Leitsatz (amtlich)
1. Entscheidungen der FG über die Art und Weise der Gewährung von Akteneinsicht sind keine prozeßleitenden Verfügungen und daher mit der Beschwerde anfechtbar.
2. Der BFH als Beschwerdegericht hat bei der Überprüfung der Ermessensentscheidung des FG eigenes Ermessen auszuüben.
2. Die Überlassung der Akten an einen prozeßbevollmächtigten Rechtsanwalt in seine Kanzlei kommt nur in Ausnahmefällen in Betracht.
Normenkette
FGO §§ 78, 128
Verfahrensgang
Tatbestand
Im Verfahren vor dem Finanzgericht (FG) beantragten die Prozeßbevollmächtigten der Klägerin und Beschwerdeführerin (Klägerin), ihnen die Akten des Beklagten und Beschwerdegegners (Hauptzollamt - HZA -) in ihrer Kanzlei zugänglich zu machen. Sie machten im wesentlichen geltend, eine Akteneinsicht in A sei unzumutbar, das Versendungsrisiko in die Kanzlei oder zu einer Behörde in B sei gleichhoch zu veranschlagen und der Rechtsanwalt sei anders als z. B. ein Steuerbevollmächtigter ein Organ der Rechtspflege.
Mit dem angefochtenen Beschluß lehnte das FG den Antrag ab. Zur Begründung führte es aus: Im finanzgerichtlichen Verfahren hätten Rechtsanwälte keinen Anspruch darauf, Akten der Verwaltung in ihren Geschäftsräumen einzusehen. Die Versendung stehe vielmehr im pflichtmäßigen Ermessen des Gerichts. Bei der Ausübung des Ermessens seien das Interesse an einem geordneten Geschäftsgang (Vermeidung von Aktenverlusten, Wahrung des Steuergeheimnisses nach § 30 der Abgabenordnung - AO 1977 -) dem Interesse an einer Wahrnehmung des Vertretungsauftrags gegenüberzustellen (vgl. Beschluß des Bundesfinanzhofs - BFH - vom 10. August 1978 IV B 20/77; BFHE 126, 1, BStBl II 1978, 677). Die Akteneinsicht sei nach billigem Ermessen nicht in der von den Prozeßbevollmächtigten der Klägerin begehrten Art und Weise zu gewähren gewesen.
Gegen diese Entscheidung legte die Klägerin Beschwerde ein mit dem Antrag, das FG anzuweisen, ihren Prozeßbevollmächtigten in deren Kanzlei die vom HZA X vorgelegten Akten zugänglich zu machen. Sie macht geltend: Die Beschwerde sei zulässig. Die angefochtene Entscheidung sei eine solche i. S. des § 128 Abs. 1 der Finanzgerichtsordnung (FGO), durch die sie, die Klägerin betroffen werde. Der Beschluß gehöre nicht zu den nach § 128 Abs. 2 FGO durch Beschwerde nicht angreifbaren prozeßleitenden Verfügungen. Die Beschwerde sei auch begründet. Die Entscheidung liege zwar im pflichtmäßigen Ermessen des Gerichts. Die vom Gericht als Gründe für die Verweigerung der Aktenübersendung angegebenen Gründe seien aber unzutreffend.
Das HZA hält die Beschwerde für unbegründet.
Entscheidungsgründe
Die Beschwerde ist zulässig.
Nach § 128 Abs. 1 FGO steht gegen Entscheidungen des FG, die nicht Urteile oder Vorbescheide sind, den Beteiligten die Beschwerde an den BFH zu, soweit nicht in der Finanzgerichtsordnung etwas anderes bestimmt ist. Etwas anderes ist in § 128 Abs. 2 FGO u. a. bezüglich der prozeßleitenden Verfügungen bestimmt; sie können nicht mit Beschwerde angefochten werden. Die Entscheidung des FG nach § 78 Abs. 1 FGO darüber, ob die Akten des HZA den Prozeßbevollmächtigten der Klägerin in ihre Kanzlei übersandt werden können, ist jedoch keine prozeßleitende Verfügung in diesem Sinne.
In Rechtsprechung und Literatur ist streitig, ob die Verweigerung der Übersendung der Akten an einen bevollmächtigten Rechtsanwalt in dessen Kanzlei eine prozeßleitende Verfügung ist. Der BFH hat diese Frage bisher stets verneint und daher die Beschwerde für zulässig erachtet, ohne seine Entscheidungen näher zu begründen (Beschlüsse vom 29. September 1967 III B 31/67, BFHE 90, 312, BStBl II 1968, 82; vom 16. Juli 1974 VII B 31/74, BFHE 113, 94, BStBl II 1974, 716; vom 3. Dezember 1974 VII B 88/74, BFHE 114, 173, BStBl II 1975, 235, und BFHE 126, 1, BStBl II 1978, 677; zum gleichen Ergebnis gelangten der I. und VI. Senat des BFH in den nichtveröffentlichten Beschlüssen vom 19. Mai 1976 I B 112/75 und vom 5. März 1976 VI B 77/75). Diese Ansicht des BFH wird geteilt vom Bayerischen Verwaltungsgerichtshof (vgl. Beschluß vom 12. Oktober 1965 Nr. 145 III 66, Bayerische Verwaltungsblätter 1966, S. 427 - BayVBl 1966, 427 -) und vom Oberlandesgericht - OLG - Schleswig-Holstein (Beschluß vom 26. November 1975 I W 215/75, Der Deutsche Rechtspfleger 1976, S. 108 - Rpfleger 1976, 108 -) sowie in der Literatur von Hübschmann/Hepp/Spitaler (Kommentar zur Abgabenordnung/Finanzgerichtsordnung, 7. Aufl., § 78 FGO Anm. 11), Tipke/Kruse (Abgabenordnung/Finanzgerichtsordnung, Kommentar, 10. Aufl., § 78 FGO Anm. 6), Ziemer/Birkholz (Finanzgerichtsordnung, 3. Aufl., § 78 Anm. 7), Schunck/de Clerk (Verwaltungsgerichtsordnung, Kommentar, 3. Aufl., § 100 Anm. 1h) und Gräber (Akteneinsicht durch Beteiligte und ihre Bevollmächtigten im finanzgerichtlichen Verfahren, Deutsche Steuer-Zeitung, Ausgabe A 1980, S. 443, 445 - DStZ A 1980, 443, 445 -). Andere gehen davon aus, daß eine prozeßleitende Verfügung vorliegt (Urteil des Bundesgerichtshofs - BGH - vom 23. November 1972 IX ZR 29/71, Lindenmaier/Möhring, Nachschlagewerk des Bundesgerichtshofs , § 193 BEG 1956 Nr. 2, Beschluß des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom 20. Juli 1970 Nr. 38 I 70, BayVBl 1971, 395. Beschluß des Oberverwaltungsgerichts - OVG - Münster vom 13. Dezember 1972 IV B 698/72, Monatsschrift für Deutsches Recht 1973, S.436 - MDR 1973,436 - = Die Öffentliche Verwaltung 1973 S. 279 - DÖV 1973, 279 -; Eyermann/Fröhler, Verwaltungsgerichtsordnung, Kommentar, 8. Aufl., § 100 Anm. 5 und § 146 Anm. 13; Kopp, Verwaltungsgerichtsordnung, 4. Aufl., § 100 Anm. 9 und § 146 Anm. 8, Redeker/von Oertzen, Verwaltungsgerichtsordnung, 6. Aufl., § 100 Anm. 5; Meyer/Ladewig, Sozialgerichtsgesetz, § 172 Anm. 6 unter Hinweis auf Zeihe, Das Sozialgerichtsgesetz, 4. Aufl., § 172 Anm. 5c).
Den Begriff "prozeßleitende Verfügungen" enthalten die beinahe wortgleichen §§ 128 Abs. 2 FGO, 146 Abs. 2 der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) und 172 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG). § 140 der Zivilprozeßordnung (ZPO) verwendet einen ähnlichen Begriff (Anordnung in bezug auf die "Sachleistung"; vgl. Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, Zivilprozeßordnung, 39. Aufl., Übersicht vor § 128 Anm. 2A). Der Begriff der prozeßleitenden Verfügung ist gesetzlich zwar nicht bestimmt. Aus seinem Wortlaut und Sinn ist jedoch zu entnehmen, daß es sich um Entscheidungen des Gerichts oder seines Vorsitzenden handeln muß, die einen gesetzmäßigen und zweckfördernden Verlauf des Verfahrens, eine erschöpfende und doch schleunige Verhandlung und eine Beendigung des Rechtsstreits auf kürzestem Weg zum Ziele haben (Rosenberg, Zivilprozeßrecht, 12. Aufl., § 62 I). Es muß sich also um Entscheidungen handeln, die unmittelbar den Verlauf des gerichtlichen Verfahrens selbst betreffen. Ferner dürfen die Entscheidungen keinen besonders hohen Stellenwert haben (vgl. Beschluß des Verwaltungsgerichtshofs - VGH - Mannheim vom 10. August 1964 I 83/64, Deutsches Verwaltungsblatt 1964 S. 878 - DVBl 1964, 878 -, und Beschluß des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs in BayVBl 1971, 395). Daß der Gesetzgeber an solche Entscheidungen gedacht hat, ergibt sich auch aus den anderen gerichtlichen Entscheidungen, die in § 128 Abs. 2 FGO als nicht mit der Beschwerde angreifbar aufgeführt sind.
