort in einem anderen Mitgliedstaat ≪hier Frankreich≫. Bezieher einer deutschen Rente. vorübergehender Deutschlandaufenthalt. Anwendung deutschen Rechts
Leitsatz (amtlich)
Pflichtversicherter in der Krankenversicherung der Rentner bleibt, wer als Bezieher ausschließlich deutscher Rente in einen anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union (hier: Frankreich) verzieht. Sein Anspruch auf Krankenversicherungsleistungen bei vorübergehendem Deutschlandaufenthalt richtet sich nach deutschem Recht (Fortführung von BSG vom 16.6.1999 – B 1 KR 5/98 R = BSGE 84, 98 = SozR 3-2400 § 3 Nr 6; Abgrenzung zu EUGH vom 3.7.2003 – C-156/01 = EuGHE I 2003, 7045 = SozR 4-6050 Art 22 Nr 1).
Normenkette
RVO § 165 Abs. 1 Nr. 3; SGB IV § 3 Nr. 2, § 6; SGB V § 5 Abs. 1 Nr. 11, § 13 Abs. 4 S. 1 Hs. 2, § 15 Abs. 2, 6 S. 1, § 255 Abs. 1, § 291 Abs. 1 S. 3; EWGV 1408/71 Art. 22 Abs. 1, Art. 28 Abs. 1 S. 1, Art. 29, 31, 33, 36 Abs. 3; EWGV 574/72 Art. 29, 95; EGV 883/2004 Art. 18 Abs. 1, Art. 24 Abs. 1-2, Art. 27 Abs. 1-2, Art. 91 S. 2
Verfahrensgang
Tenor
Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 8. Januar 2004 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat dem Kläger auch die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.
Tatbestand
I
Die Beteiligten streiten über die Ausstellung einer Krankenversicherungskarte.
Der Kläger bezieht seit 1988 eine Rente aus der deutschen Rentenversicherung. Deshalb war er Mitglied in der Krankenversicherung der Rentner (KVdR). 1997 verzog er nach Frankreich. Dort ist er beim französischen Krankenversicherungsträger, der Caisse Primaire d'Assurance Maladie (CPAM), eingeschrieben. Die beklagte Krankenkasse nimmt die Aufgaben einer Verbindungsstelle wahr.
Den Antrag des Klägers, ihm zum Zwecke der unmittelbaren Inanspruchnahme von Sachleistungen der deutschen Krankenversicherung bei seinen Aufenthalten in Deutschland eine neue Krankenversicherungskarte auszustellen, da seine alte Karte nicht mehr gelte, lehnte die Beklagte ab: Die CPAM habe die Sachleistungen zu erbringen (Bescheid vom 6. August 2001; Widerspruchsbescheid vom 27. November 2001).
Das Sozialgericht hat die Beklagte unter Aufhebung ihrer Bescheide verurteilt, dem Kläger eine Krankenversicherungskarte zur Verfügung zu stellen (Urteil vom 26. Juli 2002). Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung der Beklagten zurückgewiesen. Zur Begründung hat es ua ausgeführt, die Voraussetzungen der § 291 Abs 1 Satz 1, § 15 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V) seien erfüllt. Insbesondere sei der Kläger trotz seines Wohnsitzes in Frankreich “Versicherter” iS der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts ≪BSG≫ (Urteile vom 24. September 1996, 1 RK 26/95, SozR 3-2500 § 30 Nr 8 und vom 16. Juni 1999, B 1 KR 5/98 R, BSGE 84, 98 = SozR 3-2400 § 3 Nr 6). Dem stehe die neuere Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs ≪EuGH≫ (Urteil vom 3. Juli 2003, Rs C-156/01, EuGHE 2003 I-7045 = SozR 4-6050 Art 22 Nr 1 – van der Duin/van Wegberg-van Brederode) nicht entgegen (Urteil vom 8. Januar 2004).
