Entscheidungsstichwort (Thema)
Unfallversicherungsschutz bei Umweg aus privaten Gründen
Leitsatz (redaktionell)
Der für den Unfallversicherungsschutz erforderliche innere Zusammenhang zwischen der verrichteten Tätigkeit und dem Weg zu oder von der Arbeitsstätte ist regelmäßig gegeben, wenn der Versicherte angesichts des gewählten Fortbewegungsmittels den direkten Weg zwischen beiden Punkten nimmt.
Orientierungssatz
1. Nimmt der Weg des Versicherten zur Arbeitsstätte von seiner Wohnung seinen Ausgang, so kommt die Annahme eines anderen Ausgangspunktes für den Weg nur dann in Betracht, wenn an einem dritten Ort ein so erheblicher Aufenthalt eingeschoben wird, daß der vorangegangene Weg und der weitere Weg zum Ort der Tätigkeit jeder für sich bei natürlicher Betrachtungsweise selbständige Bedeutung erlangen. Hieran fehlt es bei einem relativ flüchtigen Aufenthalt des Versicherten an dem dritten Ort. Nach den jeweiligen Umständen des Einzelfalles ist ein Aufenthalt von etwa ein bis zwei Stunden als erheblich anzusehen (vgl BSG 1978-04-20 2 RU 1/77 = HVGBG RdSchr VB 126/78).
2. Bei privaten Verrichtungen dienenden Umwegen oder Unterbrechungen des Weges nach und von dem Ort der Tätigkeit wird der ursächliche Zusammenhang lediglich durch "unbedeutende" Umwege und Unterbrechungen nicht ausgeschlossen (vgl BSG 1980-04-29 2 RU 17/80 = SozR 2200 § 550 Nr 44). Damit soll im wesentlichen der Versicherungsschutz nur bei privaten Verrichtungen nicht ausgeschlossen sein, die "so im Vorbeigehen" erledigt werden.
3. Wählt der Versicherte einen Weg gerade mit Rücksicht auf die Lage seiner Wohnung zur Arbeitsstätte aus oder weicht er aus betriebsbedingten Gründen vom üblichen Weg ab, so ist ein mit der Tätigkeit zusammenhängender Weg deshalb gegeben, weil der Betriebstätigkeit entspringende Beweggründe die Wahl des Weges maßgeblich beeinflußt und so eine rechtlich wesentliche Verknüpfung herbeigeführt haben.
Normenkette
RVO § 550 Abs. 1 Fassung: 1974-04-01
Verfahrensgang
Tatbestand
Die Klägerin verlangt als Trägerin der sozialen Krankenversicherung und die Beklagte als Trägerin der gesetzlichen Unfallversicherung Ersatz der anläßlich eines Unfalles des Beigeladenen entstandenen Kosten. Mit ihrer Revision verfolgt die Beklagte ihre Auffassung weiter, der Beigeladene habe am 20. September 1976 keinen Arbeitsunfall erlitten, weil er sich nicht auf einem mit seiner Tätigkeit zusammenhängenden Weg zur Arbeitsstätte befunden habe.
Am Unfalltage wollte der Beigeladene um 7.00 Uhr seine Arbeit aufnehmen. Da er die Schlüssel für sein Umkleidespind und seinen Werkzeugschrank am vorangegangenen Wochenende bei seiner Verlobten liegengelassen hatte, fuhr er ihr mit seinem Pkw entgegen. Zur Arbeitsstätte hätte er in entgegengesetzter Richtung fahren müssen. Auf halber Strecke traf er sie an einer Bushaltestelle. Hier erhielt er die Schlüssel ausgehändigt. Als er zu seinem auf der gegenüberliegenden Straßenseite abgestellten Fahrzeug zurückgehen wollte, wurde er von einem Kraftfahrzeug erfaßt und erlitt erhebliche Verletzungen. Von der Haltestelle aus hätte er einen um etwa 500 m längeren Weg zum Ort seiner Tätigkeit zurücklegen müssen als von seiner Wohnung.
