Entscheidungsstichwort (Thema)
Versagung des rechtlichen Gehörs bei Ablehnung einer Änderung des Termins trotz kurzfristiger Erkrankung des Prozessbevollmächtigten
Leitsatz (NV)
Eine kurzfristige, überraschende Erkrankung eines Prozessbevollmächtigten stellt regelmäßig einen erheblichen Grund für eine Änderung des Termins dar.
Normenkette
FGO § 115 Abs. 2 Nr. 3, § 119 Nr. 3; ZPO § 227; 2. FGOÄndG Art. 4
Verfahrensgang
FG Hamburg (EFG 2001, 304) |
Tatbestand
I. Der Kläger und Beschwerdeführer (Kläger), ein ehemaliger Steuerberater, ist wegen Umsatzsteuerschulden der H-GmbH in Höhe von 118 710,44 DM in Haftung genommen worden (Haftungsbescheid vom 16. April 1997 in der Fassung der Einspruchsentscheidung vom 31. Oktober 1997).
Im Rahmen des anschließenden Klageverfahrens erließ das Finanzgericht (FG) einen Gerichtsbescheid, mit dem die Klage (Az.: II 388/97) überwiegend abgewiesen werden sollte. Mit Schriftsatz vom 4. September 2000 beantragte der Kläger mündliche Verhandlung. Diese wurde auf Freitag, den 13. Oktober 2000, 11.45 Uhr anberaumt. Am selben Tag sollte auch in einem anderen Verfahren des Klägers (Az.: …) eine mündliche Verhandlung stattfinden. Mit Schriftsatz vom 12. Oktober 2000 zeigte der Prozessbevollmächtigte die Vertretung des Klägers an und beantragte, die Durchführung der mündlichen Verhandlung von der Einzelrichterin auf die "Kammer" zu übertragen, ihm einen Monat Frist zur Einarbeitung in die Akte zu gewähren und aus diesen Gründen einen neuen Termin zur mündlichen Verhandlung anzuberaumen.
Am folgenden Tag (dem Tag der mündlichen Verhandlung) ging beim FG um 9.50 Uhr ein Fax ein, in dem der Prozessbevollmächtigte mitteilte, er sei reiseunfähig erkrankt und könne daher an den angesetzten Terminen nicht teilnehmen; das ärztliche Attest habe er heute (am 13. Oktober 2000) übersandt. Der Vorsitzende und das FG führten die vorgesehene mündliche Verhandlung, in der der Kläger nicht vertreten war, durch, ohne den Termin zu verlegen bzw. zu vertagen. Laut Sitzungsprotokoll verlas der Vorsitzende das Fax und informierte über den Inhalt eines Telefonats, das er mit dem Prozessbevollmächtigten geführt hatte. Aufgrund der mündlichen Verhandlung erließ das FG ein Urteil, mit dem es den Haftungsbetrag auf 108 710,40 DM herabsetzte und die Klage im Übrigen abwies (vgl. Entscheidungen der Finanzgerichte ―EFG― 2001, 304).
Das FG sah in dem Vorbringen des Prozessbevollmächtigten keine erheblichen Gründe für eine Vertagung. Zu dem Antrag vom 13. Oktober 2000 heißt es in dem Urteil:
"Der Vertagungsantrag vom 13.10.2000 enthält ebenfalls keine i.S.d. § 227 Abs. 1 ZPO erheblichen Gründe.
Soweit der Prozessbevollmächtigte letztlich noch eine Terminsverlegung wegen einer Erkrankung beantragte, war seinem Vorbringen nicht zu entnehmen, dass erhebliche Hinderungsgründe vorlagen. Sein auf die bloße Behauptung beschränkter Vortrag, reiseunfähig krank zu sein, war unsubstantiiert, nicht nachvollziehbar und mangels konkreter Angaben nicht überprüfbar. Der Senat hatte mangels substantieller Schilderung keine Möglichkeit zu einer selbständigen Sachverhaltsbewertung und zu einer eigenen Entscheidung über die Qualität etwaiger hindernder Umstände. Die der subjektiven Behauptung zugrunde liegenden Tatsachen und Wertungen waren vom Antragsteller nicht erläutert und nicht glaubhaft gemacht worden. Weder hatte er beschrieben, welche Hindernisse seinem Erscheinen entgegen standen, noch hatte er seinem Verlegungsantrag ein ärztliches Attest beigefügt oder Hinderungsgründe glaubhaft gemacht.
