Entscheidungsstichwort (Thema)
Kein Kindergeldanspruch für nicht freizügigkeitsberechtigte norwegische Staatsangehörige
Leitsatz (redaktionell)
1. Staatsangehörige der EU sowie des EWR (hier: Norwegen) steht gemäß § 62 Abs. 1a Satz 3 EStG kein Kindergeldanspruch zu, wenn sie die Voraussetzungen des unionsrechtlichen Freizügigkeitsrechts nach § 2 Abs. 2 oder 3 FreizügG/EU nicht erfüllen.
2. Ein Aufenthaltsrecht für nicht erwerbstätige Unionsbürger scheidet aus, wenn diese nicht über ausreichende Existenzmittel verfügen (hier: Bezug von Sozialhilfe bzw. zusätzliche Leistungen vom JobCenter). Dem Recht zum Aufenthalt steht jedenfalls eine unangemessene Inanspruchnahme staatlicher Mittel entgegen, insbesondere wenn keine Erwerbstätigkeit vorlag, Sozialhilfeleistungen bezogen werden, wegen des Schulbesuchs der Kinder ein langfristiger Aufenthalt zu erwarten ist und kein Krankenversicherungsschutz besteht. Dem stehen zahlreiche Bezüge zum Inland (Aufenthalt und Erwerbstätigkeit des Kindesvaters in Deutschland; Bezug von Halbwaisenrenten durch die Kinder; mehrjähriger Aufenthalt der Kinder und von Familienangehörigen im Inland), wenn vergleichbare Bezüge auch zum Herkunftsstaat der Kindesmutter bestehen.
3. Es ist unionsrechtlich zulässig, die Gewährung von Kindergeld an einen rechtmäßigen Aufenthalt zu knüpfen. Auch im Übrigen ist die Vorschrift des § 62 Abs. 1a EStG unionrechtskonform und verfassungsgemäß (Anschluss an FG Münster, 07.02.2023, 8 K 903/21 Kg).
Normenkette
FreizügG/EU § 2 Abs. 2-3; EStG § 62 Abs. 1a S. 3
Tatbestand
Streitig ist, ob der Kindergeldanspruch der Klägerin im Zeitraum Januar bis Februar 2022 (Streitzeitraum) nach § 62 Abs. 1a Satz 3 Einkommensteuergesetz (EStG) ausgeschlossen ist.
Die Klägerin ist norwegische Staatsangehörige. Sie hat vier Kinder. Die ersten drei Kinder wurde in den Jahren 2012 bis 2014 in Norwegen geboren, das vierte Kind 2019 in Deutschland. Die Kinder haben die norwegische, das vierte Kind (auch) die deutsche Staatsangehörigkeit. Die Klägerin war seit Geburt ihres ersten Kindes nicht mehr erwerbstätig.
Der Vater der Kinder war irakischer Staatsbürger; er war mit der Klägerin nicht verheiratet. Er lebte und arbeitete in Deutschland. Im November 2016 zog die die Mutter mit ihren Kindern erstmals von Norwegen zum Kindesvater nach Deutschland, nämlich nach C. Seit Januar 2017 erhielt die Klägerin Kindergeld.
Der Kindesvater verstarb 2019 infolge eines Arbeitsunfalls. Aufgrund des Todes des Kindsvaters erhalten die vier Kinder (auch schon im Streitzeitraum) eine Halbwaisenrente von der gesetzlichen Unfallversicherung.
Zu Beginn der Sommerferien 2020 zog die Klägerin mit ihren Kindern von Deutschland nach Norwegen. Aufgrund dessen hob die damals zuständige Familienkasse D die Festsetzung des Kindergeldes gemäß § 70 Abs. 2 EStG auf.
Im Jahr 2021 – nach Angaben der Klägerin zum Schuljahresbeginn, nach dem vorliegenden Mietvertrag spätestens zum 01.09.2021 – zog die Klägerin mit ihren Kindern zurück nach Deutschland. Sie beantragte im Oktober 2021 Kindergeld und fügte Geburtsbescheinigungen der Kinder, Bescheide über die Waisenrente für ihre Kinder, eine Meldebestätigung für die Anmeldung der Meldebehörde der Stadt E zum 01.09.2021, eine Sterbeurkunde des Kindesvaters sowie Nachweise über den Abschluss eines Mietvertrages an. Auf Nachfrage der Beklagten reichte die Klägerin außerdem die Anlage EU und Schulbescheinigungen für die drei schulpflichtigen Kinder nach; in der Anlage EU gab die Klägerin an, nicht arbeitsuchend zu sein.
Im Oktober 2021 machte das Jobcenter … E einen Erstattungsanspruch nach §§ 102 ff. des Zehnten Buchs Sozialgesetzbuch geltend. Mit Bescheid vom 11.11.2021 bewilligte das Jobcenter … E ab September 2021 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes (Arbeitslosengeld II) für die Klägerin und ihre in ihrem Haushalt lebenden Kinder. Auf den sich in der Kindergeldakte befindlichen Bescheid wird wegen der Einzelheiten Bezug genommen.
Mit – nicht verfahrensgegenständlichen – Bescheiden vom 11.11.2021 lehnte die Beklagte die Kindergeldfestsetzung für August 2021 bis Oktober 2021 sowie ab November 2021 ab; die dagegen gerichteten Einsprüche wies sie mit Einspruchsentscheidung vom 02.12.2021 als unbegründet zurück. Hiergegen ist die Klägerin gerichtlich nicht vorgegangen.
Mit weiterem Antrag vom 03.12.2021 beantragte die Klägerin erneut Kindergeld für ihre Kinder. Sie fügte neben den oben genannten Unterlagen den Bescheid über die Bewilligung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes des Jobcenters … E vom 11.11.2021 bei.
Die Beklagte lehnte den Antrag auf Kindergeldgewährung mit verfahrensgegenständlichem Bescheid vom 15.12.2021 für den Zeitraum ab Januar 2022 ebenfalls ab. Zur Begründung führte die Beklagte aus, dass in Deutschland wohnende freizügigkeitsberechtigte Staatsangehörige der Europäischen Union (EU) sowie des Europäischen Wirtschaftsraumes (EWR) ab dem vierten Monat nach Begründung des Wohnsitzes oder gewöhnlichen Aufenthaltes in Deutschland nur dann Ki...