Entscheidungsstichwort (Thema)
Zur vorläufigen Steuerfestsetzung bei Verfassungswidrigkeit einer Norm
Leitsatz (NV)
1. Die Ungewißheit darüber, wie der Gesetzgeber eine vom BVerfG gebotene Neuregelung gestalten wird, ist eine ungewisse Tatsache, die eine vorläufige Steuerfestsetzung nach § 165 AO 1977 rechtfertigt (Anschluß an das Urteil des BVerfG vom 3. November 1982 1 BvR 620/78 u. a., BVerfGE 61, 319, BStBl II 1982, 717 zu D I).
2. Erklärt das FA den angefochtenen Einkommensteuerbescheid während des Revisionsverfahrens hinsichtlich der Höhe der Kinderfreibeträge gemäß § 165 Abs. 1 AO 1977 für vorläufig, so handelt es sich dabei um einen Verwaltungsakt, der den angefochtenen Verwaltungsakt ersetzt und der auf Antrag nach § 68 FGO zum Gegenstand des Verfahrens wird.
Normenkette
AO 1977 § 157 Abs. 1, § 165; FGO § 68; EStG i.d.F. des HBegleitG 1983 vom 20. 12. 82 BGBl I 1983, 1857, BStBl I 1983, 972, § 32 Abs. 8
Tatbestand
Der Kläger und Revisionskläger (Kläger) ist verheiratet und hat drei Kinder. Er ist außerdem Vater einer im Jahre 1969 geborenen nichtehelichen Tochter (T), die bei ihrer Mutter und deren Eltern in einem gemeinsamen Haushalt im Ausland lebt. Im Streitjahr 1984 wandte der Kläger 3 340 DM für den Unterhalt seiner Tochter auf. Daneben haben auch die Mutter und die Großeltern des Kindes - teilweise in Form von Sachzuwendungen - Unterhaltsleistungen in Höhe von mindestens 6 000 DM erbracht.
Mit seinem Einspruch gegen die Einkommensteuerveranlagung 1984 machte der Kläger erstmals den Abzug der Unterhaltsleistungen als außergewöhnliche Belastung nach § 33 a Abs. 1 des Einkommensteuergesetzes (EStG) geltend. Der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt - FA -) berücksichtigte in einem Einkommensteueränderungsbescheid nur einen Teilbetrag dieser Unterhaltskosten von 1 800 DM, weil er davon ausging, daß die Unterhaltsleistungen der Mutter und Großeltern in einer geschätzten Höhe von 6 000 DM als andere Bezüge des Kindes i. S. des § 33 a Abs. 1 EStG anzurechnen seien.
Der dagegen weiter verfolgte Einspruch und die Klage hatten keinen Erfolg.
Dagegen richtet sich die Revision, mit der der Kläger die Verletzung formellen und materiellen Rechts rügt.
Der Kläger beantragt, die Vorentscheidung aufzuheben und den Einkommensteuerbescheid 1984 in Gestalt des Einspruchsbescheids in der Weise zu ändern, daß der Unterhaltshöchstbetrag nach § 33 a Abs. 1 EStG in voller Höhe gewährt wird.
Das FA beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Während des Revisionsverfahrens hat das FA dem Kläger unter dem Datum vom 8. März 1991 schriftlich folgendes mitgeteilt:
,,Der Einkommensteuerbescheid 1984 vom 2. 1. 1986 in der Fassung des Urteils vom 13. 9. 1989 wird hiermit nach § 172 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 a AO i. V. m. § 132 AO insoweit geändert, als er hinsichtlich der Höhe der Kinderfreibeträge für vorläufig gem. § 165 Abs. 1 AO erklärt wird. Auf den Beschluß des Bundesverfassungsgerichts vom 12. Juni 1990 wird hingewiesen. Im übrigen bleibt die Festsetzung unverändert. Die Einkommensteuer 1984 beträgt weiterhin . . . DM.
Die Revision wird dadurch nicht erledigt.
Sie können beim BFH unter Berufung auf § 68 der Finanzgerichtsordnung beantragen, diesen Bescheid zum Gegenstand des dort anhängigen Klageverfahrens zu machen. Ein Einspruch erübrigt sich dann."
