Entscheidungsstichwort (Thema)
Kein Erlaß einbehaltener Lohnsteuer wegen Verfassungswidrigkeit des Grundfreibetrags
Leitsatz (NV)
Aus der Verfassungswidrigkeit der Regelungen über den Grundfreibetrag ergeben sich keine die Erstattung einbehaltener Lohnsteuerbeträge im Wege des Erlasses rechtfertigenden Billigkeitsgründe.
Normenkette
AO 1977 § 227; FGO § 142
Tatbestand
Das Finanzgericht (FG) lehnte den Antrag des Antragstellers, ihm für die beabsichtigte Klage gegen die Beschwerdeentscheidung einen Rechtsanwalt beizuordnen, ab. Es führte aus, der Ausspruch des BVerfG würde unterlaufen, wenn aus sachlichen Gründen die festgesetzte Steuer für die Vergangenheit ganz oder teilweise erlassen würde. Hinsichtlich des Vorliegens persönlicher Billigkeitsgründe schloß es sich ausdrücklich der Beschwerdeentscheidung an.
Mit seinem beim Bundesfinanzhof (BFH) gestellten Antrag auf Bewilligung von Prozeßkostenhilfe (PKH) für das beabsichtigte Beschwerdeverfahren gegen den ablehnenden Beschluß des FG trägt der Antragsteller unter Beifügung des Vordrucks für die Erklärung über die persönlichen und wirtschaft lichen Verhältnisse und unter Bezug auf den Entwurf einer Beschwerde gegen den Beschluß des FG sowie einer Klage gegen die Beschwerdeentscheidung im wesentlichen vor:
Das FG habe seine Entscheidung, persön liche Billigkeitsgründe seien nicht gegeben, nicht näher begründet. Es habe das rechtliche Gehör dadurch verletzt, daß es die von ihm, dem Antragsteller, vorgetragenen Argumente nicht zur Kenntnis genommen habe. Die Begründung des FG, der Ausspruch des BVerfG würde unterlaufen, wenn die festgesetzten Steuern für die Vergangenheit erlassen würden, sei nicht überzeugend. Denn das BVerfG habe insofern lediglich ein Gebot für die Zeit ab 1996, nicht aber ein Verbot für die Vergangenheit ausgesprochen. Im übrigen habe er, der Antragsteller, keinen Erlaß aus sachlichen, sondern aus persön lichen Billigkeitsgründen begehrt. Das BVerfG habe aber einen Erlaß aus persön lichen Billigkeitgründen nicht untersagt. Folge man der Argumentation der OFD und des FG, werde die Erlaßregelung unterlaufen, was nicht im Sinne der Rechtsprechung des BVerfG sei.
Der Hinweis der OFD auf eine Finanzierung durch Kreditaufnahme sei kein Argument gegen, sondern -- umgekehrt -- für eine Erlaßbedürftigkeit, da die Kredite zurückgezahlt werden müßten. Die steuerliche Entla stung verfehle auch nicht mangels Zeitnähe ihren Zweck. Die OFD habe ferner die Erstattungen des Vorjahres zu Unrecht als Einkünfte des laufenden Jahres angesehen. Denn er habe die Erstattungen zur Deckung von Krediten für das Vorjahr verwenden müssen. Die Erstattungen müßten jeweils dem Jahr, für das sie erfolgt seien, zugeordnet werden. Danach sei für alle Streitjahre wegen Unterschreitens des Existenzminimums ein Erlaß geboten.
Entscheidungsgründe
Der Antrag ist unbegründet.
Nach § 142 Abs. 1 der Finanzgerichtsordnung (FGO) i. V. m. § 114 der Zivilprozeßordnung (ZPO) kann eine Partei, die nach ihren persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen die Kosten der Prozeßführung nicht, nur zum Teil oder nur in Raten aufbringen kann, auf Antrag PKH erhalten, wenn die beabsichtigte Rechtsverfolgung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet und nicht mutwillig erscheint. Unter den gleichen Voraussetzungen kann ein Rechtsanwalt oder ein Steuerberater beigeordnet werden (§§ 142 FGO, 121 ZPO). Es kann dahinstehen, ob die wirtschaftlichen Verhältnisse des Antragstellers ihm die Aufbringung der im finanzgerichtlichen Beschwerdeverfahren entstehenden Prozeß kosten erlauben. Denn es fehlt -- bei der in dem vorliegenden Verfahren gebotenen summarischen Prüfung der Sach- und Rechtslage -- bereits an einer hinreichenden Erfolgsaussicht der beabsichtigten Beschwerde gegen die Ablehnung der PKH.
1. Der Einwand des Antragstellers, das FG habe das rechtliche Gehör verletzt, geht fehl. Er hatte im Verfahren vor dem FG ausreichend Gelegenheit, zu den entscheidungserheblichen Sach- und Rechtsfragen Stellung zu nehmen. Gemäß § 105 Abs. 5 FGO, der auch für Beschlüsse gilt (Gräber/von Groll, Finanzgerichtsordnung, § 105 Anm. 1, 29), konnte das FG zur Begründung seiner Entscheidung über das Fehlen persönlicher Billigkeitsgründe auf die Beschwerdeentscheidung der OFD verweisen.
2. Die Entscheidung des FG, die beabsichtigte Klage des Antragstellers gegen die Ablehnung des Erlaßantrags sei ohne Erfolgsaussicht, ist -- bei summarischer Prüfung -- nicht zu beanstanden.
Nach § 227 der Abgabenordnung (AO 1977) können die Finanzbehörden Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis ganz oder zum Teil erlassen, wenn deren Einziehung im Einzelfall -- aus sachlichen oder persönlichen Gründen -- unbillig wäre. Als Ermessensentscheidung kann die Ablehnung eines Erlaßantrags im finanzgericht lichen Verfahren, von der Prüfung auf Verfahrensfehler abgesehen, gemäß § 102 FGO aber nur daraufhin überprüft werden, ob die Finanzbehörde die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten oder von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht hat (Beschluß des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichts höfe des Bundes vom 19. Oktober 1971 GmS-OGB 3/70, BFHE 105, 101, BStBl II 1972, 603). Gegenstand der gerichtlichen Kontrolle von Verwaltungsentscheidungen auf Ermessensfehler können dementsprechend nur die tatsächlichen Verhältnisse sein, die der Finanzbehörde im Zeitpunkt der letzten Verwaltungsentscheidung -- hier der Beschwerdeentscheidung der OFD -- bekannt waren oder hätten bekannt sein müssen (ständige Rechtsprechung, vgl. BFH-Beschluß vom 13. März 1990 VII S 3/90, BFH/NV 1991, 171, m. w. N.). Die Entscheidung der OFD, die einbehaltenen Lohnsteuerbeträge in Höhe der festgesetzten Jahressteuer nicht aus Billigkeitsgründen zu erstatten, läßt keine Ermessensfehler erkennen.
a) Zunächst sind sachliche Billigkeitsgründe zu verneinen. Das BVerfG hat in dem Beschluß in BVerfGE 87, 153, BStBl II 1993, 413, § 32 a Abs. 1 Satz 2 EStG (in der für das Streitjahr 1991 geltenden Fassung) nicht für nichtig, sondern für mit der Verfassung unvereinbar erklärt, jedoch eine rückwirkende Neuregelung nicht für geboten gehalten. Die Regelungen über den Grundfreibetrag bleiben sonach für die Streitjahre weiter anwendbar. Dies hat zur Folge, daß die ergangenen Steuerfestsetzungen nicht aufzuheben sind. Der Gesetzgeber ist lediglich verpflichtet, mit Wirkung vom Veranlagungszeitraum 1996 an die verfassungswidrige Regelung durch eine verfassungsgemäße zu ersetzen und darüber hinaus für die sog. Grenzsteuerzahler bereits ab 1993 sicherzustellen, daß ihnen die Erwerbsbezüge belassen werden, die sie zur Deckung ihres existenznotwendigen Bedarfs benötigen.
