Entscheidungsstichwort (Thema)

Zu den Voraussetzungen für die Gewährung von Prozeßkostenhilfe (PKH); zur Gültigkeit der Milch-Garantiemengen-Verordnung (MGVO)

 

Leitsatz (NV)

1. Zur Frage, ob bei gleichzeitiger Einreichung des Gesuchs auf PKH und der Klageschrift die Klageerhebung selbständige Bedeutung hat.

2. Der Antrag auf PKH setzt kein anhängiges Verfahren voraus.

3. Der ,,arme" Beteiligte, der ein Rechtsmittel einlegt, hat Anspruch auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand, wenn er sein PKH-Gesuch bis zum Ablauf der Rechtsmittelfrist zusammen mit der Erklärung i. S. des § 117 Abs. 2 bis 4 ZPO vorlegt.

4. Die MGVO besitzt keine unzulässige Rückwirkung.

 

Normenkette

FGO §§ 56, 142; ZPO § 114 Abs. 1, § 117 Abs. 2-4; MGVO

 

Verfahrensgang

FG Düsseldorf

 

Tatbestand

Die Molkerei X zeigte durch Mitteilung vom 17. Oktober 1984 dem Antragsgegner und Beschwerdegegner (Hauptzollamt - HZA -) nach § 4 Abs. 5 der Milch-Garantiemengen-Verordnung (MGVO) die Summe der Anlieferungs-Referenzmenge an. In der Mitteilung war auch eine Teilmenge für den Antragsteller und Beschwerdeführer (Antragsteller) enthalten. Der Antragsteller legte Einspruch ein. Diesen wies das HZA mit Einspruchsentscheidung vom 28. Mai 1985 als unbegründet zurück.

Am 10. Juni 1985 sandte das HZA die Einspruchsentscheidung durch Einschreiben an den Antragsteller ab. Mit Schriftsatz vom 18. Juni 1985 an das Finanzgericht (FG) erhob der Antragsteller ,,Klage" mit dem Antrag, das HZA zu verurteilen, die Festsetzung der Anlieferungs-Referenzmenge aufzuheben. In dem Schriftsatz heißt es: ,,Die Klage soll nur insoweit als erhoben gelten, als Prozeßkostenhilfe gewährt wird." Mit Schreiben vom 25. Juni 1985 wies des Vorsitzende des zuständigen Senats des FG den Antragsteller darauf hin, daß die Klage unzulässig sein dürfte, da sie unter einer Bedingung erhoben worden sei, und wies darauf hin, daß es zweckmäßig sein dürfte, die Klage zurückzunehmen und gegebenenfalls eine unbedingte Klage zu erheben. Der Antragsteller erwiderte daraufhin u. a.: ,,Natürlich soll zunächst über das Prozeßkostenhilfegesuch entschieden werden. Die Klage wird gegenwärtig noch nicht erhoben, sondern erst nach Gewährung der Prozeßkostenhilfe. Lediglich der Einfachheit halber und zur Fristwahrung wurde . . . die Klage bereits erhoben." Mit Schriftsatz vom 6. August 1985 in diesem Klageverfahren beantragt der Antragsteller die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand mit der Begründung, ihm sei es in zu entschuldigender Weise nicht möglich gewesen, unter den besonderen Voraussetzungen fristgerecht gegen die Einspruchsentscheidung Klage zu erheben; denn er habe umgehend mit der Klageerhebung auch den Prozeßkostenhilfeantrag gestellt, so daß er mit einer Entscheidung über diesen Antrag im Rahmen der verbleibenden Klagefrist habe rechnen können. Im Hinblick auf die mit diesem Antrag verbundene Klage werde auf den Schriftsatz vom 18. Juni 1985 Bezug genommen ,,mit der Besonderheit, daß die Klage als unbedingt erhoben zu gelten habe".

Im Klageschriftsatz vom 18. Juni 1985 stellte der Antragsteller auch den Antrag, ihm Prozeßkostenhilfe zu gewähren. Diesen Antrag lehnte das FG in dem angefochtenen Beschluß mit folgender Begründung ab: Die Rechtsverfolgung biete keine hinreichende Aussicht auf Erfolg, da der angegriffene Steuerbescheid in der Zwischenzeit wegen Versäumung der Klagefrist bestandskräftig geworden sei. Die Einspruchsentscheidung gelte nach § 4 des Verwaltungszustellungsgesetzes (VwZG) als am 13. Juni 1985 zugestellt. Die Klage sei daher bis zum 13. Juli 1985 zu erheben gewesen. Dies sei jedoch nicht geschehen. Der Antragsteller habe mit Schriftsatz vom 1. Juli 1985 klargestellt, daß mit dem Schreiben vom 18. Juni 1985 keine Klage habe erhoben werden sollen.

Seine Beschwerde gegen diesen Beschluß des FG begründet der Antragsteller wie folgt: Die nicht fristgerecht eingelegte Klage sei in Verbindung mit dem Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand als fristgerecht anzusehen. Damit habe der Prozeßkostenhilfeantrag Aussicht auf Erfolg; auf die Klagebegründung werde verwiesen.