Dem Prozessbevollmächtigten musste wegen der offensichtlichen Eilbedürftigkeit der Entscheidung über die Terminsabsetzung bewusst sein, dass er, wenn er die Überzeugung von der Notwendigkeit einer Terminsverlegung hätte vermitteln wollen, seine behauptete Verhinderung sofort zu belegen oder glaubhaft zu machen hatte. Auch wenn grundsätzlich erst auf Verlangen eine Glaubhaftmachung zu erfolgen hat, lag es im Streitfall auf der Hand, dass seine inhaltsleere Darstellung keine Vorstellung über seinen Zustand und die Ursache und das Ausmaß der angeblichen Verhinderung vermitteln konnte und für einen begründeten Verlegungsantrag nicht ausreichen konnte. Die Entscheidung nach § 227 Abs. 1 ZPO konnte offensichtlich nicht allein von seiner Bewertung der Situation abhängen. Wäre das Gericht daran gebunden, hinge die Vertagung allein von ihm als Beteiligtem ab. Das wäre mit dem Ziel einer möglichst zügigen Durchführung des Verfahrens nicht vereinbar (s. dazu BFH 26.8.1999, X B 58/99, BFH/NV 2000, 441 mwN; 12.8.1998, IV B 94/97, BFH/NV 1999, 324)."
Das FG ließ die Revision gegen sein Urteil nicht zu. Hiergegen wendet sich der Kläger mit der vorliegenden Beschwerde wegen Nichtzulassung der Revision. Der Kläger rügt, er sei aufgrund der dem Gericht bekannten und von diesem entschuldigten Erkrankung und aufgrund der Reiseunfähigkeit seines Prozessbevollmächtigten nicht nach Vorschrift des Gesetzes vertreten gewesen; es sei deshalb sein rechtliches Gehör verletzt. Hierzu trägt der Prozessbevollmächtigte in der Beschwerdebegründung vor, er sei am 13. Oktober 2000 plötzlich erkrankt und habe sich nicht reisefähig gefühlt. Er habe sich deshalb zum Arzt fahren lassen. Auf dem Weg zum Arzt sei er vom Vorsitzenden Richter X angerufen worden. Diesem habe er mitgeteilt, er werde sich untersuchen lassen und den Arzt um ein Attest bitten, das er dem Gericht übersenden werde. Er sei auch gerne bereit, das Attest nach Erhalt an das FG vorab durch Telefax zu übersenden. Der Vorsitzende Richter X habe hierauf verzichtet und die Übersendung des Originalattests durch normalen Brief genehmigt. Das Gericht habe demzufolge die Sache Az. … vertagt, nicht aber die vorliegende Sache. Das Gericht habe dadurch das Recht des Klägers auf Gehör verletzt, da sich sein Prozessbevollmächtigter in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht nicht habe äußern können. Auf diesem Verfahrensmangel i.S. des § 115 Abs. 2 Nr. 3 der Finanzgerichtsordnung (FGO) könne die Vorentscheidung beruhen.
Der Kläger beantragt, die Revision wegen des gerügten Verfahrensmangels zuzulassen.
Der Beklagte und Beschwerdegegner (das Finanzamt ―FA―) ist der Beschwerde entgegengetreten.
Entscheidungsgründe
II. Die Beschwerde ist begründet.
1. Die Zulässigkeit der Beschwerde richtet sich gemäß Art. 4 des Zweiten Gesetzes zur Änderung der Finanzgerichtsordnung und anderer Gesetze (2.FGOÄndG) vom 19. Dezember 2000 (BGBl I 2000, 1757, BStBl I 2000, 1567) nach den bis zum 31. Dezember 2000 geltenden Vorschriften, da die Vorentscheidung vor dem 1. Januar 2001 verkündet worden ist.
2. Nach § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO a.F. ist die Revision zuzulassen, wenn das Urteil des FG bei einem geltend gemachten Verfahrensmangel auf diesem beruhen kann.
Der Kläger hat schlüssig gerügt, dass ihm das rechtliche Gehör versagt war. Dies ist ein absoluter Revisionsgrund (§ 119 Nr. 3 FGO).
a) Nach § 227 der Zivilprozessordnung (ZPO) i.V.m. § 155 FGO kann das Gericht aus erheblichen Gründen auf Antrag oder von Amts wegen einen Termin aufheben oder verlegen sowie ―nach Beginn der mündlichen Verhandlung― eine Verhandlung vertagen. Liegen erhebliche Gründe für eine Terminänderung vor, so verdichtet sich die in dieser Vorschrift grundsätzlich eingeräumte Ermessensfreiheit des Gerichts zu einer Rechtspflicht. Der Termin muss in diesem Fall prinzipiell zur Gewährung rechtlichen Gehörs aufgehoben, verlegt oder die Verhandlung vertagt werden, selbst wenn das Gericht die Sache für entscheidungsreif hält und die Erledigung des Rechtsstreits durch die Terminsänderung verzögert würde (vgl. Bundesfinanzhof ―BFH―, Beschluss vom 8. April 1998 VIII R 32/95, BFHE 186, 102, BStBl II 1998, 676, unter C. I., m.w.N.).
b) Welche Gründe i.S. von § 227 Abs. 1 ZPO als erheblich anzusehen sind, richtet sich nach den Verhältnissen des Einzelfalles. Dabei sind sowohl der Prozessstoff und die persönlichen Verhältnisse der betroffenen Beteiligten und deren Prozessbevollmächtigten als auch die Gesichtspunkte zu berücksichtigen, dass im finanzgerichtlichen Verfahren nur eine Tatsacheninstanz besteht und die Beteiligten ein Recht darauf haben, ihre Sache in mündlicher Verhandlung vorzutragen (vgl. BFH in BFHE 186, 102, BStBl II 1998, 676).