Mit ihrer bei dem Sozialgericht (SG) Frankfurt/Main erhobenen Klage hat die Klägerin Kosten in Höhe von DM 3.028,53 erstattet verlangt. Mit ihrer Widerklage hat die Beklagte Ersatz der von ihr erbrachten Leistungen gefordert. Der Beigeladene hat ebenfalls Klage gegen die Beklagte erhoben und von ihr Leistungen wegen des Unfalles am 20. September 1976 verlangt. Die Klagen der Klägerin und des Beigeladenen hatten Erfolg, während die Widerklage der Beklagten abgewiesen worden ist (Urteil vom 27. August 1979). Das SG hat die Auffassung vertreten, der Beigeladene habe den Weg zur Arbeit an der Bushaltestelle angetreten. Dieser Weg sei zwar länger gewesen als der übliche Weg von der Wohnung zum Ort der Tätigkeit, jedoch seien die Straßen von seiner Wohnung aus Nebenstraßen mit ungünstigen Vorfahrtsregelungen gewesen, so daß das Unfallrisiko auf beiden Strecken etwa gleich groß gewesen sei.
Das Landessozialgericht (LSG) hat auf die Berufung der Beklagten das Urteil des SG geändert. Es hat die Klage des Beigeladenen abgewiesen, weil er keine Klage habe wirksam erheben können. Im übrigen hat es die Berufung der Beklagten zurückgewiesen (Urteil vom 13. Mai 1981). Der Schlüssel zum Werkzeugschrank sei als Arbeitsgerät iS von § 549 Reichsversicherungsordnung (RVO) anzusehen, weil er die Aufnahme der Tätigkeit des Beigeladenen ermöglicht hätte. Dieses Arbeitsgerät hätte er im Unfallzeitpunkt befördert. Diesem Zweck hätte der Umweg über die Haltestelle gedient. Auch unter dem Gesichtspunkt, daß der privat eingeschobene Weg zur Bushaltestelle im Unfallzeitpunkt beendet und von der Haltestelle aus der Weg zum Ort der Tätigkeit begonnen worden sei, müsse Unfallversicherungsschutz bejaht werden. Das LSG hat die Revision zugelassen.
Die Beklagte hat dieses Rechtsmittel eingelegt. Nach ihrer Auffassung ist ein Schlüssel zum Werkzeugschrank nicht als Arbeitsgerät anzusehen, weil er nicht unmittelbar der Verrichtung der beruflichen Tätigkeit dient. Außerdem habe der Beigeladene den Schlüssel nicht, wie in § 549 RVO verlangt werde, "befördert", sondern vielmehr lediglich mitgenommen. Am Unfallort habe er sich auch noch nicht auf dem Weg zum Ort seiner Tätigkeit befunden. Den direkten Weg hätte er erst später erreicht gehabt. Der aus privaten Gründen eingeschlagene Umweg sei erheblich länger gewesen als der gewöhnliche Weg; dieser Umweg habe lediglich der Vorbereitung der betrieblichen Tätigkeit gedient.
Die Beklagte beantragt, 1. die Urteile des SG Frankfurt/Main vom 27. August 1979 und des LSG vom 13. Mai 1981 zu ändern,
2. die Klage der Klägerin abzuweisen und
3. die Klägerin auf die Widerklage zu verurteilen, der Beklagten zu ersetzen, was sie nach dem Recht der Krankenversicherung hätte leisten müssen.
Die Klägerin beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Nach ihrer Überzeugung hätte der Beigeladene die Arbeit am Unfalltage ohne die Schlüssel nicht antreten können. Der zurückgelegte Umweg sei nur unbedeutend länger und nicht risikoreicher gewesen als der direkte Weg. Er habe der Aufnahme der Arbeit gedient und daher in einem ursächlichen Zusammenhang mit ihr gestanden.
Der Beigeladene stellt keinen Antrag.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 Sozialgerichtsgesetz).