Mit ihrer Revision rügt die Beklagte die Verletzung der §§ 15, 30 und 291 SGB V, des § 3 Nr 2 Viertes Buch Sozialgesetzbuch ≪SGB IV≫ und der Art 22, 28 und 31 der EWG-Verordnung (EWGV) 1408/71. Der Kläger habe durch seinen Umzug nach Frankreich das Recht verloren, jederzeit in Deutschland Sachleistungen nach dem SGB V von ihr zu beanspruchen, ohne an die Vorgaben des Gemeinschaftsrechts gebunden zu sein. Das folge aus dem Territorialitätsprinzip gemäß § 3 Nr 2 SGB IV und § 30 Abs 1 Erstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB I). Da sich das krankenversicherungsrechtliche Versicherungsverhältnis nach europäischem Gemeinschaftsrecht richte, müsse denknotwendig auch das darauf bezogene Leistungsrecht nach Gemeinschaftsrecht abgewickelt werden. Sie (die Beklagte) dürfe nicht doppelt belastet werden. Sie zahle bereits der CPAM für alle Sachleistungen Pauschalbeträge. Dies schließe zusätzliche Sachleistungsansprüche in Deutschland unmittelbar zu ihren Lasten aus. Die vom LSG zitierte Rechtsprechung des BSG habe sich nur mit Fällen befasst, in denen das Recht des Wohnsitzlandes anders als das deutsche Recht keine Krankenversicherungsleistungen für Zahnersatz vorsehe. Die BSG-Rechtsprechung sei nur insoweit mit der Judikatur des EuGH vereinbar, als es um solche zusätzlichen Leistungen gehe.
Die Beklagte beantragt,
die Urteile des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 8. Januar 2004 und des Sozialgerichts Düsseldorf vom 26. Juli 2002 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger hat sich am Revisionsverfahren nicht beteiligt.
Entscheidungsgründe
II
Der Senat entscheidet im Einvernehmen mit den Beteiligten ohne mündliche Verhandlung (§ 124 Abs 2 Sozialgerichtsgesetz ≪SGG≫). Das dazu erklärte Einverständnis des unvertretenen Klägers ist wirksam (vgl BSG SozR Nr 5 zu § 124 SGG).
Die zulässige Revision der Beklagten ist unbegründet. Der Kläger kann gemäß § 15 Abs 6 Satz 1 SGB V von der Beklagten verlangen, eine Krankenversicherungskarte zu erhalten.
1. Nach § 15 Abs 6 Satz 1 SGB V erhält jeder Versicherte die Krankenversicherungskarte bei der erstmaligen Ausgabe und bei Beginn der Versicherung bei einer Krankenkasse sowie bei jeder weiteren, nicht vom Versicherten verschuldeten erneuten Ausgabe gebührenfrei. Die Regelung begründet einen Anspruch auf eine Krankenversicherungskarte (vgl Höfler in: Kasseler Kommentar, Stand März 2005, § 15 SGB V RdNr 17; Mengert in: Peters, Handbuch der Krankenversicherung, Bd 1, Stand August 2004, § 15 SGB V RdNr 70). Die Karte dient nach § 15 Abs 2 und § 291 Abs 1 Satz 3 SGB V dazu, die Berechtigung zur Inanspruchnahme von ärztlichen und zahnärztlichen Leistungen im Rahmen der vertrags(zahn)ärztlichen Versorgung nachzuweisen (vgl BSG SozR 4-2500 § 112 Nr 2 RdNr 16 ff; BSG SozR 3-2500 § 19 Nr 2 S 6 f). § 15 Abs 6 Satz 1 SGB V gibt damit demjenigen einen Anspruch darauf, gebührenfrei eine Krankenversicherungskarte zu erhalten, der unverschuldet keine solche Karte hat und als “Versicherter” unmittelbar ärztliche und zahnärztliche Leistungen als Sachleistung beanspruchen kann. Der Kläger erfüllt diese Voraussetzungen. Er besitzt keine Krankenversicherungskarte, ohne dies zu vertreten zu haben, und ist Versicherter in diesem Sinne.