Der Kläger ist wiederholt durch den Senat aufgefordert worden, den Änderungsbescheid zum Gegenstand des Verfahrens zu machen. Er hat jedoch innerhalb der ihm gesetzten Frist weder den Antrag nach § 68 der Finanzgerichtsordnung (FGO) gestellt, noch einen Einspruch gegen den Änderungsbescheid eingelegt.
Entscheidungsgründe
Die Revision wird als unzulässig verworfen (§§ 124, 126 Abs. 1 FGO); nach dem Erlaß des Änderungsbescheides kann ein Rechtsschutzbedürfnis des Klägers für die Revision mit dem Ziel, eine Abänderung des ursprünglichen Bescheides zu erreichen, nicht länger anerkannt werden.
1. Wird ein Steuerbescheid, der Gegenstand des Revisionsverfahrens ist, während des Revisionsverfahrens geändert und wird der Änderungsbescheid weder mit dem Einspruch angefochten noch gemäß §§ 123 Satz 2, 68 FGO zum Gegenstand des Verfahrens gemacht, so ist dem gegen den ursprünglichen Bescheid anhängigen Verfahren mit dem Eintritt der Bestandskraft des Änderungsbescheides die Grundlage entzogen (Beschluß des Bundesfinanzhofs - BFH - vom 25. Oktober 1972 GrS 1/72, BFHE 108, 1, BStBl II 1973, 231); das Verfahren ist in der Hauptsache erledigt. Bleibt der Kläger bei seinem ursprünglichen Antrag, so ist die Revision mangels Rechtsschutzinteresses unzulässig (vgl. BFH-Beschluß vom 24. November 1982 II R 172/80, BFHE 137, 6, BStBl II 1983, 237, und BFH-Urteil vom 28. Mai 1968 IV R 110/67, BFHE 92, 322, BStBl II 1968, 541 zur Änderung während des Klageverfahrens).
2. Im Streitfall hat der Kläger seine Klage zu dem Zweck erhoben, eine Abänderung des ursprünglichen Einkommensteuerbescheides zu erreichen. An die Stelle des ursprünglichen, angefochtenen Bescheides ist jedoch inzwischen der bereits bestandskräftige geänderte Einkommensteuerbescheid getreten, so daß der ursprüngliche Bescheid keine Wirkung gegen den Kläger mehr entfaltet. Da es der Kläger unterlassen hat, seinen Klageantrag den veränderten verfahrensrechtlichen Verhältnissen anzupassen, ist davon auszugehen, daß er sein ursprüngliches Klagebegehren aufrechterhält (vgl. hierzu BFH-Beschluß 5. März 1979 GrS 4/78, BFHE 127, 147, BStBl II 1979, 375). Unter diesen Umständen fehlt es an einem Rechtsschutzbedürfnis für das ursprüngliche Klagebegehren. Damit ist aber zugleich das Rechtsschutzbedürfnis für das Revisionsverfahren entfallen (vgl. BFH in BFHE 137, 6, BStBl II 1983, 237).
3. Dagegen kann nicht eingewandt werden, die nachträgliche Bestimmung der Vorläufigkeit gemäß § 165 der Abgabenordnung (AO 1977) sei unzulässig oder es handle sich dabei nicht um einen eigenständigen Verwaltungsakt, der nach § 68 FGO zum Gegenstand des Verfahrens gemacht werden kann.