Entscheidungsgründe
Die Revision der Beklagten ist nicht begründet. Die Klägerin hat gegen die Beklagte einen Anspruch auf Ersatz der Kosten, die ihr aus Anlaß des Unfalles entstanden sind, den der bei ihr für den Fall der Krankheit versicherte Beigeladene am 20. September 1976 erlitten hat (§ 1504 RVO); denn der Unfall war, wie das LSG zu Recht entschieden hat, ein Arbeitsunfall.
Es bedarf im vorliegenden Fall keiner Entscheidung, ob die Schlüssel, die der Beigeladene von seiner Verlobten an der Bushaltestelle abholte, Arbeitsgeräte iS des § 549 RVO waren und Versicherungsschutz nach dieser Vorschrift bestand, weil der Beigeladene diese Geräte "befördert" hat (vgl zum Begriff des Arbeitsgeräts zB BSGE 24, 243; LSG Baden-Württemberg, Breithaupt 1968, 381 f; Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 9. Aufl S 481 l und m; Gitter in SGB-Sozialversicherung-Gesamtkommentar, § 549 Anm 7; zum Begriff des Beförderns iS des § 549 RVO s Brackmann, aao, S 481 o; Gitter aaO, § 549 Anm 4; Vollmer, SozVers 1958, 323 f; SozVers 1966, 342; Solleder, SozVers 1966, 182 f). Der Versicherungsschutz ist unabhängig davon nach § 550 Abs 1 RVO zu bejahen.
Gemäß § 550 Abs 1 RVO gilt als Arbeitsunfall ua auch ein Unfall auf einem mit der versicherten Tätigkeit zusammenhängenden Weg zum Ort der Tätigkeit. Dadurch, daß der Gesetzgeber einen ursächlichen Zusammenhang zwischen der Tätigkeit und dem Weg zur Arbeitsstätte verlangt, erfordert er eine feststellbare innere Verknüpfung, die dem Weg ein rechtlich erhebliches Gepräge gibt. Fehlt es an einem solchen Zusammenhang, scheidet die Annahme eines versicherten Unfalles von vornherein selbst dann aus, wenn sich der Unfall auf derselben Strecke ereignet, die der Versicherte auf dem Weg zur Arbeit benutzen muß (BSG SozR 2200 § 550 Nr 34; Urteil vom 30. März 1982 - 2 RU 5/81 -).
Der in diesem Rechtsstreit in erster Linie umstrittene innere Zusammenhang zwischen der versicherten Tätigkeit des Beigeladenen und dem zurückgelegten Weg am 20. September 1976 ist gegeben. Allerdings vermag der Senat dem LSG nicht in der Auffassung zu folgen, daß der Weg erst an der Bushaltestelle begann; vielmehr ist der Weg des Beigeladenen von seiner Wohnung über die Haltestelle zum Ort der Tätigkeit als eine natürliche Einheit zu behandeln. Richtig ist allerdings, daß der Versicherungsschutz grundsätzlich nicht entfällt, wenn der Weg zur Arbeitsstätte von einer anderen Stelle als der Wohnung des Versicherten angetreten wird. Nimmt der Weg von dieser Wohnung - wie hier - seinen Ausgang, so kommt die Annahme eines anderen Ausgangspunktes für den Weg nur dann in Betracht, wenn an einem dritten Ort ein so erheblicher Aufenthalt eingeschoben wird, daß der vorangegangene Weg und der weitere Weg zum Ort der Tätigkeit jeder für sich bei natürlicher Betrachtungsweise selbständige Bedeutung erlangen. Hieran fehlt es bei dem relativ flüchtigen Aufenthalt des Beigeladenen an der Bushaltestelle. Der erkennende Senat hat nach den jeweiligen Umständen des Einzelfalles einen Aufenthalt von etwa ein bis zwei Stunden als erheblich angesehen (BSGE 22, 60 f; SozR Nr 32 zu § 543 RVO aF; Urteile vom 30. August 1963 - 2 RU 243/61 - und vom 20. April 1978 - 2 RU 1/77 -). Daher war hier zu entscheiden, ob der Beigeladene sich am 20. September 1976 am Unfallort auf einem mit seiner Tätigkeit zusammenhängenden Weg von seiner Wohnung zum Ort der Tätigkeit befand.