a) Versicherter iS der leistungsgewährenden Bestimmungen des SGB V ist, wer zumindest in einem dem Mitgliedschaftsverhältnis im deutschen Krankenversicherungsrecht vergleichbaren Versicherungsverhältnis zum zuständigen deutschen Krankenversicherungsträger steht und deshalb nach deutschem Recht Leistungsansprüche hat. Nach der Rechtsprechung des Senats verliert ein Pflichtversicherter in der KVdR, der ausschließlich Rente aus der deutschen Rentenversicherung bezieht, seinen Status als Versicherter nicht dadurch, dass er seinen Wohnsitz in einen anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union (EU) verlegt. Werden Krankenversicherungsleistungen während eines vorübergehenden Deutschlandaufenthalts erforderlich, richtet sich deren geschuldeter Umfang nach deutschem Recht (vgl BSG, Urteil vom 16. Juni 1999, B 1 KR 5/98 R, BSGE 84, 98, 99 und LS = SozR 3-2400 § 3 Nr 6). Der Senat hat dies aus den Regelungen des SGB im Zusammenwirken mit den Vorschriften des europäischen Gemeinschaftsrechts abgeleitet, insbesondere denjenigen der Art 22, 28, 29, 31, 33, 36 EWGV 1408/71 (ABl L 149/2 vom 5.7.1971, zuletzt geändert durch die Verordnung (EG) ≪EGV≫ 647/2005 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. April 2005, ABl L 117/1) und des Art 95 EWGV 574/72 (ABl L 74/1 vom 27.3.1972, zuletzt geändert durch EGV 647/2005, aaO). An dieser Rechtsprechung hält der Senat trotz der Einwände der Revision fest.
b) Ein Versicherungsverhältnis nach deutschem Recht als Grundlage für die Leistungspflicht der Krankenkasse wird entweder durch Gesetz als Pflichtversicherung oder auf Grund eines Antrags als freiwillige Versicherung begründet; nach den für den Kläger einschlägigen § 165 Abs 1 Nr 3 Reichsversicherungsordnung (RVO), Art 56 Abs 3 Gesundheits-Reformgesetz (GRG), § 5 Abs 1 Nr 11 SGB V (zur Rechtsentwicklung vgl BSGE 78, 297, 299 ff = BSG SozR 3-2500 § 5 Nr 29; BVerfGE 102, 68 = SozR 3-2500 § 5 Nr 42; BSG SozR 4-2500 § 5 Nr 3) und § 3 Nr 2 SGB IV hängt die Versicherungspflicht vom Bezug einer Rente, von der Belegung einer Vorversicherungszeit und von einem Wohnsitz im Inland ab. Die Erfüllung dieser Voraussetzungen schafft eine besondere Beziehung zu einer bestimmten Krankenkasse, indem der Rentner deren “Mitglied” wird (§ 173 SGB V). Die Mitgliedschaft bildet ihrerseits die Grundlage für gegenseitige Rechte und Pflichten: tägliche Beitragspflicht nach § 223 Abs 1 SGB V und Leistungsanspruch im Krankheitsfall für das Mitglied und seine Familienangehörigen (Gegenschluss aus § 19 Abs 1 SGB V; zur Familienversicherung § 10 SGB V; vgl Senat, BSGE 84, 98, 99 f = SozR aaO).