 

Entscheidungsgründe

Die Beschwerde ist unbegründet. Das FG hat im Ergebnis zu Recht entschieden, daß die beabsichtigte Rechtsverfolgung keine hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet (§ 142 der Finanzgerichtsordnung - FGO - i.V.m. § 114 Abs. 1 der Zivilprozeßordnung - ZPO -). Es hat dies freilich zu Unrecht damit begründet, daß der angegriffene Steuerbescheid inzwischen bestandskräftig geworden sei.

1. Mit Schriftsatz vom 18. Juni 1985 an das FG hat der Antragsteller die Gewährung von Prozeßkostenhilfe beantragt für die Durchführung einer in Zukunft beabsichtigten Anfechtungsklage hinsichtlich der ihn betreffenden Milch-Referenzmengen-Festsetzung des HZA. Das ergibt die Auslegung dieses Schriftsatzes nach den für die Auslegung von Prozeßhandlungen maßgebenden Auslegungsgrundsätzen (vgl. auch das Urteil des erkennenden Senats vom 6. Februar 1979 VII R 82/78, BFHE 127, 135, BStBl II 1979, 374).

Der Schriftsatz vom 18. Juni 1985 ist mit ,,Klage des . . . (Antragsteller) gegen das HZA . . ." überschrieben und enthält einen ausdrücklichen Klageantrag neben dem Antrag auf Gewährung der Prozeßkostenhilfe. Lassen diese Formulierungen des Schriftsatzes noch im unklaren, ob die Klage selbständige Bedeutung erlangen sollte, so macht der Zusatz, die Klage solle ,,nur insoweit als erhoben gelten, als Prozeßkostenhilfe gewährt wird", deutlich, daß der Schriftsatz nur als ein Prozeßkostenhilfegesuch für eine erst beabsichtigte Klage zu werten ist, dem - gewissermaßen als Anlage - die (beabsichtigte) Klage beigefügt ist. Dieser Zusatz kann nur dahin gedeutet werden, daß eine Klage eben noch nicht erhoben sein sollte, solange über den Antrag auf Gewährung der Prozeßkostenhilfe noch nicht entschieden ist. Das hat der Antragsteller auf Rückfrage des FG überdies ausdrücklich durch Schreiben vom 1. Juli 1985 bestätigt. Damit aber ist mit der von der Rechtsprechung geforderten Deutlichkeit das vom Antragsteller mit dem Schriftsatz verfolgte prozessuale Ziel klargemacht worden (vgl. zum Problem, ob bei gleichzeitiger Einreichung von Klageschrift und Prozeßkostenhilfegesuch die Klageerhebung selbständige Bedeutung hat und - wenn das der Fall ist - ob eine solche Klage, weil bedingt, unzulässig ist, Urteile des Bundesgerichtshofs - BGH - vom 24. Januar 1952 III ZR 196/50, BGHZ 4, 328, 333, Juristenzeitung - JZ - 1952, 234, und vom 2. Februar 1972 IV ZB 88/71, Steuerrechtsprechung in Karteiform - StRK -, Finanzgerichtsordnung, § 64, Rechtsspruch 21, Versicherungsrecht - VersR - 1972, 490; Urteil des Bundesverwaltungsgerichts - BVerwG - vom 17. Januar 1980 5 C 32.79, BVerwGE 59, 302, 304; Beschluß des Oberverwaltungsgerichts - OVG - Münster vom 5. Mai 1977 XV B 2/77, Die Öffentliche Verwaltung - DÖV - 1977, 793; Tipke/Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, 11. Aufl., § 65 Anm. 1 d; Hübschmann/Hepp/Spitaler, Kommentar zur Abgabenordnung und Finanzgerichtsordnung, 8. Aufl., § 142 FGO Anm. 20; Redeker/von Oertzen, Verwaltungsgerichtsordnung, 8. Aufl., § 81 Anm. 7; Eyermann/Fröhler, Verwaltungsgerichtsordnung, Kommentar, 8. Aufl., § 82 Anm. 7).

2. Prozeßkostenhilfe kann für eine ,,beabsichtigte Rechtsverfolgung" (vgl. § 114 Abs. 1 ZPO) beantragt werden. Der Antrag setzt daher nach allgemeiner Meinung kein anhängiges Verfahren voraus; er ist ohne Erhebung der Klage zulässig (vgl. Redeker/von Oertzen, a.a.O., § 166 Anm. 5 mit Hinweisen auf die Rechtsprechung). Es ist daher für das vorliegende Verfahren ohne Bedeutung, daß im Zeitpunkt der Stellung des Antrags auf Gewährung von Prozeßkostenhilfe der Antragsteller Klage noch nicht erhoben hatte. Auch bedarf es keines Eingehens auf die Frage, ob der Hinweis des Antragstellers im Schriftsatz vom 6. August 1985, daß die Klage nunmehr ,,als unbedingt erhoben zu gelten habe", als Erhebung einer (nicht mehr an die Voraussetzung der Bewilligung der Prozeßkostenhilfe gebundene unbedingte) Klage anzusehen ist.

