Entscheidungsstichwort (Thema)

Erhebliche Unbilligkeit iS von § 577 RVO

 

Leitsatz (amtlich)

Der nach § 571 Abs 1 S 2 RVO berechnete Jahresarbeitsverdienst (JAV) ist in erheblichem Maße unbillig iS des § 577 RVO, wenn die Lebensstellung des Verletzten aufgrund eigener Willensentscheidung im Jahr vor dem Arbeitsunfall und in mehreren zurückliegenden Jahren auf einem jeweils nur innerhalb von elf Monaten erzielten Arbeitseinkommen beruhte und der Verletzte in dem restlichen Monat eines jeden Jahres unbezahlten Urlaub hatte (Weiterführung von BSG 1981-02-11 2 RU 65/79 = BSGE 51, 178).

 

Orientierungssatz

1. Die Wertung, daß ein nach den §§ 571 bis 576 RVO berechneter JAV in erheblichem Maße unbillig zu niedrig oder zu hoch ist, kann das Gericht unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalles selbst vollziehen, weil der Unfallversicherungsträger insoweit nicht nach seinem Ermessen entscheidet und auch keinen von den Gerichten nur beschränkt nachprüfbaren Beurteilungsspielraum hat (vgl BSG 1970-12-16 2 RU 239/68 = BSGE 32, 169).

2. Eine erhebliche Unbilligkeit des nach den §§ 571 bis 576 berechneten JAV ist nicht unabhängig von den Besonderheiten des Einzelfalles nach einem starren Prozentsatz zu beurteilen (Festhaltung BSG 1981-02-11 2 RU 65/79 = BSGE 51, 178).

 

Normenkette

RVO § 571 Abs 1 S 2 Fassung: 1963-04-30, § 577 Fassung: 1963-04-30

 

Verfahrensgang

LSG Baden-Württemberg (Entscheidung vom 21.05.1981; Aktenzeichen L 7 U 151/81)

SG Stuttgart (Entscheidung vom 05.05.1978; Aktenzeichen S 3 U 864/76)

 

Tatbestand

Die Beklagte gewährte dem Kläger, der italienischer Staatsangehöriger ist und in der Bundesrepublik Deutschland arbeitete, wegen der gesundheitlichen Folgen eines am 7. Juli 1975 erlittenen Arbeitsunfalls vom 3. Mai 1976 an bis auf weiteres eine Verletztenrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 20 vH (Bescheid vom 22. Oktober 1976 über eine vorläufige Rente nach § 1585 Abs 1 der Reichsversicherungsordnung -RVO-).

Bei der Berechnung des Jahresarbeitsverdienstes (JAV) legte die Beklagte das vom Kläger in der Zeit vom 7. Juli 1974 bis 1. Januar 1975 und vom 3. Februar bis 6. Juli 1975 erzielte Arbeitsentgelt in Höhe von 15.981,36 DM zugrunde und für die Zeit des unbezahlten Urlaubs des Klägers vom 2. Januar bis 2. Februar 1975 den Ortslohn in Höhe von 951,60 DM, insgesamt also 16.932,96 DM.

Dem mit der Klage ua verfolgten Ziel auf Gewährung einer Rente nach einer MdE von 30 vH hat die Beklagte entsprochen. Nachdem der Kläger das Teilanerkenntnis der Beklagten (mit Schriftsatz vom 26. Mai 1977) angenommenen hatte, gewährte die Beklagte durch Bescheid vom 7. März 1978 in Ausführung des Anerkenntnisses und in Abänderung ihres Bescheides vom 22. Oktober 1976 eine Rente nach einer MdE um 30 vH vom 3. Mai 1976 an und wies darauf hin, daß es sich um eine Dauerrente iS des § 1585 Abs 2 RVO handele. Den JAV ließ sie unverändert. Der Kläger hat demgegenüber begehrt, den JAV auf 17.465,04 DM festzusetzen, da gem § 571 Abs 1 Satz 2 RVO ein fiktives Arbeitseinkommen von 1.483,68 DM für die Zeit des unbezahlten Urlaubs dem tatsächlich erzielten Arbeitseinkommen im Jahr vor dem Unfall in Höhe von 15.981,36 DM hinzuzurechnen sei.

Das Sozialgericht (SG) Stuttgart hat die Beklagte dem Antrag des Klägers entsprechend unter Änderung der Bescheide vom 22. Oktober 1976 und 7. März 1978 verurteilt, der Berechnung der Rente vom 3. Mai 1976 an einen JAV von 17.465,04 DM zugrunde zu legen (Urteil vom 5. Mai 1978). Es hat angenommen, der gem § 571 Abs 1 Satz 2 RVO berechnete JAV sei zwar unbillig, da auf diese Weise das tatsächliche Einkommen um etwa ein Zwölftel angehoben werde. Die Unbilligkeit sei aber nicht erheblich (§ 577 RVO) im Sinne von unerträglich.

Nachträglich hat die Beklagte einen Widerspruchsbescheid (25. Juli 1979) erlassen, in dem sie an ihrer Auffassung festhält, die vom Kläger begehrte JAV-Berechnung sei in erheblichem Maße unbillig; sie würde zu einer Erhöhung des tatsächlichen Arbeitsentgelts um mehr als 9 vH führen und außer acht lassen, daß sich der Kläger regelmäßig auf einen jährlichen Verdienst aus nur elfmonatiger Tätigkeit beschränkt habe.

Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung der Beklagten zurückgewiesen (Urteil vom 21. Mai 1981). Zur Begründung hat es ua ausgeführt: Der Lebensstandard des Klägers habe zur Unfallzeit nicht nur vorübergehend, sondern schon seit dem Jahr 1971 auf einem in rund 11 Monaten jährlich erzielten Verdienst beruht. Es sei zwar unbillig, wenn bei einer Berechnung gem § 571 Abs 1 Satz 2 RVO der Unfallrente ein JAV zugrunde gelegt werde, den der Kläger in der Vergangenheit nie erreicht gehabt habe und mit hoher Wahrscheinlichkeit auch künftig nicht erzielt hätte. Eine erhebliche Unbilligkeit iS des § 577 RVO sei jedoch nicht anzunehmen, wenn bei einem Gastarbeiter, der mehrere Jahre lang unbezahlten Urlaub genommen habe, die "Ausfallzeit" auch im Jahr vor dem Unfall nur etwa einen Monat betrage und das tatsächlich erzielte Arbeitseinkommen um weniger als 10 vH erhöht werden müsse, um das fiktive Arbeitseinkommen zu erreichen. Hier betrage die Erhöhung nur rund 9,3 vH. Die Berechnung nach § 571 Abs 1 Satz 2 RVO sei daher nicht erheblich unbillig.

Die Beklagte hat die vom LSG zugelassene Revision eingelegt und trägt zur Begründung vor: Die Beurteilung, ob der JAV erheblich unbillig sei, könne nicht allein davon abhängen, ob das wirklich erzielte Arbeitsentgelt um mindestens 10 vH niedriger sei oder die "Ausfallzeit" mindestens drei Monate betrage. Das LSG hätte vielmehr berücksichtigen müssen, daß der Kläger bereits seit mehr als 10 Jahren vor dem Unfall seine Lebensführung auf ein Einkommen abgestellt habe, das erheblich unter dem nach § 571 Abs 1 Satz 2 RVO berechneten JAV liege. Soweit das LSG die insoweit erforderlichen Feststellungen nicht getroffen habe, leide das Berufungsverfahren an einem wesentlichen Mangel.

Die Beklagte beantragt, die Urteile des LSG und des SG aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt, die Revision zurückzuweisen.

Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes -SGG-).

 

Entscheidungsgründe

Die Revision der Beklagten ist begründet.

Der von den Vorinstanzen hinsichtlich des JAV geänderte erste Bescheid der Beklagten vom 22. Oktober 1976 betraf zwar bei seiner Erteilung nicht eine "Rente auf Dauer", wie das LSG im Tatbestand seines Urteils angeführt hat, sondern ausdrücklich nur eine vorläufige Rente (§ 1585 Abs 1 RVO). Ein Berufungsausschlußgrund nach § 145 Nr 3 SGG liegt aber dennoch auch insoweit nicht vor. Die Rente ist vielmehr schon vor Änderung des ersten Bescheides durch den Bescheid vom 7. März 1978 (rückwirkende Erhöhung der MdE auf 30 vH) und damit jedenfalls vor Einlegung der Berufung infolge Ablaufs von zwei Jahren nach dem Unfall vom 7. Juli 1975 eine Dauerrente geworden (§ 622 Abs 2 Satz 1 SGG).

Mit Recht ist die Beklagte in den Bescheiden vom 22. Oktober 1976 und 7. März 1978 (s § 96 SGG) davon ausgegangen, daß der nach § 571 Abs 1 RVO berechnete JAV in erheblichem Maße unbillig ist (§ 577 RVO).

Als JAV, der bei der Berechnung der Verletztenrente zugrunde zu legen ist (s §§ 570, 581), gilt nach § 571 Abs 1 Satz 1 RVO in der hier noch anzuwendenden Fassung vor dem Inkrafttreten des Sozialgesetzbuches - Gemeinsame Vorschriften für die Sozialversicherung - (SGB IV) am 1. Juli 1977 (Art II § 21 Abs 1 iVm Art II § 1 Nr 2 Buchst c SGB IV) das Arbeitseinkommen des Verletzten im Jahr vor dem Arbeitsunfall. Die Anwendung dieser Vorschrift setzt allerdings voraus, daß der Verletzte während des Jahres vor dem Arbeitsunfall ununterbrochen Arbeitseinkommen bezogen hat (BSGE 51, 178, 180 mwN aus Rechtsprechung und Schrifttum). Der Kläger hatte im Jahr vor dem Arbeitsunfall (7. Juli 1974 bis 6. Juli 1975) jedoch während des unbezahlten Urlaubs vom 2. Januar bis zum 2. Februar 1975 kein Arbeitseinkommen. Für Zeiten, in denen der Verletzte im Jahre vor dem Arbeitsunfall - wie hier - kein Arbeitseinkommen bezog, wird nach § 571 Abs 1 Satz 2 RVO das Arbeitseinkommen zugrundegelegt, das durch eine Tätigkeit erzielt wird, die der letzten Tätigkeit des Verletzten vor diesen Zeiten entspricht. Bei der Berechnung der Rente des Klägers ist der JAV zunächst nach dieser Vorschrift zu ermitteln. Wie der erkennende Senat unter Hinweis auf Rechtsprechung und Schrifttum in seinen Urteilen vom 11. Februar 1981 (BSGE 51, 178 = SozR 2200 § 571 Nr 20 und 2 RU 69/79) bereits näher dargelegt hat, entfällt die Anwendung des § 571 Abs 1 Satz 2 RVO in Fällen der vorliegenden Art nicht deshalb, weil der Verdienstausfall im Jahre vor dem Arbeitsunfall aufgrund einer eigenen Willensentscheidung des Verletzten - durch unbezahlten Urlaub - eingetreten ist. Es ist vielmehr insoweit grundsätzlich unerheblich, aus welchen Gründen es innerhalb des letzten Jahres vor dem Unfall zu Zeiten ohne Arbeitseinkommen gekommen ist. Davon zu trennen ist die Frage, ob der solchermaßen ermittelte JAV bei erheblicher Unbilligkeit gemäß § 577 RVO zu korrigieren ist (BSGE aa0 S 180). Nach den Feststellungen im angefochtenen Urteil hätte das gemäß § 571 Abs 1 Satz 2 RVO zugrunde zu legende - fiktive - Arbeitseinkommen des Klägers, wie von der Beklagten ermittelt und vom Kläger beansprucht, in der Zeit vom 2. Januar bis 2. Februar 19751.483,68DM betragen. Zusammen mit dem im Jahre vor dem Unfall tatsächlich erzielten Arbeitseinkommen von 15.981,36 DM ergibt sich somit ein JAV von 17.465,04 DM. Zutreffend haben die Vorinstanzen dieses Ergebnis für unbillig gehalten. Ihre Auffassung, eine erhebliche Unbilligkeit iS des § 577 RVO liege gleichwohl nicht vor, teilt der erkennende Senat jedoch nicht.

Die Wertung, daß ein nach den §§ 571 bis 576 RVO berechneter JAV in erheblichem Maße unbillig zu niedrig oder zu hoch (s BSGE aa0 S 181; Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung S 576 h; Lauterbach, Gesetzliche Unfallversicherung, 3. Aufl, § 577 Anm 3; Podzun, Der Unfallsachbearbeiter, 3. Aufl, Kennzahl 440 S 28) ist, kann das Gericht unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalles selbst vollziehen, weil der Unfallversicherungsträger insoweit nicht nach seinem Ermessen entscheidet und auch keinen von den Gerichten nur beschränkt nachprüfbaren Beurteilungsspielraum hat (s BSGE 32, 169, 173; Brackmann aa0 S 576 k, 577 mwN).

Für die Entscheidung, daß im vorliegenden Fall der nach § 571 Abs 1 Satz 2 RVO berechnete JAV in erheblichem Maße unbillig hoch ist (§ 577 RVO), bieten die im angefochtenen Urteil getroffenen und vom Kläger nicht angegriffenen oder bestrittenen tatsächlichen Feststellungen eine ausreichende Grundlage. Es bedarf deshalb nicht der von der Beklagten hilfsweise beantragten Zurückverweisung an das LSG.

Der Kläger hat nicht nur im Jahre vor dem Unfall, sondern schon während des gesamten Zeitraumes, in dem er seit 1971 - mehr als vier Jahre vor dem Unfall - in der Bundesrepublik Deutschland als Arbeitnehmer beschäftigt war, jährlich ausnahmslos nur rund 11 Monate gegen Entgelt gearbeitet und die restliche Zeit in unbezahltem Urlaub ohne Arbeitseinkommen in seiner Heimat in Italien verbracht. Der Kläger hat somit nicht nur vorübergehend seine Lebenshaltung auf ein in nur 11 Monaten jährlich erzieltes Arbeitseinkommen eingerichtet. Der nach § 571 Abs 1 Satz 2 RVO berechnete JAV ist demnach höher als der vom Kläger jemals tatsächlich erzielte Verdienst und das nach den Feststellungen des LSG aufgrund der Entschließung des Klägers auch künftig von ihm erstrebte Arbeitseinkommen. Nach der Zielvorstellung des Gesetzgebers, die in der Begründung des Entwurfs zur Neuregelung des Rechts der gesetzlichen Unfallversicherung (durch das Unfallversicherungs- Neuregelungsgesetz -UVNG- vom 30. April 1963 - BGBl I 241 -) zum Ausdruck gekommen ist, soll das als unbillig empfundene Ergebnis vermieden werden, ein aus besonderen Gründen vorübergehend niedriges, der normalen Lebenshaltung des Verletzten nicht entsprechendes Arbeitseinkommen als JAV bei der Rentenberechnung zugrunde zu legen und zum Maßstab für die gesamte Laufzeit der Rente zu machen (BT-Drucks IV/120 S 57 zu §§ 570 bis 578; BSGE 28, 274, 276; 44, 12, 14; 51, 178, 180; Brackmann aa0 S 576 h). Daraus folgt zugleich, daß zwar umgekehrt ein nach den §§ 571 bis 576 RVO aus einem nicht nur vorübergehend niedrigen, dem Lebensstandard des Verletzten entsprechenden Arbeitseinkommen ermittelter JAV grundsätzlich nicht erheblich unbillig ist, wohl aber dann, wenn in einem solchen Fall der nach den §§ 571 bis 576 RVO berechnete JAV den "normalen" Lebensstandard übersteigt. Der erkennende Senat hat in Übereinstimmung mit dieser Zielvorstellung die Berechnung des JAV nach dem Dreihundertfachen des Ortslohnes (Mindest-JAV) als nicht in erheblichem Maße unbillig niedrig angesehen, wenn der Lebensstandard des Verletzten bereits im Jahre vor dem Arbeitsunfall nicht nur vorübergehend auf dem Bezug von Renten aus der Sozialversicherung und der Kriegsopferversorgung beruhte (BSGE 44, 12, 14). Ebenfalls aufgrund der Lebensstellung des Verletzten (s § 577 Satz 2 RVO) ist nach den Urteilen des erkennenden Senats vom 11. Februar 1981 (BSGE 51, 178 und 2 RU 69/79) dementsprechend ein nach § 571 Abs 1 Satz 2 RVO berechneter JAV in erheblichem Maße unbillig hoch, wenn sich der Verletzte vor dem Arbeitsunfall auf ein in neun Monaten jährlich erzieltes Arbeitseinkommen eingestellt und in den restlichen drei Monaten schon mehrere Jahre vor dem Unfall unbezahlten Urlaub genommen hatte. Aus den gleichen Erwägungen ist auch im vorliegenden Fall der nach § 571 Abs 1 Satz 2 RVO berechnete JAV nicht nur schlicht unbillig, wie die Vorinstanzen angenommen haben, sondern iS des § 577 RVO auch in erheblichem Maße unbillig. Den vom erkennenden Senat am 11. Februar 1981 (aa0) entschiedenen Fällen lagen zwar Sachverhalte zugrunde, nach denen der regelmäßig in Anspruch genommene unbezahlte Jahresurlaub nicht nur einen, sondern drei Monate betrug und demzufolge das tatsächlich im Jahre vor dem Arbeitsunfall erzielte Arbeitseinkommen um einen höheren Vomhundertsatz (mehr als 30 vH) geringer war als der nach § 571 Abs 1 Satz 2 RVO errechnete JAV (hier rund 9,3 vH). Ausdrücklich hervorgehoben ist jedoch bereits in diesen Urteilen, daß nicht erst eine Erhöhung des tatsächlich im Jahre vor dem Arbeitsunfall erzielten Arbeitseinkommens um ein Drittel oder mehr als Grenze anzusehen ist, die neben anderen Umständen einen nach § 571 Abs 1 Satz 2 RVO errechneten JAV als in erheblichem Maße unbillig hoch erscheinen läßt (s BSGE 51, 178, 182). An seiner Auffassung, daß eine erhebliche Unbilligkeit des nach den §§ 571 bis 576 berechneten JAV nicht unabhängig von den Besonderheiten des Einzelfalles nach einem starren Prozentsatz zu beurteilen ist (s auch Brackmann aa0 S 576 h), hält der Senat fest.