Der Kläger hatte durch den Bezug der Rente, die Belegung der Vorversicherungszeit und seinen Wohnsitz im Inland ab 1988 ein Versicherungsverhältnis im Rahmen der KVdR begründet. Die Verlegung seines Wohnsitzes nach Frankreich hat daran nichts geändert. Zwar bewirkt allein aus der Sicht des deutschen Rechts die Aufgabe des Wohnsitzes im Inland, dass die Mitgliedschaft in der KVdR endet (vgl § 3 Nr 2 SGB IV; Senat, BSGE 84, 98, 100 = SozR aaO; zum Vorrang der Regelung vor § 30 SGB I vgl § 37 SGB I). Der durch die Vorschriften des europäischen Gemeinschaftsrechts begründete Versicherungsschutz erfüllt indessen die wesentlichen Merkmale eines Versicherungsverhältnisses iS des deutschen Rechts (vgl Senat, BSGE 84, 98, 101 = SozR aaO). Dies gilt sowohl aus der Sicht des Berechtigten, der auf Grund der Bestimmungen der EWGV 1408/71 in allen Mitgliedstaaten der EU Krankenversicherungsschutz genießt und von dessen Rente (und anderen deutschen Versorgungsbezügen) Beiträge einbehalten werden, als auch mit Blick auf die Beziehung des Klägers zu der Beklagten als dem in Deutschland zuständigen Versicherungsträger. Für ein Versicherungsverhältnis zur deutschen zuständigen Krankenkasse liegt – wie der Senat bereits früher angeführt hat (vgl BSGE 84, 98, 102 ff = SozR aaO) – die Wurzel des Versicherungsschutzes unter Würdigung von Art 28 Abs 1 EWGV 1408/71 im deutschen Recht. Dem Kläger wird nach dem Gemeinschaftsrecht ausdrücklich nur deshalb Versicherungsschutz gewährleistet, weil er Anspruch auf Leistungen hätte, wenn er in Deutschland wohnte (vgl Art 28 Abs 1 Satz 1 EWGV 1408/71 – Wohnsitzfiktion). Zudem trifft das finanzielle Risiko des Versicherungsverhältnisses mit dem Kläger im Wesentlichen die Beklagte sowohl für Geld- als auch für Sachleistungen. Da die Beklagte für die Ausgaben aufkommen muss, dürfen ihr auch Krankenversicherungsbeiträge zugewiesen werden (vgl Art 33 EWGV 1408/71). Auch wenn ein Junktim zwischen Kostenlast und Beiträgen iS der deutschen Konzeption eines Versicherungsverhältnisses gemeinschaftsrechtlich in dieser Vorschrift nicht begründet wird, wird darin aber unterstellt, dass es nationale Rechtsordnungen gibt, die ein solches Junktim kennen. Bedenken gegen das Auslegungsergebnis sind dem Gemeinschaftsrecht nicht zu entnehmen. Das in Art 33 EWGV 1408/71 unterstellte Junktim zwischen Versicherungslast und Beitragsrecht kann sich nur dann in allen Mitgliedstaaten praktisch durchsetzen, wenn es durch Verlegungen des Wohnsitzes innerhalb der EU nicht berührt wird. Bleibt die Versicherungslast auf Grund der Wohnsitzfiktion im Leistungsrecht nach Art 28 Abs 1 Satz 1 EWGV 1408/71 und der darauf beruhenden Erstattungsregelung des Art 95 EWGV 574/72 im Heimatstaat (= Rentenbezugsstaat), darf sich auch das Beitragsrecht durch die Wohnsitzverlegung nicht ändern. Hängt die Beitragserhebung nach dem jeweiligen nationalen Recht von einem inländischen Wohnsitz ab, muss die für das Leistungsrecht gemeinschaftsrechtlich ausgesprochene Wohnsitzfiktion auch für das Beitragsrecht gelten, wie es auf die Situation in Deutschland zutrifft. Die Berechtigung zum Einbehalt von Krankenversicherungsbeiträgen von der Rentenzahlung und zur Beitragserhebung auf sonstige Versorgungsbezüge setzt nach deutschem Recht das Bestehen eines Pflichtversicherungsverhältnisses voraus (vgl § 226 Abs 1 Satz 1 Nr 3, § 229 Abs 1 Satz 1, § 255 Abs 1, § 256 Abs 1 SGB V), das wiederum an § 3 Nr 2 SGB IV scheitern würde, nähme man die Vorschriften der EWGV 1408/71 nicht in den Blick. Die Beklagte wertet diese denn auch insgesamt für das deutsche Beitragsrecht zutreffend in dem Sinne, dass zwischen ihr und dem Kläger ein Versicherungsverhältnis besteht. Hinsichtlich der für § 15 SGB V bedeutsamen Versicherteneigenschaft kann der Status des Klägers aber dann kein anderer sein.
Dieses Ergebnis wird, wie der Senat (vgl BSGE 84, 98, 105 ff = SozR aaO) ebenfalls ausgeführt hat, durch die Rechtsentwicklung im Bereich der KVdR und des § 3 Nr 2 SGB IV bestätigt: Der leistungsrechtliche Einschlag des von der Rentenversicherung zu tragenden KVdR-Beitrags war Grund für die vor Inkrafttreten des § 3 Nr 2 SGB V zum 1. Juli 1977 einhellige Auffassung, die Beitragspflicht für Rentner mit Wohnsitz im Ausland hänge außer vom Rentenbezug lediglich davon ab, ob dem Rentner von einer inländischen Krankenkasse unmittelbar oder mittelbar auf dem Wege der Aushilfe durch eine ausländische Kasse Leistungen zu gewähren seien. Da auch die Beitragspflicht der Rentenversicherung zu Gunsten von Auslandsrentnern mit Leistungsansprüchen auf Kosten einer deutschen gesetzlichen Krankenkasse aber ein wesentliches Argument dafür war, dass das BSG einen rentenversicherungsrechtlichen Anspruch auf Beitragszuschuss zu Gunsten der privat oder freiwillig versicherten Rentner im Ausland bejaht hat und da der Schluss zumindest nahe gelegen hat, ohne eigens getroffene Regelungen sei der krankenversicherungsrechtliche Status von Beziehern einer deutschen Rente im Ausland wie derjenige von den Inlandsrentnern zu beurteilen (vgl Urteile des 3. Senats des BSG vom 23. August 1967 in BSGE 27, 129 = SozR Nr 15 zu § 381 RVO mwN und vom 28. August 1970, BSGE 31, 288 = SozR Nr 24 zu § 381 RVO), konnte sich im Lichte dieser Erwägungen die Kodifikation des sozialversicherungsrechtlichen Territorialitätsprinzips in § 3 SGB IV zum 1. Juli 1977 auf die Krankenversicherung von Auslandsrentnern nicht auswirken (vgl insgesamt Senat, BSGE 84, 98, 105 f = SozR aaO).
c) Die neuere Rechtsentwicklung seit 1999 bietet entgegen der Auffassung der Revision keinen Anlass, hiervon abzuweichen. Insbesondere geht ihre Ansicht fehl, die Rechtsprechung des Senats habe nur Bedeutung für den Bereich von Leistungen wie Zahnersatz, die nicht in allen Mitgliedstaaten gleichermaßen vom Leistungsrahmen mitumfasst sind. Zwar gilt nach der Rechtsprechung des EuGH (Urteil vom 3. Juli 2003, Rs C-156/01, EuGHE 2003 I-7045 = SozR 4-6050 Art 22 Nr 1 – van der Duin/van Wegberg-van Brederode) Art 22 Abs 1 Buchst c Ziffer i EWGV 1408/71 auch für einen Rentner, der in einem anderen als dem zur Zahlung der Rente verpflichteten Mitgliedstaat wohnt und der daher nach seiner Eintragung beim Träger des Wohnorts den in Art 28 EWGV 1408/71 vorgesehenen Anspruch hat, wenn er sich zur ärztlichen Behandlung in den Staat der Rentenzahlung begeben will. Art 28 EWGV 1408/71 enthält nämlich eine Kollisionsnorm, anhand deren für Rentner, die in einem anderen als dem zur Zahlung der Rente verpflichteten Mitgliedstaat wohnen, bestimmt werden kann, welcher Träger die darin angegebenen Leistungen zu erbringen hat und welche Rechtsvorschriften anwendbar sind (vgl EuGH Urteil vom 3. Juli 2003, aaO, RdNr 39 und EuGH, Urteil vom 10. Januar 1980, Rs 69/79, EuGHE 1980, 75 ff, RdNr 12 = SozR 6050 Art 19 Nr 2 – Jordens/Vosters). Sobald ein Rentner und seine Familienangehörigen die durch Art 28 EWGV 1408/71 begründete Rechtsstellung erworben haben, indem sie sich, wie in Art 29 EWGV 574/72 vorgesehen, beim Träger des Wohnorts haben eintragen lassen, hat dieser Rentner nach dem Wortlaut des Art 28 EWGV 