Entscheidungsstichwort (Thema)
Im Verfahren der Prozeßkostenhilfe: Zur Erlaßunwürdigkeit bei Verstoß gegen steuerrechtliche Erklärungspflichten
Leitsatz (NV)
Ein steuerliches Fehlverhalten reicht für sich allein nicht aus, die Erlaßwürdigkeit zu verneinen; die Entscheidung hängt auch insoweit von einer Gesamtwürdigung aller Umstände des Falles ab.
Normenkette
AO 1977 § 227
Tatbestand
Vor dem Finanzgericht (FG) erstrebt die Klägerin, Antragstellerin und Beschwerdeführerin (Klägerin) den Erlaß folgender Steuern und Abgaben: Einkommensteuer 1986 5153 DM; Einkommensteuer 1987 5875 DM; Umsatzsteuer 1986 1217 DM; Umsatzsteuer 1987 1584 DM; Verspätungszuschläge zur Einkommensteuer 1986 und 1987 jeweils 100 DM, zur Umsatzsteuer 1986 und 1987 50 bzw. 70 DM; Säumniszuschläge zur Einkommen- und Umsatzsteuer insgesamt 2856 DM.
Die im Jahre 1966 geborene Klägerin ging in den Jahren 1986 und 1987 der Prostitution nach; gelegentlich war sie in Peep-Shows tätig. Dem Beklagten, Antragsgegner und Beschwerdegegner (Finanzamt - FA -) liegen zwei Mitteilungen vor, nach denen sie Honorare für freie Mitarbeit in Live-Shows erhalten, jedoch nicht versteuert hatte. Trotz wiederholter Aufforderung durch die Finanzbehörden und trotz Festsetzung eines Zwangsgeldes gab sie für die Streitjahre keine Steuererklärungen ab. Daraufhin veranlagte das FA die Klägerin im Wege der Schätzung; zugleich setzte es die Verspätungszuschläge fest. Die Bescheide sind bestandskräftig.
Mit Schreiben vom 30. Juli und 22. Oktober 1990 bat die Klägerin um ,,Überprüfung der Angelegenheit"; sie habe ,,in keinem Jahr" ein Einkommen von monatlich über 450 DM gehabt. Das FA sah in diesem Schreiben Anträge auf Erlaß der Abgaben. Es lehnte einen Erlaß ab; die Klägerin sei nicht erlaßwürdig, weil sie keine Steuererklärungen abgegeben habe.
Die hiergegen gerichtete Beschwerde blieb ohne Erfolg. Die Oberfinandirektion (OFD) vertrat die Auffassung, daß ein Erlaß wegen sachlicher oder persönlicher Unbilligkeit nicht in Betracht komme. Ein Erlaß aus persönlichen Billigkeitsgründen scheitere jedenfalls daran, daß die Klägerin nicht erlaßwürdig sei; sie habe trotz wiederholter Aufforderungen keine detaillierten Angaben zu ihren Einkommensverhältnissen in den Jahren 1985 bis 1987 gemacht und dadurch in erheblicher Weise gegen die Interessen der Allgemeinheit verstoßen. Durch einen Erlaß von Abgaben werde ein Steuerpflichtiger zu Lasten der Allgemeinheit begünstigt. Dies sei nur gerechtfertigt, wenn der Steuerpflichtige seinen steuerlichen Erklärungs- und Zahlungspflichten ,,stets pünktlich und gewissenhaft nachgekommen ist".
Hiergegen hat die Klägerin Klage erhoben und zugleich unter Vorlage einer schriftlichen Erklärung über ihre persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse beantragt, ihr Prozeßkostenhilfe (PKH) zu gewähren.
Mit der Klage begehrt die Klägerin, das FA zu verpflichten, die genannten Abgaben zu erlassen. Sie habe in den Jahren 1986 und 1987 in einer Peep-Show gearbeitet und hieraus kleinere Einnahmen erzielt. Auch habe sie versucht, als Prostituierte ,,Fuß zu fassen". Diese Einnahmen hätten lediglich unter der ,,Lohnsteuergrenze" gelegen. Sie lebe nunmehr - wie bereits in den Jahren 1986 und 1987 - mit ihrem minderjährigen Kind von Sozialhilfe. Die rückständigen Abgaben könne sie allenfalls dann entrichten, wenn sie wieder der Prostitution nachgehe.
