Entscheidungsstichwort (Thema)
Fristwahrung durch Einwurf des Schriftstücks in den Nachtbriefkasten des BFH
Leitsatz (NV)
Zur Beweisführung bei behauptetem rechtzeitigen Einwurf eines Schriftstücks in den Nachtbriefkasten des BFH.
Normenkette
FGO §§ 81, 96 Abs. 1; ZPO §§ 418-419
Tatbestand
I. Das Urteil des Finanzgerichts (FG) wurde dem im Klageverfahren aufgetretenen Prozessbevollmächtigten des Klägers und Beschwerdeführers (Kläger), S, am 6. Dezember 2002 zugestellt. Die Beschwerde des Klägers wegen Nichtzulassung der Revision ging am 7. Januar 2003 und damit ―wegen des Feiertags am 6. Januar 2003― fristgerecht beim Bundesfinanzhof (BFH) ein.
Am 7. Februar 2003 bestellte der Kläger Rechtsanwalt T ebenfalls zum Prozessbevollmächtigten. Dieser beantragte noch mit Schreiben vom selben Tag per Telefax beim BFH die Verlängerung der Begründungsfrist für die Beschwerde. Auf den telefonischen Hinweis der Geschäftsstelle des VIII. Senats des BFH am Nachmittag des 7. Februar 2003, dass die Begründungsfrist bereits abgelaufen sei, erklärte Rechtsanwalt T, der Prozessbevollmächtigte S habe der Anwaltskanzlei B mitgeteilt, dass die Frist für die Beschwerdebegründung erst am 7. Februar 2003 ablaufe; so habe es ihm dann diese Kanzlei weitergegeben.
Am Montag, dem 10. Februar 2003, entnahmen die beiden Bediensteten der Eingangsstelle des BFH dem Nachtbriefkasten einen weiteren Antrag auf Verlängerung der Begründungsfrist und bestätigten auf dem Schreiben, dass Störungen am Nachtbriefkasten nicht festgestellt worden seien. Dieser Antrag war von S gestellt und ist mit dem Hinweis "persönlicher Einwurf am 6. Februar 2003" versehen.
Auf den Hinweis der Vorsitzenden Richterin des VIII. Senats des BFH im Schreiben vom 10. Februar 2003, dass der Antrag nach der schriftlichen Beurkundung der Eingangsstelle des BFH am 7. Februar 2003 in den Nachtbriefkasten geworfen worden sei, erklärte S, er habe das Schreiben persönlich am 6. Februar 2003 zwischen 20.00 Uhr und 21.00 Uhr in Gegenwart eines Zeugen in den Nachtbriefkasten eingeworfen. Ein Irrtum sei ausgeschlossen, weil er sich am 7. Februar 2003 bereits in Spanien befunden habe. Ein weiteres Verfahren beim BFH betreue er nicht.
Der Senat hat die Präsidentin des BFH gemäß §§ 79 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3, 121 der Finanzgerichtsordnung (FGO) um Auskunft ersucht über
- die allgemeine Funktionsweise und mögliche vorhandene Fehlerquellen des Nachtbriefkastens,
- mögliche konkrete Störungen des Nachtbriefkastens,
- das allgemeine Verfahren bei der Leerung des Nachtbriefkastens und
- den konkreten Ablauf der Leerung am Freitag, dem 7. Februar 2003, und am Montag, dem 10. Februar 2003.
Der Senat nimmt auf die Antwort zu diesem Auskunftsersuchen Bezug.
Der Senat hat weiter Beweis erhoben
- über die Behauptung des Klägers, sein ehemaliger Prozessbevollmächtigter S habe das Schreiben mit dem Antrag auf Verlängerung der Frist für die Begründung der Beschwerde wegen Nichtzulassung der Revision im Urteil des Finanzgerichts Berlin vom 30. Oktober 2002 9 K 9222/02 persönlich am 6. Februar 2003 zwischen 20.00 Uhr und 21.00 Uhr in den Nachtbriefkasten des BFH eingeworfen,
- durch Vernehmung des Wirtschaftsprüfers und Steuerberaters Dipl.-Betriebsw. S und des von ihm benannten Zeugen W.
Er nimmt hinsichtlich der Aussagen dieser Zeugen auf die Sitzungsniederschrift Bezug.
Der Kläger beantragt, die Revision gegen das Urteil des FG Berlin vom 30. Oktober 2002 9 K 9222/02 zuzulassen.
Der Beklagte und Beschwerdegegner (das Finanzamt ―FA―) hat keinen Antrag gestellt.
Entscheidungsgründe
II. Die Beschwerde ist unzulässig.
Sie wurde zwar fristgerecht erhoben, aber nicht innerhalb der hier am 6. Februar 2003 abgelaufenen Frist des § 116 Abs. 3 Satz 1 FGO begründet. Der Antrag auf Verlängerung der Begründungsfrist, der nach § 116 Abs. 3 Satz 4 FGO innerhalb der vorgenannten Frist beim BFH hätte angebracht werden müssen, ist nicht rechtzeitig gestellt worden.
