Entscheidungsstichwort (Thema)
Revisionszulassung bei Schätzungsfehlern
Leitsatz (NV)
- Wird die Zulassung der Revision auf das Vorbringen gestützt, dem FG sei ein Verstoß gegen die Sachaufklärungspflicht des § 76 Abs. 1 FGO unterlaufen, weil es auch ohne entsprechenden Beweisantritt von Amts wegen den Sachverhalt weiter hätte aufklären müssen, sind in der Beschwerdebegründung Ausführungen dazu erforderlich, welche Beweise das FG von Amts wegen hätte erheben müssen, aus welchen Gründen sich ihm die Notwendigkeit einer Beweiserhebung auch ohne Antrag hätte aufdrängen müssen, welche entscheidungserheblichen Tatsachen sich bei einer Beweisaufnahme voraussichtlich ergeben hätten und inwiefern die Beweiserhebung auf der Grundlage des materiell-rechtlichen Standpunkts des FG zu einer anderen Entscheidung hätte führen können.
- Unterläuft dem FG im Rahmen der Prüfung einer Geldverkehrsrechnung ein Verstoß gegen die Denkgesetze, liegt darin nicht zwingend gleichzeitig ein besonders schwerwiegender materiell-rechtlicher Fehler, der nach den Vorstellungen des Gesetzgebers ausnahmsweise zur Zulassung der Revision führen kann. Dies ist jedenfalls dann nicht der Fall, wenn sich das Schätzungsergebnis trotz des dem FG im Rahmen der Würdigung einer Schätzungsgrundlage unterlaufenen Verstoßes gegen die Denkgesetze nicht als offensichtlich realitätsfremd darstellt (Abgrenzung zum BFH-Beschluss vom 13. Oktober 2003 IV B 85/02, BFHE 203, 404, BStBl II 2004, 25).
Normenkette
FGO § 115 Abs. 2, § 116 Abs. 3 S. 3, § 76 Abs. 1
Verfahrensgang
FG des Landes Brandenburg (Urteil vom 26.02.2003; Aktenzeichen 4 K 1174/01) |
Gründe
Die Beschwerde ist unzulässig.
Der Kläger und Beschwerdeführer (Kläger) hat keinen der Zulassungsgründe des § 115 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung (FGO) in einer den gesetzlichen Anforderungen (§ 116 Abs. 3 Satz 3 FGO) entsprechenden Weise dargelegt.
1. Wird ein Verstoß gegen die Sachaufklärungspflicht (§ 76 Abs. 1 FGO) mit der Begründung gerügt, das Finanzgericht (FG) hätte auch ohne entsprechenden Beweisantritt von Amts wegen den Sachverhalt weiter aufklären müssen, so sind nach ständiger Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH) Ausführungen dazu erforderlich, welche Beweise das FG von Amts wegen hätte erheben müssen, aus welchen Gründen sich ihm die Notwendigkeit einer Beweiserhebung auch ohne Antrag hätte aufdrängen müssen, welche entscheidungserheblichen Tatsachen sich bei einer Beweisaufnahme voraussichtlich ergeben hätten und inwiefern die Beweiserhebung auf der Grundlage des materiell-rechtlichen Standpunkts des FG zu einer anderen Entscheidung hätte führen können (BFH-Urteil vom 6. Juni 2000 VII R 72/99, BFHE 192, 390; Senatsbeschluss vom 25. Juni 2002 X B 199/01, BFH/NV 2002, 1332).
a) Vorliegend fehlt es schon an der Benennung eines bestimmten Beweismittels, von dem das FG hätte Gebrauch machen sollen. Allein durch das Vorbringen, das FG hätte "zumindest eine weitere Prüfung anordnen müssen", wird kein bestimmtes Beweismittel bezeichnet.
b) Auch hat der Kläger nicht hinreichend dargelegt, aus welchen Gründen sich dem FG die Notwendigkeit einer Beweiserhebung auch ohne entsprechenden Antrag hätte aufdrängen müssen. Hierzu bringt er zunächst vor, das FG hätte bei genauem Aktenstudium erkennen können, dass die Prüferin ihrer Aufgabe nicht gewachsen gewesen sei; jedenfalls hätte das FG davon ausgehen müssen, dass die Feststellungen der Prüferin einer genauen Betrachtung bedurft hätten. Denn in den Handakten der Prüferin seien mehrere Vermerke zur Besteuerung ausländischer Künstler nach § 50a des Einkommensteuergesetzes (EStG) sowie zur Bemessung der in der Nutzung betrieblicher Kraftfahrzeuge für private Zwecke liegenden Entnahme nach der 1 %-Regelung enthalten, aus denen sich ergebe, dass die Prüferin mangelnde Rechtskenntnis besitze.
Indes hat der Kläger nicht dargelegt, warum sich dem FG der Schluss aus den vom Kläger behaupteten Wissenslücken der Prüferin in den ―im Klageverfahren nicht streitigen― Bereichen der Abzugssteuer und der 1 %-Regelung auf eine entsprechende Unkenntnis hinsichtlich der Durchführung einer Geldverkehrsrechnung und einer Nachkalkulation aufdrängen musste. Im Übrigen ist dieses Vorbringen schon deshalb unschlüssig, weil Gegenstand des Klageverfahrens die Änderungsbescheide in der Gestalt der Einspruchsentscheidungen waren (§ 44 Abs. 2 FGO). Der Beklagte und Beschwerdegegner (das Finanzamt ―FA―) hat aber in seinen 37-seitigen Einspruchsentscheidungen und den ausführlichen vorangegangenen Erörterungsschreiben eine gegenüber der Prüferin eigenständige Würdigung des Sachverhalts vorgenommen und die aufgrund der Betriebsprüfung ergangenen Bescheide in zahlreichen Einzelpunkten geändert. Anhaltspunkte dafür, dass das FG auch bei den Bearbeitern in der Rechtsbehelfsstelle des FA mangelnde Rechtskenntnisse hätte annehmen müssen, sind aber weder vom Kläger vorgetragen noch sonst ersichtlich.
Das weitere Vorbringen des Klägers, das FG hätte aus bestimmten Vermerken der Prüferin "bei verständiger Würdigung" den Schluss ziehen müssen, dass die vorgelegten, zu unterschiedlichen Ergebnissen führenden Buchhaltungen verschiedener Steuerberater "durchaus auf gleichen Geschäftsvorfällen beruhten", ist schon deshalb unschlüssig, weil der Kläger weder in seiner Beschwerdebegründung noch in dem in der mündlichen Verhandlung vor dem FG übergebenen Schriftsatz im Einzelnen nachvollziehbar dargelegt hat, wie die Unterschiede zwischen den Buchhaltungen und Jahresabschlüssen zu erklären sind.
2. Das vorstehend wiedergegebene Vorbringen des Klägers, das FG habe wesentlichen Akteninhalt nicht zur Kenntnis genommen, erfüllt auch unter dem Gesichtspunkt eines Verstoßes gegen den klaren Inhalt der Akten nicht die Darlegungsvoraussetzungen des § 116 Abs. 3 Satz 3 FGO. Ein Verstoß gegen den klaren Inhalt der Akten und damit gegen § 96 Abs. 1 Satz 1 FGO ist dann gegeben, wenn das FG seiner Entscheidung einen Sachverhalt zugrunde gelegt hat, der dem schriftlichen oder protokollierten Vorbringen der Beteiligten nicht entspricht, oder wenn es eine nach den Akten klar feststehende Tatsache unberücksichtigt gelassen hat und die angefochtene Entscheidung darauf beruht (BFH-Beschlüsse vom 12. September 1996 X B 76/96, BFH/NV 1997, 246; vom 17. Juni 1997 X B 193/96, BFH/NV 1997, 794; vom 20. August 1997 I B 128/96, BFH/NV 1998, 353; vom 18. Mai 2000 VII B 36/99, BFH/NV 2000, 1355, und vom 2. April 2002 X B 56/01, BFH/NV 2002, 947).
Vorliegend war aber ―wie unter 1. dargelegt― die sich angeblich aus den Akten ergebende fehlende Rechtskenntnis der Prüferin hinsichtlich der Abzugssteuer und der 1 %-Regelung für die streitige Schätzung nicht entscheidungserheblich. Auch aus den Vermerken der Prüferin zu den Unterschieden der beiden Buchhaltungen ergibt sich schon nach dem eigenen Vorbringen des Klägers gerade nicht die Übereinstimmung dieser Zahlenwerke.
3. Auch die sinngemäß erhobene Rüge der Verletzung des Anspruchs auf Gewährung rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 des Grundgesetzes ―GG―) ist nicht schlüssig vorgetragen.
Der Kläger behauptet insoweit, ein in der mündlichen Verhandlung von seinem damaligen Prozessbevollmächtigten übergebener Schriftsatz sei "sinngemäß" mit den Worten "Sie glauben doch nicht, dass wir das noch lesen" kommentiert worden. Die Erörterung der Problematik der Tournee des Sängers N (N-Tournee) sei nach 30 Minuten auf einen Hinweis des FA, dass es hier "um § 50a AO" (gemeint wohl: § 50a EStG) gehe, mit der Begründung beendet worden, dass dies nicht Verfahrensgegenstand sei. Damit habe das FG zugleich den Umfang des Sachverhalts, über den es zu entscheiden gehabt habe, verkannt.
Abgesehen davon, dass sich dem Protokoll der mündlichen Verhandlung nichts entnehmen lässt, was für die Darstellung des Klägers sprechen könnte, lässt das angefochtene Urteil klar erkennen, dass das FG sich sowohl mit dem in der mündlichen Verhandlung übergebenen Schriftsatz (Bl. 6, 9 des Urteils) als auch mit der N-Tournee (Bl. 5, 11 des Urteils) befasst hat.
Dass dem FG in der Würdigung des genannten Schriftsatzes und des Sachverhaltskomplexes "N-Tournee" möglicherweise materiell-rechtliche Fehler unterlaufen sind, kann der Kläger jedenfalls nicht mit der Behauptung, das FG habe seinen Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt, rügen.
4. Der Kläger hat auch nicht hinreichend dargelegt, dass die Revision zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung zuzulassen sei (§ 115 Abs. 2 Nr. 2 Alt. 2 FGO). Insoweit bringt der Kläger vor, das Vorgehen des FG widerspreche dem BFH-Urteil vom 20. September 1989 X R 39/87 (BFHE 158, 301, BStBl II 1990, 109), wo "in einem ähnlich gelagerten Fall" das Urteil eines FG, das seine eigene Schätzungsbefugnis nicht wahrgenommen habe, als rechtsfehlerhaft aufgehoben worden sei.
Indes hatte der Senat in dem vom Kläger angeführten Urteil in BFHE 158, 301, BStBl II 1990, 109 die Entscheidung des FG deshalb aufgehoben, weil dies die Sache nach § 100 Abs. 2 Satz 2 FGO in der bis zum 31. Dezember 1992 geltenden Fassung ohne eigene Sachentscheidung an das FA zurückverwiesen hatte. Damit ist der vorliegende Fall, in dem das FG eine eigene Entscheidung über die Rechtmäßigkeit der Schätzung getroffen hat, schon im Ansatz nicht vergleichbar. Dass das FG im angefochtenen Urteil eine eigene Schätzungsbefugnis wahrnehmen wollte und wahrgenommen hat, zeigt sich ―wenn auch zu Lasten des Klägers― schon daran, dass das FG trotz des von ihm als nachgewiesen erachteten Sachverhaltskomplexes "Weihnachtsbeutel" und der damit einhergehenden rechnerischen Minderung des Wareneinsatzes für 1994 das Ergebnis der Hinzuschätzung nicht verändert hat, weil es davon ausging, dass der niedrigere Wareneinsatz durch anderweitige Buchungsfehler kompensiert werde.
Im Übrigen hat es der Kläger versäumt, einen abstrakten Rechtssatz im angefochtenen FG-Urteil zu bezeichnen, was nach ständiger Rechtsprechung zur Darlegung einer Divergenzrüge erforderlich gewesen wäre (vgl. z.B. BFH-Beschlüsse vom 7. August 2002 VII B 214/01, BFH/NV 2002, 1606, und vom 24. März 2003 II B 41/02, BFH/NV 2003, 1067).
5. In seinem Schriftsatz vom 25. August 2003, der allerdings erst nach Ablauf der bis zum 24. Juni 2003 verlängerten Beschwerdebegründungsfrist einging, bezeichnet der Kläger die Ausführungen des FG zur Entnahme des Gewinns aus der Veranstaltung der N-Tournee als "nicht nachvollziehbar".
Auch wenn der Kläger damit möglicherweise sinngemäß einen Verstoß des FG gegen die Denkgesetze bei der Behandlung der N-Tournee im Rahmen der Geldverkehrsrechnung rügen wollte, hat er jedenfalls nicht dargelegt, dass es sich dabei um einen besonders schwerwiegenden materiell-rechtlichen Fehler handelt, der nach den Vorstellungen des Gesetzgebers (vgl. Begründung zum Entwurf eines 2.FGO-Änderungsgesetzes, BTDrucks 14/4061, 9) und der Rechtsprechung des BFH (vgl. Beschluss vom 13. Oktober 2003 IV B 85/02, BFHE 203, 404, BStBl II 2004, 25, m.w.N.) ausnahmsweise zur Zulassung der Revision führen kann.
Der Kläger selbst hatte zunächst alle von ihm getätigten Aufwendungen für die im Streitjahr 1995 durchgeführte N-Tournee als Betriebsausgaben gebucht, dann aber seinen Gewinn um 85 100 DM erhöht, weil er der Ansicht war, dass nur die Hälfte des aus dieser Tournee resultierenden Verlusts auf ihn entfiel. Die Prüferin vertrat hingegen die Auffassung, dass das Ergebnis der N-Tournee in voller Höhe dem Kläger zuzurechnen sei, erhöhte allerdings mit der Begründung, der Kläger habe seine Mitwirkungspflichten verletzt, den Gewinn und entsprechend die Privatentnahmen um weitere 84 696 DM. Sie berücksichtigte diese Erhöhung der Entnahmen aber nicht auch im Rahmen der Geldverkehrsrechnung als Mittelzufluss. Dadurch ergab sich in der Geldverkehrsrechnung für 1995 ein Fehlbetrag, den die Prüferin zum Anlass nahm, eine weitere Hinzuschätzung von Betriebseinnahmen und Umsätzen vorzunehmen. In der Einspruchsentscheidung ging das FA weiterhin davon aus, dass der Kläger alleiniger Veranstalter der N-Tournee gewesen sei. Es rechnete ihm daher den gesamten Verlust aus dieser Tournee zu und machte zu diesem Zweck sowohl die vom Kläger selbst als auch die von der Prüferin vorgenommene Gewinnerhöhung rückgängig (insgesamt 169 796 DM). Diesen Betrag berücksichtigte es auch in der Geldverkehrsrechnung als Mittelabfluss, woraus sich ein noch höherer Differenzbetrag ergab, der zu einer weiteren Hinzuschätzung von Betriebseinnahmen und Umsätzen sowie zu einer Verböserung der Umsatzsteuerfestsetzung für 1995 führte. Dass in der Geldverkehrsrechnung damit weiterhin der von der Prüferin zu gering angesetzte Entnahmebetrag fortwirkte und zu einer rechnerisch überhöhten Mitteldifferenz führte, haben weder FA noch FG erkannt. Das FG hat zu dem entsprechenden ―wenn auch knappen― Klagevorbringen lediglich ausgeführt, es könne nicht erkennen, inwieweit die Rückgängigmachung der Gewinnerhöhung zu einer Erhöhung der Privatentnahmen führen könne.
Es kann dahingestellt bleiben, ob hierin ein Verstoß gegen die Denkgesetze und damit ein materiell-rechtlicher Fehler des FG liegt. Nicht jeder Verstoß gegen die Denkgesetze stellt gleich einen "besonders schwerwiegenden Fehler" im Sinne der zitierten Gesetzesbegründung zum 2.FGO-Änderungsgesetz und der darauf beruhenden Rechtsprechung dar. Dies ist vielmehr nur dann der Fall, wenn die Entscheidung des FG objektiv willkürlich erscheint oder auf sachfremden Erwägungen beruht und unter keinem denkbaren Gesichtspunkt rechtlich vertretbar ist. Der IV. Senat hat in seinem Beschluss in BFHE 203, 404, BStBl II 2004, 25 eine vom FG bestätigte Schätzung des dort beklagten FA für objektiv willkürlich gehalten, bei der aus dem Betrieb einer Taxe auf der Basis einer Wegstrecke von 80 000 km ein Gewinn von 94 000 DM, der mehr als 85 % des Umsatzes betragen sollte, angenommen worden war. Dort hätte dem FA und dem FG auf den ersten Blick einleuchten müssen, dass ein "eklatant falsches Schätzungsergebnis" gefunden worden sei.
Hingegen stellt sich das Schätzungsergebnis im vorliegenden Fall jedenfalls nicht als offensichtlich realitätsfremd dar. Ein etwaiger Verstoß des FG gegen die Denkgesetze betrifft lediglich eine einzige der im Streitfall verwendeten zahlreichen Schätzungsgrundlagen, führt aber nicht dazu, dass sich auch das Gesamtergebnis der Schätzung als auf den ersten Blick eklatant fehlerhaft darstellt. Ein Rechtsfehler, der nur auf einer Vorstufe der Schätzung, nicht aber auch in deren Gesamtergebnis "offensichtlich" ist, kann nicht als "besonders schwerwiegend" im Sinne der Rechtsprechung zu dieser Erweiterung der in § 115 Abs. 2 FGO niedergelegten Zulassungsgründe angesehen werden. Anderenfalls könnte der BFH mittels einer Rüge besonders schwerwiegender materiell-rechtlicher Fehler gezwungen werden, die gesamten Steuerakten auf mögliche Zulassungsgrunde durchzusehen, was im Verfahren der Nichtzulassungsbeschwerde aber gerade nicht der Fall sein soll (vgl. BFH-Beschluss vom 27. Juni 1985 I B 27/85, BFHE 144, 137, BStBl II 1985, 625).
6. Von einer Darstellung des Sachverhalts sowie einer weiteren Begründung sieht der Senat gemäß § 116 Abs. 5 Satz 2 Halbsatz 2 FGO ab.
Fundstellen
Haufe-Index 1151214 |
BFH/NV 2004, 1112 |