Das FG hat den Antrag auf PKH als unbegründet abgewiesen. Die Annahme der Verwaltungsbehörden, die Klägerin sei erlaßunwürdig, sei bei einer Überprüfung im Rahmen des § 102 der Finanzgerichtsordnung (FGO) nicht zu beanstanden.
Hiergegen hat die Klägerin Beschwerde eingelegt, mit welcher sie ihren Antrag auf PKH und auf Beiordnung ihres Verfahrensbevollmächtigten weiterverfolgt. Sie trägt ergänzend vor, von ihren geringen Einnahmen sei ihr der größte Teil weggenommen worden, und auf Rat und Wunsch verschiedener Zuhälter habe sie sich dem FA gegenüber ,,in Schweigen gehüllt".
Entscheidungsgründe
Die Beschwerde ist begründet. Zu Unrecht hat das FG entschieden, daß die Klage auf Erlaß der hier fraglichen Abgaben keine hinreichende Aussicht auf Erfolg hat (§ 142 FGO i.V.m. § 114 der Zivilprozeßordnung - ZPO -).
1. Eine beabsichtigte Rechtsverfolgung verspricht Aussicht auf Erfolg, wenn das Gericht den Rechtsstandpunkt des Antragstellers, nach dessen Sachdarstellung und den vorhandenen Unterlagen für zutreffend oder zumindest für vertretbar hält, in tatsächlicher Hinsicht von der Möglichkeit der Beweisführung überzeugt ist und deshalb bei summarischer Prüfung eine gewisse Wahrscheinlichkeit dafür besteht, daß das angestrebte Verfahren erfolgreich sein wird (vgl. Beschluß des Bundesfinanzhofs - BFH - vom 16. Dezember 1986 VIII B 115/86, BFHE 148, 215, BStBl II 1987, 217).
2. Da die Klägerin einen Erlaß nach § 227 der Abgabenordnung (AO 1977) und damit eine Ermessensentscheidung begehrt, hat das FG gemäß § 102 FGO lediglich zu prüfen, ob mit der Ablehnung der begehrten Billigkeitsmaßnahme die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten worden sind oder von dem Ermessen in zweckwidriger Weise Gebrauch gemacht worden ist. Maßgebender Zeitpunkt dafür sind die tatsächlichen Verhältnisse bei Erlaß der Beschwerdeentscheidung. Auch im Hinblick auf diesen eingeschränkten Umfang einer Überprüfung des Verwaltungsermessens ist die Beschwerde begründet.
a) Allerdings ist dem FG darin beizutreten, daß sachliche Erlaßgründe bei der Ausübung des Verwaltungsermessens nicht übergangen worden sind. Die Klägerin mußte sich die Bestandskraft der Steuerfestsetzungen entgegenhalten lassen, auch wenn diese auf Fehlern bei der Schätzung beruhen können.
b) Indes sind die Erwägungen der Verwaltungsentscheidungen zur fehlenden Erlaßwürdigkeit der Klägerin nicht rechtsfehlerfrei. Die Behörden haben allein darauf abgestellt, daß die Klägerin ihren steuerlichen Erklärungspflichten nicht nachgekommen sei. Mit dieser Begründung wird der für die Ermessensausübung gegebene Rahmen hinsichtlich der persönlichen Billigkeitsgründe nicht ausgeschöpft.
aa) Das FG hat einen Ermessensfehler deswegen nicht erkennen können, weil die Klägerin nicht erlaßwürdig sei: Sie habe in eindeutiger Weise gegen die Interessen der Allgemeinheit verstoßen, weil sie keine detaillierten Angaben über ihre Einkommensverhältnisse in den Jahren 1985 bis 1987 gemacht habe; angesichts der wiederholten Aufforderungen der Finanzbehörden zur Abgabe von Steuererklärungen und der Festsetzung von Zwangsgeld habe sie ihre steuerlichen Erklärungspflichten grob fahrlässig vernachlässigt.
bb) Bei der gebotenen Überprüfung im Rahmen des § 102 FGO sind diese Ausführungen zu beanstanden. Im Regelfall ist ein Steuerpflichtiger nicht erlaßwürdig, wenn er vorsätzlich oder grob fahrlässig gegen die Interessen der Allgemeinheit verstoßen hat. Eine die Erlaßwürdigkeit im Regelfall ausschließende Pflichtverletzung liegt z.B. dann vor, wenn der Steuerpflichtige die ihm zur Verfügung stehenden Mittel in einer den Steuergläubiger benachteiligenden Weise verwendet hat (BFH-Urteil vom 27. Februar 1985 II R 83/83, BFH/NV 1985, 6, unter 2.; BHF-Beschluß vom4. Juli 1986 VII B 56/86, BFH/NV 1987, 20), wenn in großen Mengen Heizöl als Dieselkraftstoff weitergegeben wird (BHF-Beschluß vom 5. März 1987 VII B 138/86, BFH/NV 1987, 619) oder wenn er vereinnahmte Umsatzsteuer entgegen § 18 Abs. 1 und 3 des Umsatzsteuergesetzes (UStG) nicht erklärt und abführt (BFH-Beschluß vom 18. August 1988 V B 71/88, BFH/NV 1990, 137).
cc) Eine nachhaltige Nichterfüllung steuerlicher Erklärungspflichten kann zu einer Erlaßunwürdigkeit führen. Dies ist indes keine zwingende Folgerung. Die Behörde muß das Allgemeininteresse gegen diese Pflichtverletzungen ausreichend abgewogen haben.
Zwar hat es die Klägerin jahrelang unterlassen, ihre Erklärungs- und Zahlungspflichten zu erfüllen. Ein derartiges Verhalten kann im Einzelfall jedoch angesichts persönlicher Gegebenheiten (Alter und persönliche Lebensumstände) in einem geringeren Maße vorwerfbar sein, so daß bei der Ausübung des pflichtgemäßen Ermessens weitere Umstände Bedeutung erlangen können. Besondere Umstände können es als gerechtfertigt erscheinen lassen, das Allgemeininteresse an der Einziehung der festgesetzten Steuer zurücktreten zu lassen, wenn die zwangsweise Beitreibung existenzgefährdend wirkt und z.B. den Steuerschuldner zwingen würde, wegen seines Lebensunterhalts öffentliche Hilfe in Anspruch zu nehmen (BFH-Urteil vom9. März 1983 I R 93/81, nicht veröffentlicht).
Der Senat läßt dahingestellt, ob, wie das letztere Urteil ausführt, ,,angesichts solcher Umstände" ein Billigkeitserlaß auch dann nicht schlechthin ausgeschlossen ist, wenn die Erlaßwürdigkeit zu verneinen ist. Jedenfalls reicht ein steuerliches Fehlverhalten für sich allein nicht aus, die Erlaßwürdigkeit zu verneinen; die Entscheidung hängt auch insoweit von einer Gesamtwürdigung aller Umstände des Falles ab (vgl. BFH-Urteil vom 2. März 1961 IV 126/60 U, BFHE 73, 53, BStBl III 1961, 288; BFH-Beschluß vom 9. Februar 1987 IV B 53/86, BFH/NV 1987, 488, unter 2. b, m.w.N.; Tipke/Kruse, Abgabenordnung - Finanzgerichtsordnung,, § 227 AO 1977 Tz.50; von Groll in Hübschmann/Hepp/ Spitaler, Kommentar zur Abgabenordnung und Finanzgerichtsordnung, § 227 AO 1977 Rdnr.315 ff.).
dd) Die Frage, ob der Steuerpflichtige zumindest grob fahrlässig gegen die Interessen der Allgemeinheit verstoßen hat, kann in tatsächlicher Hinsicht nicht ohne Berücksichtigung der persönlichen Verhältnisse beurteilt werden. Solche Verhältnisse können sein: (jugendliches) Alter, Krankheit, Abhängigkeit von Dritten, Schicksalsschläge sowie unterdurchschnittliche Intelligenz oder eine aus sonstigen Gründen mangelnde persönliche Fähigkeit, steuerlichen Pflichten nachzukommen (BFH-Urteil vom 9. März 1983 I R 93/81).
3. Da das FG von anderen Grundsätzen ausgegangen ist, war seine Entscheidung aufzuheben. Die Sache ist spruchreif. Der Klägerin ist die begehrte PKH zu gewähren.
Fundstellen