Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorlage an den EuGH: Versagung der Steuerfreiheit einer innergemeinschaftlichen Lieferung bei nicht rechtzeitigem Buchnachweis?
Leitsatz (amtlich)
Dem EuGH werden folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:
1. Darf die Finanzverwaltung die Steuerfreiheit einer innergemeinschaftlichen Lieferung, die zweifelsfrei vorliegt, allein mit der Begründung versagen, der Steuerpflichtige habe den dafür vorgeschriebenen Buchnachweis nicht rechtzeitig geführt?
2. Kommt es zur Beantwortung der Frage darauf an, ob der Steuerpflichtige zunächst bewusst das Vorliegen einer innergemeinschaftlichen Lieferung verschleiert hat?
Normenkette
UStG 1993 § 4 Nr. 1 Buchst. b, § 6a Abs. 1, 3; UStDV 1993 § 17a Abs. 1, § 17c Abs. 1; EWGRL 388/77 Art. 28c Teil A Buchst. a
Verfahrensgang
Nachgehend
Tatbestand
I. Der Kläger und Revisionskläger (Kläger) ist Rechtsnachfolger einer KG, die im Streitjahr (1994) Organträger einer Autohaus-GmbH war. Die GmbH verkaufte als Vertragshändler der A-AG für diese PKW.
Im Frühjahr 1994 bestellte der belgische Autohändler B bei der GmbH 20 Vorführwagen der Marke A zum Preis von insgesamt 1 018 200 DM. Hierüber schlossen B und die GmbH einen schriftlichen Kaufvertrag ab. B überwies die Kaufpreise netto auf ein speziell für die Abwicklung eingerichtetes Konto der GmbH und holte die Fahrzeuge nach Eingang des Geldes mit einem eigenen Transporter vom Hof der GmbH ab.
Da der GmbH aus Gebietsschutzgründen nur für Verkäufe an Abnehmer in der näheren Umgebung ein Provisionsanspruch gegenüber der A-AG zustand, schaltete sie den Kfz-Händler S ein. Gegen eine Provision von … DM pro Fahrzeug erklärte sich dieser dazu bereit, die Vorführwagen pro forma an- und weiterzuverkaufen. Die GmbH schloss daraufhin mit S "Kaufverträge" über die o.g. PKW ab und stellte hierüber Rechnungen unter Ausweis von Umsatzsteuer aus. S überlies der GmbH Blanko-Rechnungsformulare, auf denen sodann im Namen von S Rechnungen über die Lieferungen der Vorführwagen an B ausgestellt wurden.
In seinen Umsatzsteuer-Voranmeldungen für die Monate Juli, August und September 1994 machte S ihm von der GmbH in Rechnung gestellte Umsatzsteuer (152 730 DM) als Vorsteuer geltend; diese sollte anschließend an die GmbH weitergeleitet werden.
Der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt ―FA―) führte im Oktober 1994 eine Umsatzsteuer-Sonderprüfung bei S durch. Das FA wertete die Verkäufe der GmbH an S als Scheinlieferungen, weil S nur formal als "Strohmann" zwischengeschaltet gewesen sei. Daher versagte das FA dem S den Vorsteuerabzug aus den Rechnungen.
Der Kläger, der den Vorgang zunächst als steuerpflichtigen Umsatz behandelt hatte, erfuhr am 15. November 1994 von dem Ergebnis der Umsatzsteuer-Sonderprüfung und setzte daraufhin S mit Gutschriften vom 23. November 1994 davon in Kenntnis, dass die Rechnungen vom Juli bis September 1994 "gegenstandslos" seien. Außerdem stornierte er am 25. November 1994 die jeweiligen Buchungen. Die entsprechenden Erlöse buchte er sodann auf dem Konto "steuerfreie innergemeinschaftliche Lieferungen" und berücksichtigte diesen Vorgang dementsprechend in der Umsatzsteuer-Voranmeldung für November 1994.