Die auch von den Vorinstanzen mit Recht angenommene Unbilligkeit des nach § 571 Abs 1 Satz 2 RVO berechneten JAV ist jedenfalls nicht schon deshalb unerheblich, weil sie zu einer Erhöhung des tatsächlich in rund 11 Monaten im Jahr vor dem Arbeitsunfall erzielten Arbeitseinkommens um nur knapp weniger als 10 vH führt. Dem steht vielmehr nach der Lage des Falles entgegen, daß ein das tatsächliche Arbeitseinkommen im Jahre vor dem Unfall übersteigender JAV auf Dauer zur Grundlage der nach diesem Maßstab zu bemessenen Verletztenrente gemacht würde, obwohl der Verletzte schon seit mehreren Jahren vor dem Unfall seinen Lebensstandard aufgrund eigener Willensentscheidung nicht nur vorübergehend auf ein wesentlich geringeres Einkommen beschränkt hatte. Die im Urteil des erkennenden Senats (BSGE 51, 178, 182) erwähnte Entscheidung des 8. Senats des Bundessozialgerichts (BSG) vom 11. Oktober 1973 (8/2 RU 199/72), in der eine Einkommensdifferenz von 20 vH bei der Berechnung des JAV als noch nicht in erheblichem Maße unbillig (niedrig) iS des § 577 RVO angesehen worden ist, betrifft einen anderen Sachverhalt. In jenem Fall hatte der Verletzte im Jahre vor dem Arbeitsunfall nur fünf Wochen lang eine entgeltliche Arbeitstätigkeit verrichtet, so daß gemäß § 571 Abs 1 Satz 2 RVO die restliche Zeit durch ein vergleichbares Arbeitseinkommen aus der letzten, mehrere Jahre davor liegenden Tätigkeit zugrunde zu legen war, die um 20 vH geringer entlohnt wurde. Der 8. Senat hat (aa0) unter Hinweis darauf, daß grundsätzlich die Verhältnisse vor dem Unfall maßgebend und kurzzeitige Einkommenslagen für den JAV nicht bestimmend sind (s Urteil des erkennenden Senats in BSGE 32, 169, 173 ff), nicht schon die Einkommensdifferenz von 20 vH für ausschlaggebend gehalten, sondern in Übereinstimmung mit seinem an demselben Tag ergangenen Urteil (BSGE 36, 209, 219 ff) auch darauf abgestellt, daß der Verletzte das höhere Arbeitseinkommen nur für einen kurzen Zeitraum vor dem Unfall erzielt hatte. Eine starre prozentuale Grenze für die Abweichung des nach § 571 Abs 1 Satz 2 RVO berechneten JAV vom tatsächlich erzielten Arbeitseinkommen - dort 20 vH - hat somit auch der 8. Senat in seinem Urteil vom 11. Oktober 1973 (8/2 RU 199/72) nicht für die Annahme einer erheblichen Unbilligkeit iS des § 577 RVO als ausschlaggebend erachtet.

Bei der hiernach im vorliegenden Fall gemäß § 577 RVO gebotenen Feststellung des JAV im Rahmen des § 575 RVO nach billigem Ermessen hat die Beklagte weder die gesetzlichen Grenzen dieses Ermessens überschritten noch von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht (§ 54 Abs 2 Satz 2 des SGG). Neben dem tatsächlichen Arbeitseinkommen im Jahre vor dem Unfall in Höhe von 15.981,36 DM hat die Beklagte für die einkommenslose Zeit einen Betrag von zusätzlich 951,60 DM - den anteiligen Ortslohn - zugrundegelegt und den JAV auf 16.932,96 DM festgestellt. Hierdurch hat sie den Kläger sogar so gestellt, als hätte er im Jahre vor dem Arbeitsunfall ununterbrochen ein Arbeitseinkommen erzielt. Der Lebensstellung und dem Lebensstandard des Klägers vor dem Unfall ist damit - großzügig - Rechnung getragen worden.

Auf die Revision der Beklagten sind danach die angefochtenen Urteile aufzuheben. Die Klage ist abzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG. Sie trägt dem Umstand Rechnung, daß der Kläger im ersten Rechtszug teilweise - hinsichtlich des Grades der MdE - Erfolg gehabt hat.

 

Fundstellen

Breith. 1983, 312

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