1408/71 für sich und seine Familienangehörigen Anspruch auf Gewährung von Sachleistungen in der Weise, als ob er nach den Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats, in dessen Gebiet er wohnt, zum Bezug einer Rente berechtigt wäre und Anspruch auf Sachleistungen hätte (vgl EuGH, Urteil vom 3. Juli 2003, aaO, RdNr 40). Ausdrücklich hebt der EuGH aber hervor, dass diesen Sozialversicherten in einem solchen Fall gleichwohl nach den Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats, der zur Zahlung der Rente verpflichtet ist, zusätzliche soziale Leistungen gewährt werden können (vgl ebenda, RdNr 41). Dabei geht es um eine bloße Befugnis dieses Mitgliedstaats, die für die Versicherten keinen Anspruch aus der EWGV 1408/71 begründet (vgl ebenda und Urteil Jordens/Vosters, aaO, RdNr 11 bis 13; vgl hierzu auch U. Becker, ZESAR 2003, 421, 423; Schuler in: Fuchs, Kommentar zum Europäischen Sozialrecht, 3. Aufl 2002, Art 28 EWGV 1408/71 RdNr 9; Windisch-Graetz, Europäisches Krankenversicherungsrecht, Wien, 2003, S 216). Um solche zusätzlichen sozialen Leistungen handelt es sich, wenn das deutsche Sozialversicherungsrecht den durch das Gemeinschaftsrecht vorgegebenen Tatbestand dahingehend bewertet, dass nach deutschem Sozialversicherungsrecht sowohl in leistungs- als auch in beitragsrechtlichem Sinne ein Versicherungsverhältnis begründet wird mit der Folge, dass Berechtigte bei vorübergehendem Aufenthalt in Deutschland den vollen Sachleistungsanspruch gegenüber ihrem nach deutschem Recht zuständigen Versicherungsträger haben. Insoweit handelt es sich gerade um Leistungen, die über das hinausgehen, was das Gemeinschaftsrecht gewährt, mithin um zusätzliche soziale Leistungen.
d) Dem kann die Beklagte nicht mit Erfolg entgegenhalten, es komme notwendigerweise zu einer Doppelbelastung der deutschen Krankenversicherung. Allerdings hat die Rechtsprechung des EuGH (Urteil vom 3. Juli 2003, aaO, RdNr 44 f) zutreffend darauf hingewiesen, dass entsprechend Art 95 EWGV 574/72 der zuständige Träger des gemäß Art 28 EWGV 1408/71 zur Zahlung der Rente verpflichteten Staates dem Träger des Wohnorts grundsätzlich den Betrag der gewährten Leistung mittels eines Pauschbetrags erstattet, durch den sämtliche den betreffenden Personen zu gewährende Sachleistungen abgedeckt werden sollen. Bei der Berechnung dieses Pauschbetrags werden die für einen Rentner des Wohnmitgliedstaates aufgewandten jährlichen Durchschnittskosten zu Grunde gelegt, sodass der Betrag auch die Kosten für etwaige Behandlungen in einem anderen Mitgliedstaat als dem des Wohnorts umfasst. Würde man auf dieser Grundlage einem Sozialversicherten, der den in Art 28 EWGV 1408/71 vorgesehenen Anspruch hat, gestatten, sich nach Gutdünken zur Krankenbehandlung in den Mitgliedstaat, der zur Zahlung der Rente verpflichtet ist, zu begeben, um sich dort vom zuständigen Träger dieses Staates die nach dortigem Recht vorgesehenen Leistungen gewähren zu lassen, so hätte dies (die unter dem Blickwinkel des sekundären Gemeinschaftsrechts nicht gewollte) Folge, dass dieser Mitgliedstaat die von ihm bereits mittels des an den Mitgliedstaat des Wohnorts gezahlten Pauschbetrags finanzierten Behandlungskosten ein zweites Mal übernähme (EuGH, Urteil vom 3. Juli 2003, aaO, RdNr 45).