3. Der Antragsteller hat bisher entweder noch keine Klage erhoben oder - falls man seinen Schriftsatz vom 6. August 1985 an das FG als eine Klageerhebung betrachtet - dies jedenfalls nicht rechtzeitig innerhalb der Frist des § 47 Abs. 1 FGO getan. Seine Rechtsverfolgung hat daher nur dann Aussicht auf Erfolg, wenn damit zu rechnen ist, daß ihm für die Fristversäumnis Wiedereinsetzung in den vorigen Stand (§ 56 FGO) gewährt wird. Es entspricht ständiger Rechtsprechung der obersten Gerichtshöfe des Bundes, daß der ,,arme" Beteiligte, der ein Rechtsmittel einlegt, Anspruch auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand hat, wenn er sein Prozeßkostenhilfegesuch bis zum Ablauf der Rechtsmittelfrist zusammen mit der Erklärung im Sinne des § 117 Abs. 2 bis 4 ZPO vorlegt (vgl. BVerwG-Urteil vom 27. Februar 1963 V C 105.61, BVerwGE 15, 306, 308; Entscheidung des Senats vom 22. November 1977 VII S 5-6, 9/77, BFHE 123, 436, BStBl II 1978, 72; Urteil des Bundesfinanzhofs vom 1. September 1982 I S 4/82, BFHE 136, 354, BStBl II 1982, 737, und vom 27. Juni 1983 II S 2/83, BFHE 138, 526, BStBl II 1983, 644; Beschluß des Bundessozialgerichts - BSG - vom 30. April 1982 7 BH 10/82, StRK, Finanzgerichtsordnung, § 142, Rechtsspruch 30; BGH-Beschluß vom 9. Juli 1981 VII ZR 127/81, VersR 1981, 884). Diesen Anforderungen hat der Antragsteller genügt. Wie das FG ausgeführt hat, war die Klage bis zum 13. Juli 1985 zu erheben. Der Antragsteller hat mit seinem Schriftsatz vom 18. Juni 1985 - eingegangen beim FG am 21. Juni 1985 - seinen Antrag auf Gewährung der Prozeßkostenhilfe gestellt und diesem Antrag die Erklärung im Sinne des § 117 Abs. 2 bis 4 ZPO in der vorgeschriebenen Form beigefügt.

4. Die vom Antragsteller beabsichtigte Rechtsverfolgung hat jedoch in der Sache keine im Sinne des § 114 Abs. 1 ZPO hinreichende Aussicht auf Erfolg.

Die angefochtene Festsetzung der Anlieferungs-Referenzmenge des Antragstellers beruht auf der MGVO. Der Antragsteller wendet sich, wie sich aus seiner Klagebegründung ergibt, gegen diese Festsetzung allein noch mit Argumenten gegen die Gültigkeit der MGVO; diese wirke für die Monate April und Mai 1984 in verfassungswidriger Weise zurück. Diese Auffassung trifft nicht zu. Zur Begründung verweist der Senat auf die Gründe seines Beschlusses vom 26. März 1985 VII B 12/85 (BFHE 142, 534, BStBl II 1985, 258).

Nicht zu folgen ist auch der Auffassung des Antragstellers, die MGVO wirke deswegen in unzulässiger Weise zurück, weil sich die Referenzmenge an der in der Vergangenheit (1981-1983) gelieferten Milchmenge orientiert. Diese Regelung - die überdies auf Vorschriften des Gemeinschaftsrechts zurückgeht - entfaltet jedoch lediglich eine sogenannte unechte Rückwirkung, d. h., sie wirkt auf gegenwärtige, noch nicht abgeschlossene Sachverhalte und Rechtsbeziehungen für die Zukunft ein (vgl. z. B. Leibholz/Rinck, Grundgesetz, Kommentar, Stand November 1984, Art. 20 Rdnr. 41 a, mit Hinweisen auf die Rechtsprechung des BVerfG). Zwar ergeben sich auch bei der unechten Rückwirkung aus den rechtsstaatlichen Grundsätzen der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes bestimmte Grenzen, die der Gesetzgeber zu respektieren hat. Zur Bestimmung der verfassungsrechtlichen Grenze ist das Vertrauen des einzelnen auf Fortbestand einer bestimmten gesetzlichen Regelung mit der Bedeutung des gesetzlichen Anliegens für das Wohl der Allgemeinheit abzuwägen. Nur wenn sich ergibt, daß das Vertrauen auf die Sicherheit der bestehenden Lage den Vorrang verdient, ist die Rückwirkung unzulässig (vgl. Leibholz/Rinck, a.a.O., Anm. 45 mit Hinweisen auf die Rechtsprechung). So liegt der Fall hier aber nicht. Das ergibt sich bereits deutlich aus den Argumenten, mit denen der Gemeinschaftsgesetzgeber die gemeinschaftsrechtliche Regelung, auf der die MGVO beruht, begründet hat (vgl. die Erwägungsgründe der Verordnung (EWG) Nr. 856/84 des Rates vom 31. März 1984, Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften L 90/10 vom 1. April 1984).

 

Fundstellen

Haufe-Index 414258

BFH/NV 1986, 180

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