Entscheidungsstichwort (Thema)
Vollstreckungsaufschub durch einstweilige Anordnung
Leitsatz (NV)
1. Drohende Vollstreckungsmaßnahmen, die sich noch nicht in Form eines aussetzungsfähigen (Vollstreckungs-) Verwaltungsakts konkretisiert haben, können unter den Voraussetzungen des § 114 Abs. 1 Satz 1 FGO durch eine einstweilige Anordnung abgewendet werden.
2. Eine einstweilige Anordnung kommt grundsätzlich jedoch nur in Betracht, wenn die wirtschaftliche und persönliche Existenz des Betroffenen bedroht ist. In jedem Fall müssen die den Anordnungsanspruch rechtfertigenden Umstände über die Nachteile hinausgehen, die im Regelfall bei einer Vollstreckung zu erwarten sind.
Normenkette
AO 1977 § 258; FGO § 114 Abs. 1
Tatbestand
Der Antragsteller und Beschwerdeführer (Antragsteller) begehrte vor dem Finanzgericht (FG), die Vollstreckung rückständiger Umsatz- und Einkommensteuer sowie Ergänzungsabgabe von insgesamt . . . DM im Wege der einstweiligen Anordnung einzustellen.
Zur Begründung brachte er vor, die Steuerbescheide aus dem Jahr . . . für die Jahre . . . habe er nicht erhalten. Er wohne seit . . . in Österreich. Die Steuern einschließlich der Ergänzungsabgabe habe der Antragsgegner und Beschwerdegegner (das Finanzamt - FA -) mangels wirksamen Leistungsgebots zu Unrecht beigetrieben. Im übrigen seien alle Steueransprüche verjährt.
Der Anordnungsgrund für die einstweilige Anordnung ergebe sich daraus, daß wegen der Steuerrückstände ein Paßeinzugsverfahren eingeleitet worden sei und er deshalb erhebliche Nachteile zu befürchten habe.
Mit der Beschwerde macht der Antragsteller geltend, die Steuerforderungen seien zu Unrecht beigetrieben worden. Aufgrund des Paßeinzugsverfahrens, gegen das er sich erstinstanzlich mit Erfolg gewehrt habe, habe er wegen des eingelegten Rechtsmittels noch immer mit erheblichen Nachteilen zu rechnen.
Den Ausführungen des FG hinsichtlich der teilweisen Unzulässigkeit seines Antrags könne nicht gefolgt werden, weil gerade Sinn und Zweck des Verfahrens nach § 114 der Finanzgerichtsordnung (FGO) sei, daß die Gerichte und nicht die Verwaltungsbehörde außerhalb des Vollstreckungsverfahrens wegen drohender erheblicher Nachteile zu befinden habe.
Soweit das FG die Versendung des Einkommensteuerbescheids . . . für bewiesen erachtet hat, trägt der Antragsteller vor, gerade diese Tatsache habe er ausdrücklich bestritten. Die Entscheidung des FG beruhe in diesem Punkt auf einem Verstoß gegen den klaren Akteninhalt.
Die erst . . . erhobene Rüge mangelnder Bekanntgabe des Einkommensteuerbescheids beruhe darauf, daß er in steuerlichen Angelegenheiten und Problemen ein Laie sei. Der Zugang des Steuerbescheids bei der geschiedenen Ehefrau spreche im Gegensatz zur Auffassung des FG gerade für den Nichtzugang des Steuerbescheids bei ihm, da er bereits zu diesem Zeitpunkt im Ausland gewohnt habe und die Ehefrau ihn nicht vom Erhalt des Steuerbescheids verständigt habe. Von einem vom FA geführten Anscheinsbeweis könne deshalb keine Rede sein.
Der Antragsteller beantragt, die Vollstreckung wegen Umsatzsteuer . . ., Einkommensteuer . . . und Ergänzungsabgabe . . . einzustellen.
Das FA beantragt, der Beschwerde nicht abzuhelfen.
Entscheidungsgründe
Die Beschwerde ist nicht begründet.
Dem Antrag auf einstweilige Anordnung kann nicht entsprochen werden, weil es im Streitfall zumindest an der Glaubhaftmachung eines Anordnungsgrunds i. S. von § 114 Abs. 1 Satz 2 FGO fehlt.
Den Ausführungen des Antragstellers ist zu entnehmen, daß er eine Vollstreckung aus dem Einkommensteuerbescheid . . . und dem Umsatzsteuerbescheid . . . für unbillig hält und sich deshalb auf § 258 der Abgabenordnung (AO 1977) ein Anspruch (Anordnungsanspruch) auf Aufschub der Vollstreckung ergebe.
Ein solcher Antrag ist zulässig; denn drohende Vollstreckungsmaßnahmen, die sich - wie im Streitfall - noch nicht in Form eines aussetzungsfähigen (Vollstreckungs-)Verwaltungsakts konkretisiert haben, können unter den Voraussetzungen des § 114 Abs. 1 Satz 1 FGO durch eine einstweilige Anordnung abgewendet werden (Koch / Szymczak, Abgabenordnung, 3. Aufl., 1986, § 256 Rdnr. 18; Tipke / Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, 13. Aufl., § 258 AO 1977 Rdnr. 4, jeweils mit Rechtsprechungsnachweisen).
Zur Glaubhaftmachung des Anordnungsanspruchs ist nach der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs - BFH - (vgl. Beschlüsse vom 29. November 1984 V B 44/84, BFHE 142, 418, BStBl II 1985, 194, und vom 18. März 1986 VII B 115/85, BFH/NV 1986, 479, 480) erforderlich, daß zunächst der Anordnungsanspruch schlüssig dargelegt wird und daß außerdem die Tatsachen, die für die Entscheidung erheblich sind, durch präsente Beweismittel in dem für die Glaubhaftmachung erforderlichen Maße (dazu Baumbach / Lauterbach / Albers / Hartmann, Zivilprozeßordnung, 46. Aufl., § 294 Anm. 1 A, m.w.H.) nachgewiesen werden. Den Ausführungen des Antragstellers ist zu entnehmen, daß er einen Anordnungsanspruch aufgrund des § 258 AO 1977 insbesondere deshalb für gegeben hält, weil er gegen die der Zwangsvollstreckung zugrunde liegenden Steuerbescheide Einwendungen erhoben hat. Es kann dahingestellt bleiben, ob dieses Vorbringen für eine schlüssige Darlegung und Glaubhaftmachung eines Anordnungsanspruchs ausreichend ist, denn der Erlaß einer einstweiligen Anordnung nach § 114 Abs. 1 FGO setzt neben dem Anordnungsanpruch auch einen Anordnungsgrund voraus. Dabei ist zu beachten, daß die in § 114 Abs. 1 Satz 2 FGO genannten Gründe Maßstäbe für die Beurteilung der Frage setzen, ob ein Anordnungsgrund vorliegt (BFH-Beschlüsse vom 4. Juli 1986 VII B 42/86, BFH/NV 1987, 39; vom 30. Juli 1986 V B 31/86, BFH/NV 1987, 42, und Senatsbeschluß vom 14. Juni 1988 VII B 15/88, BFH/NV 1989, 75, 76). Danach kommt eine einstweilige Anordnung grundsätzlich nur dann in Betracht, wenn die wirtschaftliche oder persönliche Existenz des Betroffenen bedroht ist (BFH-Beschlüsse vom 12. April 1984 VIII B 115/82, BFHE 140, 430, BStBl II 1984, 492, und vom 17. Januar 1985 VI B 106/84, BFH/NV 1986, 219). In jedem Fall müssen die den Anordnungsgrund rechtfertigenden Umstände über die Nachteile hinausgehen, die im Regelfall bei einer Vollstreckung zu erwarten sind.
Derartige Gründe sind im Streitfall nicht ersichtlich. Der Antragsteller hat nicht glaubhaft gemacht, daß die Vollstreckung wegen der fraglichen Steuerbeträge der Existenzvernichtung vergleichbare Nachteile für ihn bringt. Die Belastungen infolge des Verwaltungsverfahrens hinsichtlich des Paßeinzugs und der damit zusammenhängenden Prozesse, auf die sich der Antragsteller beruft, gehören zumindest nicht ohne weiteres zu den Nachteilen der genannten Art. Gegen die Einziehung seines Passes stehen dem Antragsteller ausreichend Rechtsbehelfe zur Verfügung. Das gilt auch gegenüber den vom FA vorgenommenen einzelnen Vollstreckungshandlungen. Mit den dafür vorgesehenen Rechtsbehelfen (Beschwerde, Aussetzung der Vollziehung) kann der Antragsteller einer Zahlung der streitigen Beträge im Vollstreckungswege entgegentreten, wenn er das für gerechtfertigt hält.
Fundstellen
Haufe-Index 416387 |
BFH/NV 1990, 687 |