Die Erwägungen des Senats in seinem Urteil vom 16. Juni 1999 (BSGE 84, 98 ff, insbesondere 107 = SozR aaO) widersprechen dieser Rechtsprechung des EuGH (Urteil vom 3. Juli 2003, aaO) indessen nicht. Die gemeinschaftsrechtlichen Erstattungsregeln sind nämlich dispositives Recht. Art 36 Abs 3 EWGV 1408/71 ermächtigt die Mitgliedstaaten, ein anderes Erstattungsverfahren zu vereinbaren oder auf Erstattung ganz zu verzichten. Werden durch die Auslegung des gemeinschaftsrechtlich geprägten nationalen Leistungsrechts besondere Belastungen begründet, denen der vorgesehene Lastenausgleich nicht gerecht wird, ist es infolgedessen Sache der betroffenen Mitgliedstaaten, durch Vereinbarungen das Erstattungsrecht dem Leistungsrecht anzupassen; soweit dies möglich ist, besteht kein Anlass, bei der Auslegung von Leistungsvorschriften auf die Erstattungsvorschriften Rücksicht zu nehmen (vgl Senat, BSGE 84, 98, 107 = SozR aaO). Wird statt der Pauschale zB Einzelerstattung oder eine modifizierte Pauschale vereinbart, vermag dies eine denkbare Doppelbelastung deutscher Krankenversicherungsträger zu beseitigen.
e) Für die Richtigkeit dieses Ergebnisses spricht auch die Regelung in der Verordnung (EG) Nr 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates zur Koordinierung der Systeme der Sozialen Sicherheit vom 29. April 2004 (≪EGV 883/2004≫, ABl Nr L 166/1 vom 30.4.2004, ber Fassung in ABl Nr L 200/1 vom 7.6.2004), die zwar bereits in Kraft getreten ist, aber erst ab dem Tag des Inkrafttretens der (die EWGV 574/72 ersetzenden) Durchführungsverordnung gilt (Art 91 Satz 2 EGV 883/2004). Art 24 EGV 883/2004 schreibt den Grundsatz des Art 28 EWGV 1408/71 fort, wonach eine Person, die eine Rente oder Renten nach den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats oder mehrerer Mitgliedstaaten erhält und die keinen Anspruch auf Sachleistungen nach den Rechtsvorschriften des Wohnmitgliedstaats hat, dennoch Sachleistungen für sich selbst (und ihre Familienangehörigen) erhält, sofern nach den Rechtsvorschriften des für die Zahlung ihrer Rente zuständigen Mitgliedstaats oder zumindest eines der für die Zahlung ihrer Rente zuständigen Mitgliedstaaten Anspruch auf Sachleistungen bestünde, wenn sie in diesem Mitgliedstaat wohnte. Diese Sachleistungen werden vom Träger des Wohnorts für Rechnung des in Art 24 Abs 2 EGV 883/2004 genannten Trägers erbracht, als ob die betreffende Person Anspruch auf Rente und Sachleistungen nach den Rechtsvorschriften dieses Mitgliedstaats hätte. In Fortführung der Rechtsprechung des EuGH (Urteil vom 3. Juli 2003, aaO, RdNr 41 und 47 mwN) schafft Art 27 Abs 2 EGV 883/2004 ausdrücklich die Möglichkeit, Rentnern bei Aufenthalt in dem Rente gewährenden Mitgliedstaat einen Sachleistungsanspruch unmittelbar gegen den dort zuständigen (Krankenversicherungs-)Träger einzuräumen. Nach Art 27 Abs 2 EGV 883/2004 gilt Art 18 Abs 1 EGV 883/2004 entsprechend für die in Art 27 Abs 1 EGV 883/2004 genannten Personen, wenn sie sich in dem Mitgliedstaat aufhalten, in dem der zuständige Träger seinen Sitz hat, der die Kosten für die dem Rentner in dessen Wohngebiet gewährten Sachleistungen zu tragen hat, und wenn dieser Mitgliedstaat sich dafür entschieden hat und – wie Deutschland – in Anhang IV aufgeführt ist. Die in Art 27 Abs 1 EGV 883/2004 genannten Personen sind solche, die eine Rente oder Renten nach den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats oder mehrerer Mitgliedstaaten erhalten und Anspruch auf Sachleistungen nach den Rechtsvorschriften eines der ihre Rente(n) gewährenden Mitgliedstaaten haben, oder ihre Familienangehörigen, wenn sie sich in einem anderen Mitgliedstaat als ihrem Wohnmitgliedstaat aufhalten. Die entsprechende Geltung von Art 18 Abs 1 EGV 883/2004 bedeutet, dass der Versicherte und seine Familienangehörigen auch während des Aufenthalts in dem zuständigen Mitgliedstaat Anspruch auf Sachleistungen haben. Die Sachleistungen erbringt der zuständige Träger “für dessen Rechnung nach den für ihn geltenden Rechtsvorschriften”, als ob die betreffenden Personen in diesem Mitgliedstaat wohnen würden. Damit soll es den einzelnen Mitgliedstaaten ermöglicht werden, Regelungen zu treffen oder beizubehalten, die nach nationalem Recht bestimmen, dass es beim Sachleistungsanspruch eines Rentners und seiner Familienangehörigen gegen den zuständigen Versicherungsträger des rentengewährenden Staates verbleibt, selbst wenn grundsätzlich der zuständige Träger des rentengewährenden Staates den Träger des Wohnmitgliedstaates für dessen Sachleistungen an den Rentner oder seine Familienangehörigen entschädigt.