Der innere Zusammenhang zwischen der verrichteten Tätigkeit und dem zurückgelegten Weg ist regelmäßig dann gegeben, wenn der Versicherte angesichts des ausgewählten Fortbewegungsmittels (BSGE 4, 219, 222) den direkten Weg zwischen den beiden Punkten, hier: der Wohnung des Beigeladenen und seiner Arbeitsstätte, nimmt. Wählt der Versicherte dagegen nicht die kürzeste Verbindung zwischen beiden Orten, kommt es darauf an, ob nach den Umständen des Einzelfalles auch für den weiteren Weg der ursächliche Zusammenhang gegeben ist (vgl das Urteil des Senats vom 30. März 1982 aaO). Der Senat hat in ständiger Rechtsprechung (s BSG SozR Nrn 33 und 42 zu § 543 RVO aF; vgl ferner Brackmann, aaO, S 486 m I mit zahlreichen Nachweisen; Gitter aaO, § 550 Anm 5) bei privaten Verrichtungen dienenden Umwegen oder Unterbrechungen des Weges nach und von dem Ort der Tätigkeit den ursächlichen Zusammenhang lediglich durch "unbedeutende" Umwege und Unterbrechungen als nicht ausgeschlossen angesehen (s ua BSG SozR 2200 § 550 Nr 44). Damit soll aber im wesentlichen der Versicherungsschutz nur bei privaten Verrichtungen nicht ausgeschlossen sein, die "so im Vorbeigehen" erledigt werden. Um einen solchen Umweg handelte es sich am 20. September 1976 bei dem Weg über die Bushaltestelle nicht. Deshalb waren bei der richterlichen Überzeugungsbildung alle im vorliegenden Falle ermittelbaren rechtserheblichen Umstände heranzuziehen, welche den vom Gesetz verlangten Zusammenhang zwischen der versicherten Tätigkeit und dem gewählten Weg entweder ausschließen oder begründen. Als entscheidenden Umstand hat der Senat schon früh den Beweggrund für die Auswahl einer Wegstrecke angesehen (SozR Nr 11 zu § 543 RVO aF); er ist bei dieser Rechtsprechung verblieben (SozR 2200 § 550 Nr 25; Urteil vom 30. März 1982 aaO). Wählt der Versicherte einen Weg gerade mit Rücksicht auf die Lage seiner Wohnung zur Arbeitsstätte aus oder weicht er aus betriebsbedingten Gründen vom üblichen Weg ab, so ist ein mit der Tätigkeit zusammenhängender Weg deshalb gegeben, weil der Betriebstätigkeit entspringende Beweggründe die Wahl des Weges maßgeblich beeinflußt und so eine rechtlich wesentliche Verknüpfung herbeigeführt haben. So liegen die Dinge hier.
Nach den mit zulässigen und begründeten Revisionsgründen nicht angegriffenen und daher den Senat bindenden Feststellungen des LSG (§ 163 SGG) wählte der Beigeladene den eingeschlagenen Weg über die Unfallstelle, weil er sich die für die Aufnahme seiner Arbeit notwendigen Schlüssel von seiner Verlobten aushändigen lassen wollte (Seiten 5 und 6). Demgemäß waren für den Beigeladenen Umstände bzw Beweggründe maßgebend, welche in unmittelbarem Zusammenhang zu seiner Tätigkeit standen. Folglich war der umstrittene innere ursächliche Zusammenhang zwischen der verrichteten Tätigkeit und dem zurückgelegten Weg gegeben. Der Beigeladene hat am 20. September 1976 einen Arbeitsunfall erlitten (vgl hierzu ferner BSG SozR 2200 § 550 Nr 25 und LSG Baden-Württemberg aaO). Die Klägerin besitzt den geltend gemachten Anspruch; die Widerklage ist zu Recht abgewiesen worden.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen