Entscheidungsstichwort (Thema)
Mögliche Gemeinschaftswidrigkeit des französischen Rechts und Bindung der deutschen Behörden
Leitsatz (NV)
Das BMF wird zum Beitritt zum Verfahren und zu einer Stellungnahme zu den Fragen aufgefordert,
- ob das nationale französische Recht insoweit gemeinschaftswidrig ist, als es die Gewährung von Familienbeihilfen für Rentner davon abhängig macht, dass deren Kinder sich nicht länger als ein Jahr außerhalb Frankreichs aufhalten, und
- ob die deutschen Behörden (Gerichte) an die Entscheidung der französischen Behörden, dass nach französischem Recht wegen des Aufenthalts der Kinder im Ausland (Deutschland) kein Anspruch auf eine Familienbeihilfe gegeben ist, gebunden sind.
Normenkette
EStG § 62 Abs. 1 Nr. 1, §§ 63, 65 Abs. 1 S. 1 Nr. 2; FGO § 122 Abs. 2; EWGV 1408/71 Art. 77 Abs. 2 Buchst. a; EGVtr Art. 227
Verfahrensgang
Tatbestand
I. Der Kläger und Revisionsbeklagte (Kläger) ist deutscher Staatsangehöriger. Er bezieht seit dem 1. April 1997 eine Rente aus der französischen gesetzlichen Rentenversicherung. Seit April 2000 erhält er außerdem eine Rente aus der deutschen Rentenversicherung. Er zog im September 1998 mit seiner Ehefrau und seinen sechs Kindern von Frankreich nach Deutschland. Seit Beginn des Schuljahres 1998/99 absolvierten die Tochter M (geboren im Dezember 1981) und der Sohn C (geboren im Dezember 1983) ihre schulische Ausbildung in Deutschland.
Der Kläger beantragte im August 2000 Kindergeld für M und C in Deutschland. Der Beklagte und Revisionskläger (Beklagter) gewährte Kindergeld für die Zeit ab April 2000. Der Kläger begehrte mit seinem Einspruch Kindergeld auch für die Zeit von Januar bis einschließlich März 2000. Der Einspruch hatte keinen Erfolg.
Das Finanzgericht (FG) gab der Klage statt. Es entschied, dem Kläger stehe auch für diesen Zeitraum für seine beiden Kinder gemäß §§ 62 Abs. 1 Nr. 1, 63 des Einkommensteuergesetzes (EStG) Kindergeld zu. Dieser Anspruch sei nicht nach § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG ausgeschlossen, weil sich aus den vom Kläger vorgelegten Bescheinigungen ergebe, dass die zuständigen französischen Behörden die Zahlung von Familienbeihilfen abgelehnt hätten. Nach französischem Recht habe für diese Zeit kein Anspruch auf Familienbeihilfe bestanden, weil sich die Kinder außerhalb Frankreichs aufgehalten hätten.
Der Beklagte rügt mit seiner --vom Bundesfinanzhof zugelassenen-- Revision einen Verstoß der Vorentscheidung gegen Art. 77 Abs. 2 Buchst. a der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 (VO Nr. 1408/71) des Rates über die Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern i.d.F. der Bekanntmachung der Verordnung (EG) Nr. 118/97 des Rates vom 2. Dezember 1996 (Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften --ABlEG-- 1997 Nr. L 28/1). Er ist der Auffassung, das französische Recht sei gemeinschaftswidrig, weil es einen Anspruch des Klägers auf Familienbeihilfe nur deshalb ausschließe, weil sich seine beiden Kinder seit mehr als einem Jahr außerhalb Frankreichs aufgehalten haben. Die deutschen Behörden (Gerichte) seien an die ablehnende Entscheidung der französischen Behörden nicht gebunden. Aus dem Urteil des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften (EuGH) vom 26. Juni 1975 Rs. 6/75 (EuGHE 1975, 823) lasse sich ableiten, dass die deutschen Behörden (Gerichte) an die ablehnende Entscheidung der Behörden eines anderen Mitgliedstaats nicht gebunden seien, soweit das nationale Recht dieses Mitgliedstaats gegen europäisches Gemeinschaftsrecht verstoße.
Entscheidungsgründe
II. Für das Revisionsverfahren ist von Bedeutung,
- ob das nationale französische Recht insoweit gemeinschaftswidrig ist, als es die Gewährung von Familienbeihilfen für Rentner davon abhängig macht, dass deren Kinder sich nicht länger als ein Jahr außerhalb Frankreichs aufhalten, und
- ob die deutschen Behörden (Gerichte) an die Entscheidung der französischen Behörden, dass nach französischem Recht wegen des Aufenthalts der Kinder im Ausland (Deutschland) kein Anspruch auf eine Familienbeihilfe gegeben ist, gebunden sind.
Der Senat hält einen Beitritt des Bundesministeriums der Finanzen (BMF) zum vorliegenden Verfahren gemäß § 122 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung (FGO) für zweckmäßig. Es wird um eine Stellungnahme zu folgenden Aspekten gebeten:
1. Nach Art. 227 des EG-Vertrages (EG) kann jeder Mitgliedstaat den EuGH anrufen, wenn er der Auffassung ist, dass ein anderer Mitgliedstaat gegen Vorschriften des Gemeinschaftsrechts verstößt. Teilt das BMF die Ansicht des Beklagten, dass das französische Recht in dem hier entscheidungserheblichen Punkt gemeinschaftswidrig ist und, falls dies bejaht wird, beabsichtigt die Bundesrepublik Deutschland, deswegen ein entsprechendes Vertragsverletzungsverfahren nach Art. 227 EG einzuleiten?
Falls ein derartigen Verfahren eingeleitet werden sollte, erübrigt sich eine Stellungnahme zu den nachfolgenden Punkten.
2. Anderenfalls ist von Bedeutung, ob eine Bindung der deutschen Behörden (Gerichte) an die Entscheidung der französischen Behörden besteht, dem Kläger ab Januar 2000 keine Familienbeihilfen mehr zu gewähren (sog. Tatbestandswirkung, Feststellungswirkung). Sollte eine solche Bindung nicht bestehen, ist zu klären, ob die deutschen Gerichte entsprechend § 293 der Zivilprozessordnung das französische Recht von Amts wegen festzustellen und anzuwenden haben. Dabei geht der Senat davon aus, dass das Gemeinschaftsrecht dann, wenn das französische Recht ihm widersprechen sollte, nicht unmittelbar angewendet werden kann, sondern im Wege der Staatenklage durchgesetzt werden muss. Der geltend gemachte Kindergeldanspruch wäre anzuerkennen, wenn das Vertragsverletzungsverfahren nicht durchgeführt wird und nach geltendem französischen Recht ab Januar 2000 keine Familienbeihilfe mehr zu gewähren ist.
3. Der Beklagte hat seine Auffassung, dass die deutschen Behörden (Gerichte) nicht an die ablehnende Entscheidung der französischen Behörden gebunden seien, auf das Urteil des EuGH vom 26. Juni 1975 Rs. 6/75 (EuGHE 1975, 823) gestützt. Das BMF wird um Erläuterung gebeten, ob es diese Beurteilung teilt.
In dem Verfahren in EuGHE 1975, 823 war streitig, ob die deutsche Behörde bei der Berechnung der Versicherungszeiten des Klägers algerische Versicherungszeiten anspruchserhöhend berücksichtigen musste. Der zuständige französische Versicherungsträger hatte es unter Hinweis auf ein französisches Gesetz abgelehnt, die vom Kläger in Algerien zurückgelegten Versicherungszeiten zu übernehmen. Daran hatte sich der deutsche Versicherungsträger gebunden gefühlt. Dazu hat der Generalanwalt in seinen Schlussanträgen ausgeführt, dass sich aus den einschlägigen Vorschriften des Gemeinschaftsrechts ergebe, dass auch ein deutscher Versicherungsträger für die Feststellung der Anrechenbarkeit von Versicherungszeiten zuständig sei. Lediglich die Feststellung der sich auf die fremden Versicherungszeiten beziehenden Leistungen sei gegebenenfalls Angelegenheit der französischen Versicherungsträger (EuGHE 1975, 832, 834).
Im Streitfall geht es nicht um die Anrechenbarkeit bestimmter Zeiten bei der Festlegung einer von einer deutschen Behörde zu erbringenden Leistung, sondern darum, dass die für Familienbeihilfen zuständigen französischen Behörden eine dort vom Kläger begehrte Leistung, nämlich die Zahlung von Familienbeihilfen für die Zeit von Januar bis März 2000, unter Hinweis auf die Regelungen in einem französischen Erlass abgelehnt haben. Während sich in dem vom EuGH entschiedenen Fall die fehlende Bindung des deutschen Versicherungsträgers an die Rechtsauffassung einer Behörde des anderen Mitgliedstaats für den dortigen Kläger günstig auswirkte, könnte eine fehlende Bindung im Streitfall zur Folge haben, dass der Kläger weder in Frankreich noch in Deutschland Kindergeld oder eine damit vergleichbare Leistung erhält, falls sich die Bundesrepublik Deutschland nicht der Mühe unterzieht, ein Verfahren nach Art. 227 EG einzuleiten.
4. Das BMF wird gebeten, sich zu den aufgeworfenen Fragen bis zum 30. November 2004 zu äußern.
Fundstellen