Entscheidungsstichwort (Thema)
Glaubhaftmachung von Beitragszeiten
Orientierungssatz
1. § 1 Abs 1 S 2 VuVO fordert drei unterschiedliche Verlustorte mit der Glaubhaftmachung des dortigen Verlustes; es genügt also nicht die "Möglichkeit" des Verlustes bei einer nicht näher bezeichneten "anderen Stelle".
2. § 1 Abs 2 VuVO ist nicht auf Fälle anzuwenden, bei denen es möglich (nicht auszuschließen) ist, daß die Unterlagen bei dem Versicherungsträger in dem erhaltenen Archivteil oder in dem später vernichteten Teil falsch abgelegt worden sind.
Normenkette
VuVO § 1 Abs 1 S 2 Fassung: 1980-03-03
Verfahrensgang
LSG Nordrhein-Westfalen (Entscheidung vom 25.10.1983; Aktenzeichen L 18 An 21/82) |
SG Gelsenkirchen (Entscheidung vom 25.11.1981; Aktenzeichen S 7 An 217/80) |
Tatbestand
Die Parteien streiten vor allem darüber, ob die Beitragsentrichtung an die Reichsversicherungsanstalt für Angestellte (RfA) auch dann nur glaubhaft gemacht und nicht nachgewiesen werden muß, wenn nicht auszuschließen ist, daß die Versicherungsunterlagen infolge eines Ablagefehlers in den später vernichteten Teil des Kartenarchivs der RfA gelangt sind.
Die im Jahr 1920 geborene Klägerin war - nach ihren Angaben - von April 1936 bis März 1939 als kaufmännischer Lehrling und anschließend bis Januar 1945 als Verkäuferin in einem Schuhgeschäft in Lötzen/Ostpreußen beschäftigt. Im Januar 1979 stellte sie bei der Beklagten den Antrag auf "Kontenklärung". Die Beklagte merkte jedoch nur eine Ersatzzeit von Januar 1945 bis März 1946 sowie - später - eine Ausfallzeit vom 23. August 1936 bis 31. März 1939 vor und lehnte im übrigen die Wiederherstellung von Versicherungsunterlagen ab.
Das Sozialgericht (SG) hat den ablehnenden Bescheid geändert und die Beklagte verurteilt, für die Zeit vom 1. April 1939 bis 22. Januar 1945 glaubhaft gemachte Beiträge zur Angestelltenversicherung anzuerkennen, im übrigen aber die Klage abgewiesen. Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung der Beklagten als unbegründet zurückgewiesen. In den Entscheidungsgründen ist ausgeführt: Nach der Beweisaufnahme stehe fest, daß die Klägerin so, wie sie behaupte, beschäftigt gewesen sei. Es lägen keine Anhaltspunkte für Versicherungsfreiheit oder für irrtümliche Entrichtung der Beiträge zur Invalidenversicherung vor. Auch sei es äußerst unwahrscheinlich, daß der Arbeitgeber die Beitragsentrichtung unterlassen hätte. Deshalb sei davon auszugehen, daß die Klägerin in der fraglichen Zeit versicherungspflichtig beschäftigt gewesen sei, daß die Beiträge vom Arbeitgeber ordnungsmäßig entrichtet worden seien und daß eine Beitragserstattung nicht stattgefunden habe. Es bleibe nur der Schluß übrig, daß die Versicherungsunterlagen der Klägerin entweder bei der Beklagten oder einer anderen Stelle verlorengegangen seien. Möglicherweise seien sie auch bei der Beklagten aus nicht mehr zu klärenden Gründen falsch abgelegt worden und daher nicht mehr auffindbar; auszuschließen sei ferner nicht, daß sie infolge einer falschen Ablage in den Teil des Kartenarchivs gelangt seien, der durch Kriegseinwirkung vernichtet worden sei. Der Senat habe daher keine Bedenken, die Versicherungsunterlagenverordnung (VuVO) anzuwenden. Nach § 3 VuVO seien für das einzelne Jahr nicht nachgewiesener, aber glaubhaft gemachter Beitragszeiten fünf Sechstel als Beitragszeiten anzurechnen.
Mit der vom Senat zugelassenen Revision rügt die Beklagte die unrichtige Anwendung des § 1 VuVO und trägt vor, § 1 VuVO sei nicht anwendbar, wenn zwar - wie das bei dem Archiv der Beklagten der Fall sei - ein Archivteil vernichtet sei, die "fehlenden" Versicherungsunterlagen aber nicht in diesem Teil aufzubewahren gewesen seien.
Die Beklagte beantragt, die Urteile der Vorinstanzen zu ändern und die Klage in vollem Umfang abzuweisen.