Der Antrag hätte am 6. Februar 2003 beim BFH eingehen müssen; der Senat konnte sich jedoch nicht davon überzeugen, dass er noch an diesem Tag in den Nachtbriefkasten des BFH eingeworfen wurde.
a) Die Präsidentin des BFH hat in ihrer vom Senat gemäß § 79 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3, § 121 FGO angeforderten amtlichen Auskunft bestätigt, dass der Nachtbriefkasten fehlerfrei funktioniert hat, dass Störungen in den letzten 15 Jahren nicht mehr bekannt geworden sind und dass der Nachtbriefkasten am Freitag, dem 7. Februar 2003, und am Montag, dem 10. Februar 2003, durch zwei Bedienstete des BFH zur üblichen Zeit zwischen 7.30 Uhr und 8.00 Uhr geleert und der Brief mit dem Verlängerungsantrag bei der Leerung am 7. Februar 2003 nicht vorgefunden worden sei. Die Beweisaufnahme hat nicht ergeben, dass dieser Sachverhalt unzutreffend ist.
aa) Durch einen gerichtlichen Eingangsstempel wird Beweis dafür begründet, dass ein Schriftsatz an dem in ihm angegebenen Tag eingegangen ist. Dieser Beweis kann durch Gegenbeweis entkräftet werden, der die volle Überzeugung des Gerichts von der Rechtzeitigkeit der Prozesshandlung erfordert. Bloße Zweifel an der Richtigkeit der urkundlichen Feststellungen genügen nicht, vielmehr muss zur Überzeugung des Gerichts jegliche Möglichkeit ihrer Richtigkeit ausgeschlossen sein (ständige Rechtsprechung des BFH, vgl. u.a. Senatsbeschluss vom 22. Dezember 1988 VIII B 131/87, BFHE 155, 286, BStBl II 1989, 314, und Senatsurteil vom 7. Juli 1998 VIII R 83/96, BFH/NV 1999, 475, m.w.N.; Gräber/Koch, Finanzgerichtsordnung, 5. Aufl., § 82 Rz. 40, m.w.N.; ausführlich zur Führung des Gegenbeweises gegen die Richtigkeit des Eingangsstempels bei Einwurf eines Schriftsatzes in den Nachtbriefkasten des Gerichts Urteil des Bundesgerichtshofs ―BGH― vom 30. März 2000 IX ZR 251/99, Neue Juristische Wochenschrift ―NJW― 2000, 1872).
Der Senat konnte aufgrund der Zeugenaussagen nicht die Überzeugung gewinnen, dass der Eingangsstempel falsch ist. Er hat bei dieser Beurteilung berücksichtigt, dass der Zeuge S aufgrund einer falschen Fristberechnung vom Fristablauf am Freitag, dem 7. Februar 2003, ausging, dass er als der für die Fristwahrung verantwortliche Prozessbevollmächtigte ein erhebliches Eigeninteresse am Ausgang des Verfahrens hat und von ihm am letzten Tag der Frist erwartet werden konnte, dass er von der ihm zumutbaren Möglichkeit einer objektiven Beweissicherung durch Übermittlung des Antrags per Telefax Gebrauch macht. Der Zeuge W konnte nur bestätigen, dass er zusammen mit dem Zeugen S am Abend des 6. Februar 2003 zum BFH gefahren ist; er hatte jedoch weder gesehen, dass der Brief in den Nachtbriefkasten eingeworfen wurde noch hatte er Kenntnis vom Inhalt dieses Briefes und der Bedeutung des Vorgangs.
bb) Bei Berücksichtigung dieses Beweisergebnisses konnte sich der Senat auch nicht davon überzeugen, dass es zu Unregelmäßigkeiten bei der Leerung des Nachtbriefkastens am Freitag, dem 7. Februar 2003, gekommen ist (z.B. durch Unterlassung der Leerung des Briefkastens an diesem Tag oder durch ein unbemerktes Verbleiben des Schreibens im Fach "V (vor 24.00 Uhr)" der Posttasche). Nach der amtlichen Auskunft der Präsidentin des BFH wurde der Nachtbriefkasten an diesem Tag wie üblich geleert; das Schreiben hätte deshalb bei dieser Leerung vorgefunden werden müssen, wenn die Aussage des Zeugen S zutreffen würde. Die Sachlage ist insoweit unklar geblieben, eine weitere Sachaufklärung nicht möglich. Nach den Regeln der objektiven Beweislast (Feststellungslast) trifft das Risiko der fehlenden Aufklärbarkeit den Kläger. Lässt sich der Nachweis für die fristgerechte Einlegung eines Rechtsbehelfs oder Rechtsmittels nicht führen, so hat der Rechtsbehelfs- bzw. Rechtsmittelführer die Folgen der Beweislosigkeit zu tragen (vgl. u.a. BFH-Urteil vom 21. April 1988 IV R 200/85, BFH/NV 1989, 172; Tipke/Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, 16. Aufl., § 96 FGO Tz. 86, m.w.N.).
b) Eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen der Versäumung eines rechtzeitigen Antrags auf Fristverlängerung gemäß § 116 Abs. 3 Satz 4 FGO ist nicht möglich (BFH-Beschluss vom 16. Dezember 2002 VII B 99/02, BFHE 200, 491, BStBl II 2003, 316). Gründe für eine Wiedereinsetzung wegen Versäumung der Beschwerdebegründungsfrist hat der Kläger nicht dargelegt (§ 56 Abs. 1 und 2 FGO).
Fundstellen