a) Nach ständiger Rechtsprechung des BFH kann eine Steuerfestsetzung nach § 165 AO 1977 nur im Hinblick auf ungewisse Tatsachen, nicht im Hinblick auf die steuerrechtliche Beurteilung von Tatsachen für vorläufig erklärt werden (vgl. BFH-Urteil vom 25. April 1985 IV R 64/83, BFHE 143, 500, BStBl II 1985, 648 m. w. N.). Eine ungewisse Tatsache in diesem Sinne ist aber auch die Ungewißheit darüber, wie der Gesetzgeber eine vom Bundesverfassungsgericht (BVerfG) gebotene Neuregelung gestalten wird. Das BVerfG hat deshalb eine vorläufige Steuerfestsetzung nach § 165 AO 1977 auch in dem Fall für erforderlich gehalten, daß eine verfassungswidrige Norm aus Gründen der Rechtssicherheit bis zu einer Neuregelung weiterhin anzuwenden ist (Urteil des BVerfG vom 3. November 1982 1 BvR 620/78 u. a., BVerfGE 61, 319, BStBl II 1982, 717 zu D I). Der die ungewissen Tatsachen bezeichnende Vorbehaltsvermerk (vgl. BFHE 143, 500, BStBl II 1985, 648) kann daher nicht nur bei einer erstmaligen Steuerfestsetzung aufgenommen, sondern ebenso im Wege der Änderung einer Veranlagung berücksichtigt werden. Im Streitfall hat das FA den Einkommensteuerbescheid des Klägers in dieser Weise im Hinblick auf die Entscheidung des BVerfG vom 12. Juni 1990 1 BvL 72/86 (BStBl II 1990, 664) und das darin enthaltene Neuregelungsgebot hinsichtlich der Kinderfreibeträge für die Jahre 1983 bis 1985 für vorläufig erklärt.
b) Mit dem Vorbehaltsvermerk hat das FA auch einen neuen Verwaltungsakt erlassen, der den angefochtenen Einkommensteuerbescheid im Sinne des § 68 FGO ersetzt. Unter den Umständen des Streitfalles folgt der Senat nicht der Auffassung, die in der nachträglichen Ergänzung eines Steuerbescheides um den Vorläufigkeitsvermerk nach § 165 AO 1977 keinen eigenständigen Verwaltungsakt, sondern nur eine nichtselbständige, den angefochtenen Bescheid ergänzende Nebenbestimmung sieht (vgl. etwa Urteil des Finanzgerichts - FG - Rheinland-Pfalz vom 9. Oktober 1990 2 K 1076/89, Entscheidungen der Finanzgerichte - EFG - 1991, 269 und Verfügung der Oberfinanzdirektion - OFD - Koblenz vom 5. Dezember 1990, StED 1991, 34). Denn das FA hat über den Vorläufigkeitsvermerk hinausgehend ausdrücklich ausgeführt, die Einkommensteuer 1984 betrage für den Kläger weiterhin . . . DM. Der Senat kann im übrigen offenlassen, ob es der ausdrücklichen Wiederholung des festgesetzten Steuerbetrages in Fällen der hier vorliegenden Art bedarf. Denn jedenfalls durch die vorgenommene Wiederholung und die Bezugnahme auf die im übrigen unveränderte Steuerfestsetzung wie im ursprünglichen Beschluß erfüllt die Verfügung die Mindestvoraussetzungen, die nach § 157 Abs. 1 AO 1977 an einen Steuerbescheid zu stellen sind; denn sie beachtet die Schriftform, bezeichnet die Steuer nach Art und Betrag und gibt an, wer die Steuer schuldet. Der Bescheid ist danach hinreichend bestimmt, obgleich er nicht in der üblichen Form die wesentlichen Besteuerungsgrundlagen enthält (vgl. Tipke / Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, 13. Aufl., § 157 AO Anm. 3). Überdies hat das FA seine Verfügung vom 8. März 1990 selbst als Bescheid bezeichnet, der antragsgemäß zum Gegenstand des anhängigen Verfahrens gemacht werden könne.
c) Da der Kläger, obwohl sachkundig vertreten, bis zum Erlaß des vorliegenden Beschlusses keinen Antrag nach § 68 FGO gestellt hat, ist es dem Senat im übrigen auch verwehrt, den Änderungsbescheid auf seine Rechtmäßigkeit zu überprüfen.
4. Das fehlende Rechtsschutzbedürfnis läßt sich auch nicht aus der Kostenbelastung des Klägers durch eine Nebenentscheidung des angefochtenen Urteils herleiten. Dies folgt schon aus dem der Regelung des § 145 Abs. 1 FGO zugrunde liegenden Rechtsgedanken (BFH in BFHE 137, 6, BStBl II 1983, 237).
Fundstellen