Die Entscheidung des Richters über die Art und Weise, in der einem Beteiligten Akteneinsicht zu gewähren ist, hat dagegen eine andere Qualität. Sie berührt das Grundrecht des Verfahrensrechts, das rechtliche Gehör, und hat deshalb eine Bedeutung, die jene der in § 128 Abs. 2 FGO ausdrücklich aufgeführten Entscheidungen übertrifft. Sie ist eine Entscheidung in einem Zwischenstreit und muß ebenso wie z. B. Entscheidungen in ähnlichen Zwischenstreiten - z. B. über die Ablehnung von Richtern oder die Zurückweisung eines Bevollmächtigten - der Beschwerde zugänglich sein (vgl. auch Gräber, a. a. O., S. 445).
Die Beschwerde ist aber nicht begründet.
Die Entscheidung darüber, ob die Akten einem Rechtsanwalt in dessen Kanzlei überlassen werden können, ist eine Ermessensentscheidung. Für den Zivilprozeß hat das der BGH entschieden (Urteil vom 12. Dezember 1960 III ZR 191/59, Neue Juristische Wochenschrift 1961 S. 559 - NJW 1961, 559 -). Für die Verwaltungsgerichtsbarkeit ist das ausdrücklich im Gesetz festgeschrieben (§ 100 Abs. 2 Satz 3 VwGO: "Nach dem Ermessen des Vorsitzenden können die Akten dem bevollmächtigten Rechtsanwalt zur Mitnahme, in seine Wohnung oder in seine Geschäftsräume übergeben werden."). In § 78 FGO fehlt die letztgenannte Bestimmung. Sie wurde nach der Begründung der Bundesregierung zum Entwurf des § 75 FGO, der als § 78 unverändert Gesetz geworden ist (Bundestags-Drucksache IV/1446, S. 53), nicht übernommen, weil die vorübergehende Überlassung der Akten an einen bevollmächtigten Rechtsanwalt eine Bevorzugung der Rechtsanwälte gegenüber den anderen als Bevollmächtigte in Betracht kommenden Berufsgruppen bedeuten würde. Daraus kann jedoch nicht entnommen werden, daß der Gesetzgeber den FG grundsätzlich habe untersagen wollen, Rechtsanwälten Akteneinsicht in ihrer Kanzlei zu gewähren; vielmehr liegt der Schluß nahe, der Gesetzgeber habe die Entscheidung in das Ermessen des Gerichts stellen wollen (so wohl auch BFHE 90, 312, BStBl II 1968, 82; Hübschmann/Hepp/Spitaler, a. a. O., § 78 FGO Anm. 8a; Tipke/Kruse a.a.O., § 78 FGO Anm. 4a; Gräber, a.a.O., DStZ A 1980, 443, III 1 d; in den Beschlüssen des BFH in BFHE 114, 173, BStBl II 1975, 235 und in BFHE 126, 1, BStBl II 1978, 677, sowie im nichtveröffentlichten BFH-Beschluß vom 28. Mai 1979 I R 76/77 ist diese Frage unentschieden geblieben). Für die Sozialgerichtsbarkeit - die Rechtslage ist dort die gleiche wie im finanzgerichtlichen Verfahren, da in § 120 SGG ebenso wie in § 78 FGO der Satz 3 des § 100 Abs. 2 VwGO fehlt - hat das Bundessozialgericht (BSG) entsprechend entschieden (vgl. Meyer/Ladewig, a. a. O., § 120 Anm. 4 mit weiteren Nachweisen).