Das FA erließ am 25. Juni 1996 einen geänderten Umsatzsteuerbescheid für 1994, in dem es die Umsatzsteuer aus den Rechnungen an S nach § 14 Abs. 3 des Umsatzsteuergesetzes (UStG) in Höhe von 152 730 DM festsetzte, weil diese Lieferungen nicht ausgeführt worden seien. Diese Umsatzsteuer wurde im Jahr 2001 erlassen.
Durch weiteren Umsatzsteuer-Änderungsbescheid für 1994 vom 12. Februar 1998 erhöhte das FA die steuerpflichtigen Umsätze des Klägers um 1 018 200 DM. Es versagte dem Kläger für die Lieferung der Vorführwagen an B die Steuerfreiheit, weil die dafür erforderlichen Aufzeichnungen nicht laufend und unmittelbar nach Ausführung des jeweiligen Umsatzes vorgenommen worden seien.
Einspruch und Klage hatten keinen Erfolg. Das Finanzgericht (FG) folgte der Auffassung des FA. Sein Urteil ist in Entscheidungen der Finanzgerichte (EFG) 2004, 301 abgedruckt.
Mit der Revision trägt der Kläger im Wesentlichen vor: Zu Beginn der Betriebsprüfung bei S habe es zwar noch keine Rechnungen von der GmbH an B gegeben, wohl aber einen Buchnachweis in Form eines Kaufvertrages, einer Überweisung des Kaufpreises und einer Abholbestätigung des B. Aus den Geschäftspapieren der GmbH sowie aus den Kontobewegungen sei eindeutig zu erkennen, um welchen Abnehmer es sich gehandelt habe und dass es sich um eine innergemeinschaftliche Lieferung gehandelt habe. Der damit rechtzeitig vorliegende Buchnachweis habe später durch die Vorlage der Rechnung der GmbH an B ergänzt werden dürfen.
Der Kläger beantragt sinngemäß, unter Aufhebung der Vorentscheidung den Umsatzsteuer-Änderungsbescheid für 1994 vom 12. Februar 1998 dahin gehend zu ändern, dass Umsätze in Höhe von 1 018 200 DM als steuerfrei behandelt werden.
Das FA beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
II. Der Senat legt dem Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften (EuGH) die im Leitsatz bezeichneten Fragen zur Auslegung des Gemeinschaftsrechtes vor und setzt das Verfahren bis zur Entscheidung des EuGH aus.
1. Zur Rechtslage nach nationalem Recht:
a) Nach § 4 Nr. 1 Buchst. b UStG 1993 sind von den unter § 1 Abs. 1 Nr. 1 UStG fallenden Umsätzen die innergemeinschaftlichen Lieferungen (§ 6a UStG) steuerfrei.
Eine innergemeinschaftliche Lieferung setzt nach § 6a Abs. 1 UStG u.a. voraus, dass der Unternehmer oder sein Abnehmer den Gegenstand der Lieferung in das übrige Gemeinschaftsgebiet befördert oder versendet (§ 6a Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 UStG). Nach § 6a Abs. 3 Satz 1 UStG müssen die Voraussetzungen des § 6a Abs. 1 UStG vom Unternehmer nachgewiesen sein. Das Bundesministerium der Finanzen (BMF) kann mit Zustimmung des Bundesrates durch Rechtsverordnung bestimmen, wie der Unternehmer den Nachweis zu führen hat (§ 6a Abs. 3 Satz 2 UStG).
Dazu ist in § 17a Abs. 1 der Umsatzsteuer-Durchführungsverordnung 1993 (UStDV) geregelt worden, dass bei innergemeinschaftlichen Lieferungen der Unternehmer im Geltungsbereich dieser Verordnung durch Belege nachweisen muss, dass er oder der Abnehmer den Gegenstand der Lieferung in das übrige Gemeinschaftsgebiet befördert oder versendet hat; dies muss sich aus den Belegen eindeutig und leicht nachprüfbar ergeben (sog. Belegnachweis).
Ferner bestimmt § 17c Abs. 1 Satz 1 UStDV, dass bei innergemeinschaftlichen Lieferungen der Unternehmer im Geltungsbereich dieser Verordnung die Voraussetzungen der Steuerbefreiung einschließlich Umsatzsteuer-Identifikationsnummer des Abnehmers buchmäßig nachweisen muss; die Voraussetzungen müssen gemäß § 17c Abs. 1 Satz 2 UStDV "eindeutig und leicht nachprüfbar aus der Buchführung zu ersehen" sein (sog. Buchnachweis).
b) Nach der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH) zu den Anforderungen an den Nachweis einer Ausfuhrlieferung in das Drittlandsgebiet ist unter einem "Buchnachweis" ein Nachweis durch Bücher oder Aufzeichnungen in Verbindung mit Belegen zu verstehen. Der Buchnachweis verlangt deshalb stets mehr als den bloßen Nachweis durch Aufzeichnungen oder Belege. Belege werden durch die entsprechenden ―und erforderlichen― Hinweise und Bezugnahmen in den stets notwendigen Aufzeichnungen Bestandteil der Buchführung (oder gesonderte Aufzeichnungen) und damit des Buchnachweises, so dass beide eine Einheit bilden (vgl. BFH-Beschluss vom 25. Oktober 1979 V B 5/79, BFHE 129, 226, BStBl II 1980, 110).
Ferner hat der BFH zu den Anforderungen an den Nachweis einer Ausfuhrlieferung in das Drittlandsgebiet entschieden, dass der Ausfuhrnachweis als Bestandteil des buchmäßigen Nachweises noch bis zur letzten mündlichen Verhandlung vor dem FG geführt werden kann. Dagegen müssen die für den buchmäßigen Nachweis erforderlichen Aufzeichnungen "laufend und unmittelbar nach Ausführung der jeweiligen Umsätze" vorgenommen werden. Dieses Erfordernis ergibt sich daraus, dass die Voraussetzungen der Steuerbefreiungsvorschrift "eindeutig und leicht nachprüfbar aus der Buchführung zu ersehen sein" müssen (vgl. § 13 Abs. 1 Satz 2 UStDV; ferner BFH-Urteil vom 28. Februar 1980 V R 118/76, BFHE 130, 118, BStBl II 1980, 415).
Diese Auffassung wird auch von der Finanzverwaltung vertreten (vgl. Abschn. 136 Abs. 3 UStR) und ist einhellige Meinung in der Literatur.
c) Geht man davon aus, dass diese Anforderungen angesichts des identischen Wortlauts der einschlägigen Vorschriften auch für den Nachweis einer innergemeinschaftlichen Lieferung (§ 6a Abs. 3 Satz 2 i.V.m. § 17a bis § 17c UStDV) gelten, müssen auch die für den buchmäßigen Nachweis erforderlichen Aufzeichnungen "laufend und unmittelbar nach Ausführung der jeweiligen Umsätze" vorgenommen werden (vgl. Birkenfeld, Das große Umsatzsteuer-Handbuch, § 109 Rz. 21).
Diese Voraussetzung ist im Streitfall nicht erfüllt. Die zwischen Juli und September 1994 von der GmbH ausgeführten Lieferungen der 20 PKW wurden erst im November 1994 buchmäßig als innergemeinschaftliche Lieferungen behandelt. Vorher war ―entgegen der Auffassung des Klägers― keinerlei Buchnachweis einer innergemeinschaftlichen Lieferung erbracht worden. Dass der Kaufvertrag mit B und dessen Abholbestätigung vorlag und die Überweisung des Kaufpreises nachgewiesen werden konnte, reicht insoweit nicht aus.
d) Allerdings ist zweifelhaft, ob die Finanzverwaltung die Steuerfreiheit einer innergemeinschaftlichen Lieferung, die zweifelsfrei vorliegt ―wie hier―, allein mit der Begründung versagen darf, der Steuerpflichtige habe den dafür vorgeschriebenen Buchnachweis nicht rechtzeitig geführt.
