Rz. 32
Als Kinder i. S. d. § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG und somit auch i. S. d. § 66 Abs. 1 Satz 3 SGB IX gelten auch Kinder, die über 18 Jahre alt sind und wegen körperlicher, geistiger oder seelischer Behinderung außerstande sind, sich selbst zu unterhalten. Die Eigenschaft als Kind i. S. d. oben genannten Vorschriften bleibt auch über das 25. Lebensjahr hinaus erhalten, wenn die Behinderung vor Vollendung des 25. Lebensjahres eingetreten ist.
Ob ein Kind wegen körperlicher, geistiger oder seelischer Behinderung außerstande ist, sich selbst zu unterhalten, wird nach den Gesamtumständen des Einzelfalls im Zusammenhang mit der R 32.9 EStR beurteilt. Danach werden insbesondere diejenigen Kinder erfasst, deren Schwerbehinderung (§ 2 Abs. 2) festgestellt ist. Zu einer Behinderung können auch Suchtkrankheiten (z. B. Drogenabhängigkeit, Alkoholismus) führen; hier kann die Behinderung auch mittels ärztlicher Bescheinigungen nachgewiesen werden (BFH, Urteil v. 16.4.2002, VIII R 62/99).
Nicht zu den Behinderungen zählen Krankheiten, deren Verlauf sich auf eine im Voraus abschätzbare Dauer von nicht mehr als 6 Monaten beschränkt. Hierzu zählen insbesondere akute Erkrankungen.
Ein Kind mit Behinderung ist nach dem Schreiben des BMF v. 8.2.2016 – IV C 4 – S 2282/07/0001-01 (BStBl. 2016 I S. 226) zu berücksichtigen, wenn es wegen der Behinderung nicht in der Lage ist, mit den ihm zur Verfügung stehenden finanziellen Mitteln seinen gesamten notwendigen Lebensbedarf zu bestreiten. Dieser notwendige Lebensbedarf setzt sich typischerweise aus dem allgemeinen Lebensbedarf (Grundbedarf) und dem individuellen behinderungsbedingten Mehrbedarf zusammen. Als Grundbedarf ist bei der Prüfung der Voraussetzungen der Grundfreibetrag nach § 32a Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 EStG anzusetzen (Veranlagungszeitraum 2022: 10.347,00 EUR; 2021: 9.744,00 EUR). Die kindeseigenen finanziellen Mittel setzen sich aus dem verfügbaren Nettoeinkommen und den Leistungen Dritter zusammen. Bei der Ermittlung des verfügbaren Nettoeinkommens sind
- alle steuerpflichtigen Einkünfte i. S. d. § 2 Abs. 1 EStG (Gewinneinkünfte i. S. d. §§ 13 bis 18 EStG, Überschusseinkünfte i. S. d. §§ 19 bis 23 EStG – auch unter Berücksichtigung privater Veräußerungsgeschäfte),
- alle steuerfreien Einnahmen (z. B. Leistungen nach dem SGB III und BEEG) sowie
- etwaige Steuererstattungen (Einkommensteuer, Kirchensteuer, Solidaritätszuschlag)
zu berücksichtigen. Abzuziehen sind tatsächlich gezahlte Steuern (Steuervorauszahlungen und -nachzahlungen, Steuerabzugsbeträge) sowie die unvermeidbaren Vorsorgeaufwendungen (Beiträge zu einer Basiskranken- und Pflegepflichtversicherung, gesetzliche Sozialabgaben bei Arbeitnehmern). Von den steuerfreien Einnahmen ist – maximal bis zur Höhe der steuerfreien Einnahmen – eine Kostenpauschale von insgesamt 180,00 EUR im Kalenderjahr abzuziehen, wenn nicht höhere Aufwendungen im Zusammenhang mit den steuerfreien Einnahmen nachgewiesen oder glaubhaft gemacht werden (z. B. Kosten eines Rechtsstreits zur Erlangung der steuerfreien Einnahmen).
Die Behinderung muss ursächlich für die Unfähigkeit des Kindes sein, sich selbst zu unterhalten. Allein die Feststellung eines sehr hohen Grades der Behinderung rechtfertigt nicht die Annahme der Ursächlichkeit. Die Ursächlichkeit für die fehlende Fähigkeit zur Sicherung des eigenen Unterhalts ist dagegen in der Regel anzunehmen, wenn:
- sich das Kind in einer Werkstatt für behinderte Menschen befindet,
- das Kind vollstationär in einer Einrichtung für Menschen mit Behinderung untergebracht ist,
- Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung nach dem SGB XII bezogen werden,
- der Grad der Behinderung 50 oder mehr beträgt und das Kind für einen Beruf ausgebildet wird,
- im Ausweis über die Eigenschaft als schwerbehinderter Mensch das Merkmal "H" (hilflos) eingetragen oder im Feststellungsbescheid festgestellt ist, dass die Voraussetzungen für das Merkmal "H" (hilflos) vorliegen,
- eine volle Erwerbsminderungsrente gegenüber dem Kind bewilligt ist oder
- eine dauerhafte volle Erwerbsminderung nach § 45 SGB XII festgestellt ist
(vgl. Schreiben des BMF v. 8.2.2016 – IV C 4 – S 2282/07/0001-01, BStBl. 2016 I S. 226).
Dem Merkzeichen "H" steht die Einstufung in die Pflegegrade 4 oder 5 (bis 31.12.2016: in Pflegestufe III) nach dem SGB XI gleich (vgl. §§ 14 ff. SGB XI). Die Einstufung als schwerstpflegebedürftig ist durch Vorlage des entsprechenden Bescheides nachzuweisen (vgl. Schreiben des BMF, a. a. O.).
Die Behinderung selbst muss zwar vor Vollendung des 25. Lebensjahres eingetreten sein, nicht jedoch die Unfähigkeit, sich selbst zu unterhalten. Ein Kind, das wegen seiner Behinderung außerstande ist, sich selbst zu unterhalten, kann bei Vorliegen der sonstigen Voraussetzungen über das 25. Lebensjahr hinaus ohne altersmäßige Begrenzung berücksichtigt werden.