Eine kurzfristige, überraschende Erkrankung eines Prozessbevollmächtigten ist regelmäßig ein erheblicher Grund für eine Änderung des Termins (BFH-Beschlüsse vom 30. Juni 1988 VI S 10/87, VI S 8-9/88, BFH/NV 1989, 234, 235; vom 7. Dezember 1990 III B 102/90, BFHE 163, 115, BStBl II 1991, 240; vom 9. Januar 1992 VII B 81/91, BFH/NV 1993, 29, und vom 1. Oktober 1992 I B 67-70/92, BFH/NV 1993, 186; BFH-Urteile vom 10. August 1990 III R 31/86, BFH/NV 1991, 464, 466, und vom 4. Mai 1994 XI R 104/92, BFH/NV 1995, 46, m.w.N.; Urteil des Bundessozialgerichts ―BSG― vom 6. Dezember 1983 11 RA 30/83, Neue Juristische Wochenschrift ―NJW― 1984, 888). Ausnahmsweise kann die Änderung eines Termins gleichwohl abgelehnt werden, wenn die Absicht einer Prozessverschleppung offensichtlich ist oder wenn der Kläger seine prozessualen Mitwirkungspflichten in anderer Weise erheblich verletzt hat (vgl. BFH in BFH/NV 1995, 46; BFH-Beschluss vom 29. Juni 1992 V B 9/91, BFH/NV 1993, 180).
c) Im Streitfall war das FG verpflichtet, die mündliche Verhandlung wegen der kurzfristig eingetretenen und nicht vorhersehbaren Erkrankung des Prozessbevollmächtigten von Amts wegen zu verlegen bzw. zu vertagen. Anders als im Fall des vom FG zitierten Beschlusses des BFH vom 26. August 1999 X B 58/99 (BFH/NV 2000, 441) war der Antrag auf Terminsverlegung hinreichend aussagekräftig, da er den Hinweis auf das ―am 16. Oktober 2000 beim FG eingegangene― Attest über die Arbeitsunfähigkeit enthielt. Anders als im Fall des vom FG zitierten Beschlusses des BFH vom 12. August 1998 IV B 94/97 (BFH/NV 1999, 324) lag im Streitfall auch eine wirksame Prozessvollmacht und ein Antrag auf Terminsverlegung vor. Aufgrund des Schreibens des Prozessbevollmächtigten vom 13. Oktober 2000 musste das FG damit rechnen, dass dieser tatsächlich kurzfristig erkrankt war und deshalb nicht reisefähig war. Aus diesem Grunde war auch die Absicht einer Prozessverschleppung nicht offensichtlich. Wenn das FG gleichwohl Zweifel an der Reiseunfähigkeit hatte, hätte es auf der sofortigen Übersendung der Bescheinigung des Arztes über die Arbeitsunfähigkeit per Fax bestehen können; jedenfalls bestand kein hinreichender Grund, das Urteil bereits vor Eingang des angekündigten Attests zu verkünden.
d) Entgegen der Auffassung des FA erfordert die schlüssige Rüge der Verletzung des Rechts auf Gehör keine Ausführungen darüber, was bei ausreichender Gewährung des rechtlichen Gehörs noch vorgetragen worden wäre und dass dieser Vortrag die Entscheidung des Gerichts hätte beeinflussen können, wenn das Gericht ―wie hier― verfahrensfehlerhaft in Abwesenheit des Rechtsmittelführers aufgrund mündlicher Verhandlung entschieden hat (BFH-Beschluss vom 3. September 2001 GrS 3/98).
3. Die Aufhebung der Vorentscheidung und die Zurückverweisung des Rechtsstreits an das FG zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung beruht auf § 116 Abs. 6 FGO i.d.F. des 2.FGOÄndG. Art. 4 2.FGOÄndG steht dem nicht entgegen, da diese Vorschrift nur die Zulässigkeit eines Rechtsbehelfs gegen eine vor dem 1. Januar 2001 verkündete Entscheidung betrifft, die weitere Behandlung dieses Rechtsbehelfs aber grundsätzlich nach neuem Recht erfolgt (BFH-Beschluss vom 16. August 2001 V B 51/01, Der Betrieb 2001, 2232).
Fundstellen
Haufe-Index 667076 |
BFH/NV 2002, 520 |