Der Österreichische Verfassungsgerichtshof hat hierzu Folgendes ausgeführt (vgl. Erkenntnis vom 12. Dezember 2003, B 916/02, Österreichische Steuer-Zeitung ―ÖStZ― 2004, Beilage Nr. 19, S. 547):
"Aus dem angefochtenen Beschluss geht hervor, dass hinsichtlich des Verkaufes zweier Bilder an die A-Kunsthandlung GmbH in Deutschland auch die beklagte Behörde sowohl von der Tatsache des Abschlusses eines Umsatzgeschäftes mit einem ausländischen Abnehmer (§ 7 Abs. 1 Z 1 UStG 1972) als auch davon ausgeht, dass der Ausfuhrnachweis über die in Erfüllung dieses Umsatzgeschäftes erfolgte Beförderung des Gegenstandes in das Ausland erbracht ist (§ 7 Abs. 1 Z 2 leg. cit.). Dennoch meint die beklagte Behörde, dass in dieser Hinsicht ein steuerbefreiter Umsatz nicht vorliege; und zwar deshalb, weil für die genannten Tatsachen der Buchnachweis fehle und vom Beschwerdeführer auch nicht erbracht werden könne, da er keine Bücher iSd. § 18 UStG 1972 geführt habe.
Damit hat die beklagte Behörde der Bestimmung des § 7 Abs. 1 Z 3 UStG 1972 den Sinn beigelegt, dass ungeachtet des im vorliegenden Fall völlig zweifelfreien Vorliegens der materiellen Voraussetzungen für die Steuerfreiheit des in Rede stehenden Umsatzes die Steuerbefreiung allein deshalb nicht zu gewähren sei, weil der darüber hinausgehende - hier also bloß formelle - Buchnachweis fehlt. Eine solche Auslegung ist überschießend und verstößt gegen das dem Gleichheitssatz innewohnende Verhältnismäßigkeitsgebot (vgl. z.B. VfSlg. 11.833/1988, VfGH 1.10.1988, G 62, 63/88)."
2. Zur Anrufung des EuGH
Der Senat hat Zweifel, wie dieser Konflikt zwischen Nachweispflicht und Verhältnismäßigkeit gemeinschaftsrechtlich zu lösen ist.
Einerseits befreien die Mitgliedstaaten nach Art. 28c Teil A Buchst. a der Sechsten Richtlinie des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern 77/388/EWG (Richtlinie 77/388/EWG) eine innergemeinschaftliche Lieferung unbeschadet sonstiger Gemeinschaftsbestimmungen (nur) unter den Bedingungen von der Umsatzsteuer, die sie zur Gewährleistung einer korrekten und einfachen Anwendung der Befreiung (Art. 28c Teil A Buchst. a der Richtlinie 77/388/EWG) sowie zur Verhütung von Steuerhinterziehung, Steuerumgehung und -missbrauch festlegen.
Andererseits gilt auch gemeinschaftsrechtlich der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz (vgl. z.B. EuGH-Urteile vom 18. Dezember 1997 Rs. C-286/94, C-340/95, C-401/95 und C-47/96, Slg. I 1997, 7281, Umsatzsteuer-Rundschau ―UR― 1998, 470; vom 11. Juni 1998 Rs. C-361/96, Slg. I 1998, 3495, UR 1998, 309; vom 19. September 2000 Rs. C-177/99 und C 181/99, Slg. I 2000, 7013, UR 2000, 474).
Daraus ergeben sich die Vorlagefragen.
3. Rechtsgrundlage für die Anrufung des EuGH ist Art. 234 Abs. 3 des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft.
4. Die Aussetzung des Verfahrens beruht auf § 121 Satz 1 i.V.m. § 74 der Finanzgerichtsordnung.
Fundstellen
Haufe-Index 1333281 |
BFH/NV 2005, 815 |
BStBl II 2005, 537 |
BFHE 2005, 502 |
BFHE 208, 502 |
BB 2005, 874 |
DB 2005, 870 |
DStR 2005, 646 |
DStRE 2005, 552 |
DStZ 2005, 288 |
HFR 2005, 577 |
UR 2005, 256 |