f) Auch die seit dem 1. Januar 2004 geltenden Neuregelungen im deutschen Krankenversicherungsrecht geben dem Senat keinen Anlass, zu einem anderen Ergebnis zu gelangen. In Kenntnis der Rechtsprechung des BSG (BSGE 84, 98 ff = SozR aaO) hat es der Gesetzgeber vielmehr trotz grundlegender Umgestaltung des Leistungsrechts im Übrigen bei der bisherigen Regelung in den §§ 3 und 6 SGB IV belassen. Die Berechtigung aller nach dem SGB Versicherten, in Umsetzung der Rechtsprechung des EuGH Leistungserbringer in anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft sowie in anderen Vertragsstaaten des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum im Wege der Kostenerstattung in Anspruch nehmen zu können (§ 13 Abs 4 SGB V idF des GKV-Modernisierungsgesetzes ≪GMG≫ vom 14. November 2003, BGBl I 2190), hat den Gesetzgeber nicht dazu bewogen, die Leistungsansprüche der Rentner zu modifizieren, die unter Berücksichtigung der og Regelungen in EWGV 1408/71 und EWGV 574/72 Beiträge an den deutschen Träger der KVdR zu entrichten haben, aber außerhalb Deutschlands wohnen oder ihren gewöhnlichen Aufenthalt haben. Nach den Gesetzesmaterialien (vgl Entwurf eines Gesetzes zur Modernisierung der gesetzlichen Krankenversicherung ≪GKV-Modernisierungsgesetz – GMG≫ vom 8. September 2003, BT-Drucks 15/1525, S 80) bleibt der Leistungsanspruch “im Übrigen unverändert”. Der Gesetzgeber hat sich speziell in diesem Zusammenhang auch mit der Situation derjenigen Versicherten befasst, für deren notwendige medizinische Versorgung die inländischen Krankenkassen an einen anderen Mitgliedstaat einen Pauschbetrag zahlen bzw auf Grund eines Erstattungsverzichts nichts zu bezahlen haben (sog Residenten; vgl ebenda, S 81). Durch § 13 Abs 4 Satz 1 2. Halbsatz SGB V idF des GMG ist (nur) ihr Recht auf Kostenerstattung eingeschränkt worden, um ungerechtfertigte Doppelleistungen der deutschen Krankenkassen in Form von Pauschalen nach EG-Recht und zusätzlichen Aufwendungen für Kostenerstattung zu vermeiden.
g) Die Entscheidung des 12. Senats des BSG vom 26. Januar 2005 (Urteil B 12 P 4/02 R, SozR 4-2400 § 3 Nr 1) steht dem vorstehend gewonnenen Ergebnis nicht entgegen. Sie betrifft die Feststellung der Pflichtmitgliedschaft in der Pflegeversicherung für eine in Spanien lebende Spanierin, deren Renten sowohl vom deutschen Sozialversicherungsträger als auch daneben vom spanischen Sozialleistungsträger gezahlt wurden. Im hier zu entscheidenden Fall geht es dagegen um einen Leistungsanspruch eines in Frankreich ansässigen Klägers, der ausschließlich Rente von einem deutschen Rentenversicherungsträger bezieht.
2. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen
NZS 2006, 318 |
SGb 2005, 636 |
ZESAR 2006, 81 |