Der erkennende Senat ist nicht auf die Überprüfung der Ermessensausübung durch das FG beschränkt. § 102 FGO gilt nur für die Überprüfung von Ermessensentscheidungen von Behörden, nicht von Gerichten. Auf die Überprüfung nur der Rechtmäßigkeit der Vorentscheidung ist das Rechtsmittelgericht allein bei der Revision und der Rechtsbeschwerde beschränkt. Der BFH als Beschwerdegericht ist dagegen auch Tatsacheninstanz. Die Beteiligten können daher mit der ihnen zugestandenen Beschwerde auch eine anderweitige Ausübung des Ermessens durch das Beschwerdegericht herbeiführen. Der BFH als Beschwerdegericht ist dementsprechend gehalten, eigenes Ermessen auszuüben (vgl. auch zum entsprechenden Problem im Zivilprozeß Zöller, Zivilprozeßordnung, 12. Aufl., § 568 Anm. 7; Stein/Jonas, Kommentar zur Zivilprozeßordnung, 20. Aufl., § 570 Anm. 1; Behrens, Die Nachprüfbarkeit zivilrechtlicher Ermessensentscheidungen, 1979 in Schriften zum Prozeßrecht Bd. 61 S. 65ff. und die dort zitierte Rechtsprechung). Es kann hier dahinstehen, ob für manche mit der Beschwerde angreifbare Ermessensentscheidungen der Gerichte Ausnahmen von diesem Grundsatz gelten (vgl. Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, a. a. O., 39. Aufl., Einleitung III 4 B b; Behrens, a. a. O., S. 67ff.). Denn jedenfalls ist die angefochtene Entscheidung keine solche, die völlig in das Belieben des Richters erster Instanz gestellt ist; ihm wird nur ein Spielraum für seine Entscheidung belassen. Das ergibt sich aus den Ausführungen im vorstehenden Absatz. Diese Auffassung stellt keine Abweichung von der bisherigen Rechtsprechung des BFH dar. Zwar könnten die oben zitierten Entscheidungen auch so verstanden werden, als sei der BFH der Auffassung, daß er nur zur Überprüfung der Ermessensentscheidung des Vorgerichts berufen sei. Keine dieser Entscheidungen nimmt aber zu diesem Rechtsproblem ausdrücklich Stellung. Einer Anrufung des Großen Senats des BFH bedarf es daher nicht.
Für die Art und Weise der Anwendung des Ermessens ist der vom Gesetzgeber gesteckte Ermessensrahmen maßgebend. Dieser ist durch § 78 FGO so gezogen worden, daß die Einsichtnahme der Akten bei Gericht die Regel sein soll. Schon der Begriff "Einsehen" und die Regelung über die Erteilung von Abschriften durch die Geschäftsstelle des Gerichts belegen das. Das bedeutet, daß nach der Entscheidung des Gesetzgebers den Beteiligten und ihren Prozeßbevollmächtigten zur Vermeidung von Verlustrisiken und im Interesse der ständigen Verfügbarkeit der Akten bei Gericht grundsätzlich zugemutet wird, sich zur Ausübung ihres Rechts auf Akteneinsicht zum Gericht zu begeben. Zwar sind Ausnahmen von dieser Regelung nicht ausgeschlossen. Sie müssen sich aber auf Sonderfälle beschränken (z. B. körperliche Behinderung des Beteiligten oder seines Prozeßbevollmächtigten). Daß der Gesetzgeber den Ermessensrahmen so und nicht weiter ziehen wollte, wird für den Bereich der Finanzgerichtsbarkeit auch durch die oben geschilderte Entstehungsgeschichte des § 78 FGO belegt. Die von den Prozeßbevollmächtigten der Klägerin vorgetragenen Gründe begründen keinen Ausnahmefall im genannten Sinn. Die Prozeßbevollmächtigten brauchen nach der Entscheidung des FG die Akten nicht beim Gericht selbst einzusehen, sondern können dies bei einer Behörde des Ortes tun, in dem ihre Kanzlei gelegen ist. Der wesentliche Grund, weswegen sie darüber hinaus begehren, die Akten in ihrer Kanzlei einsehen zu dürfen, liegt darin, daß jede andere Art der Akteneinsichtnahme unbequem und zeitaufwendig ist. Zwar ist diese Belastung insbesondere bei vielbeschäftigten Anwälten sicherlich nicht gering zu achten. Sie gilt aber grundsätzlich für jeden, der Akteneinsicht begehrt. Würde man einen solchen Grund für die Überlassung der Akten in die Kanzlei anerkennen, so würde das oben dargelegte vom Gesetzgeber gewollte Regel-Ausnahme-Verhältnis umgekehrt werden. Eine Entscheidung entsprechend dem Begehren der Prozeßbevollmächtigten der Klägerin hielte sich demnach nicht in dem vom Gesetz gezogenen Ermessensrahmen.
Fundstellen
Haufe-Index 413610 |
BStBl II 1981, 475 |