Die Klägerin beantragt, die Revision als unbegründet zurückzuweisen.
Die Beteiligten haben sich damit einverstanden erklärt, daß der Senat ohne mündliche Verhandlung entscheidet.
Entscheidungsgründe
Die Revision der Beklagten ist im Sinne der Zurückverweisung begründet. Das angefochtene Urteil kann nicht aufrechterhalten werden, für eine abschließende Entscheidung fehlen aber die erforderlichen Feststellungen.
Der Anspruch der Klägerin ist auf die Wiederherstellung der Versicherungsunterlagen für Beitragszeiten vom 1. April 1939 bis 22. Januar 1945 gerichtet. Rechtsgrundlage hierfür ist § 11 Abs 1 VuVO; nach dieser Vorschrift sind auf Antrag des Versicherten die Versicherungsunterlagen auch außerhalb des Leistungsfeststellungsverfahrens wiederherzustellen. Dabei ist nach den Feststellungen des LSG hier davon auszugehen, daß die behaupteten Beitragszeiten nicht nachgewiesen sind (§ 135 Abs 2 AVG). § 1 VuVO läßt unter bestimmten dort festgelegten Voraussetzungen jedoch die Glaubhaftmachung der Beitragszeiten - mit der dann allerdings auf fünf Sechstel beschränkten Anrechnung (§ 3 VuVO) - zu. Das LSG hat offensichtlich § 1 VuVO anwenden wollen. Sein Urteil leidet jedoch daran, daß, wie der Senat schon in dem Beschluß über die Zulassung der Revision dargelegt hat, nicht zu erkennen ist, welche der in § 1 VuVO enthaltenen Alternativen es für gegeben hat erachten wollen.
Da das Karten- oder Kontenarchiv der RfA nur in Teilen vernichtet worden und im übrigen zugänglich ist, könnte die Glaubhaftmachung der rechtserheblichen Tatsachen nur genügen, wenn entweder
- glaubhaft gemacht ist, daß die Versicherungskarte beim Arbeitgeber oder Versicherten oder nach den Umständen des Falles auf dem Wege zum Versicherungsträger zerstört, verlorengegangen oder unbrauchbar geworden ist (§ 1 Abs 1 Satz 2 VuVO), oder
- die Unterlagen in dem vernichteten Teil des Karten- oder Kontenarchivs der RfA aufzubewahren gewesen sind (§ 1 Abs 2 VuVO).
Zu dem ersten Tatbestand fehlen nähere Feststellungen des LSG; es hat sich auf die Aussage beschränkt, die Versicherungsunterlagen - offenbar mehrere Versicherungskarten - könnten "bei einer anderen Stelle" als dem Versicherungsträger verlorengegangen sein und nicht damit auseinandergesetzt, daß das Gesetz drei unterschiedliche Verlustorte mit der Glaubhaftmachung des dortigen Verlustes fordert. Es genügt also nicht die "Möglichkeit" des Verlustes bei einer nicht näher bezeichneten "anderen Stelle".
Der zweite Tatbestand (Abs 2) setzt voraus, daß die Versicherungskarten der Klägerin in dem vernichteten Teil des Archivs der RfA "aufzubewahren gewesen sind". Das hat das LSG nicht festgestellt. Sollte es eine Glaubhaftmachung auch zugelassen haben wollen, wenn es möglich (nicht auszuschließen) ist, daß die Unterlagen bei dem Versicherungsträger in dem erhaltenen Archivteil oder in dem später vernichteten Teil falsch abgelegt worden sind, wäre dies rechtsirrig. Ein solcher Rechtssatz stünde nämlich im Widerspruch nicht nur zum Text sondern auch zu Sinn und Zweck des § 1 VuVO (vgl dazu auch BSGE 30, 76 = SozR Nr 4 zu § 1 VuVO). Die Vorschrift will in den dort genannten Fällen eine den Versicherten durch Krieg und Kriegsfolgen entstandene Beweisnot mildern; sie will dagegen von dem Grundsatz, daß die Anspruchsvoraussetzungen nachgewiesen werden müssen, nicht auch sonst und ua nicht abgehen, wenn (nur) das Fehlverhalten eines Bediensteten des Versicherungsträgers - zudem lediglich als möglich - in Frage steht. Eine entsprechende Anwendung des § 1 VuVO auf solche Fälle kommt daher nicht in Betracht.
Das angefochtene Urteil war daher aufzuheben. Da über die Anwendung des § 1 Abs 2 Satz 3 VuVO mangels genügender Feststellungen nicht abschließend entschieden werden kann, war die Sache an das LSG zurückzuverweisen. Dieses wird auch über die Kosten des Revisionsverfahrens mitzuentscheiden haben.
Fundstellen