Hiervon ausgehend sind sachliche Billigkeitsgründe für die vom Antragsteller begehrte Erstattung nicht anzuerkennen. Die ergangenen Steuerfestsetzungen sind zwar, da sie nur den Grundfreibetrag gemäß § 32 a Abs. 1 Satz 2 EStG berücksichtigen, aus den vom BVerfG in dem Beschluß in BVerfGE 87, 153, BStBl II 1993, 413 dargelegten Gründen mit der grundrechtlichen Garantie des einkommensteuerlichen Existenzminimums nicht vereinbar. Hieraus folgt indes keine einen Steuererlaß rechtfertigende sachliche Unbilligkeit. Sachliche Billigkeitsgründe sind dann gegeben, wenn angenommen werden kann, daß der Gesetzgeber die im Billigkeits wege zu entscheidende Frage im Sinne der beabsichtigten Billigkeitsmaßnahme entschieden hätte, oder wenn die Einziehung den Wertungen des Gesetzgebers widerspricht (Tipke/Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, 14. Aufl., § 227 AO 1977 Tz. 19 ff., m. w. N.). Diese Voraussetzungen sind im Streitfall nicht gegeben, weil das BVerfG aus übergeordneten finanz- und haushaltsrechtlichen Gesichtspunkten sowie im Hinblick auf den Zweck des Grundfreibetrags -- trotz der Unvereinbarkeit mit den Wertungen des Grundgesetzes -- die weitere Anwendung von § 32 a Abs. 1 Satz 2 EStG bis einschließlich 1992 bzw. 1995 für zulässig erachtet hat. Die Berücksichtigung der gegen die Höhe des Grundfreibetrags für die Streitjahre sprechenden Gründe im Wege des Steuererlasses wegen sachlicher Unbilligkeit würde der Rechtsprechung des BVerfG zuwiderlaufen, nach der diese Gründe der weiteren Gesetzesanwendung und damit auch den darauf beruhenden Steuerfestsetzungen nicht entgegenstehen.
b) Entgegen der Ansicht des Antragstellers hat die OFD -- bei summarischer Prüfung -- zutreffend auch das Vorliegen persönlicher Billigkeitsgründe verneint.
Solche Billigkeitsgründe sind anzunehmen, wenn die Steuererhebung die wirtschaftliche oder persönliche Existenz des Steuerpflichtigen vernichten oder ernstlich gefährden würde (Tipke/Kruse, a.a.O., § 227 AO 1977 Tz. 43 ff.). Dabei ist dem Steuerpflichtigen grundsätzlich zuzumuten, zur Begleichung seiner Steuerverbindlichkeiten alle ihm zur Verfügung stehenden Mittel -- auch unter Inanspruchnahme eines Kredits und ihm zustehender Unterhaltsansprüche -- einzusetzen (von Groll in Hübschmann/Hepp/Spitaler, Kommentar zur Abgabenordnung und Finanzgerichtsordnung, 9. Aufl., § 227 AO 1977 Rz. 303 m. w. N.). Wird, wie im Streitfall, die Erstattung bereits entrichteter Steuern im Erlaßwege begehrt, setzt dies voraus, daß deren Einziehung im Zeitpunkt der Entrichtung -- beurteilt aus der Sicht der Verhältnisse im Zeitpunkt der letzten Verwaltungsentscheidung -- unbillig war (BFH-Urteile vom 23. Januar 1964 IV 393/61 U, BFHE 79, 54, BStBl III 1964, 252; vom 26. Februar 1987 IV R 298/84, BFHE 149, 126, BStBl II 1987, 612). Das war hier nicht der Fall.
Soweit der Kläger die Unbilligkeit der Steuerentrichtung lediglich damit begründet, ihm hätten im Streitzeitraum nur Mittel für den Lebensunterhalt zur Verfügung gestanden, die weniger als das nach dem Beschluß des BVerfG in BVerfGE 87, 153, BStBl II 1993, 413 als steuerfrei anerkannte Existenzminimum betragen hätten, macht er im Grunde nicht persönliche, sondern sachliche Billigkeitsgründe geltend. Da die Regelungen über den Grundfreibetrag nach der Rechtsprechung des BVerfG für die Streitjahre weiterhin anwendbar bleiben, kann ein Billigkeitserlaß nicht allein darauf gestützt werden, die Einziehung der Steuer habe dem Steuerpflichtigen weniger als das verfassungsrechtlich garantierte Existenzminimum belassen.
Der vorliegende Fall bietet auch keine Veranlassung, der Frage nachzugehen, ob und ggf. wann eine erhebliche Unterschreitung des sozialhilferechtlichen Existenzminimums bei Hinzutreten weiterer (besonderer) Umstände einen Erlaß bzw. eine Erstattung aus persönlichen Billigkeitsgründen rechtfertigen könnte. Denn dafür wäre jedenfalls Voraussetzung, daß eine ernstliche Existenzgefährdung als Folge der Lohnsteuerentrichtung angenommen werden könne. Davon kann hier jedoch, wie die OFD zutreffend ausgeführt hat, keine Rede sein. Insbesondere ist die vom Antragsteller geltend gemachte Rückzahlung der aufgenommenen Kredite nicht geeignet, auf eine Existenzgefährdung schließen zu lassen. Der Antragsteller hat die behaupteten Kredite vielmehr nach eigenen Angaben zur Finanzierung seines Lebensunterhalts aufgenommen. Denn nach seinem Vortrag verwandte er die ihm jeweils im Folgejahr zugeflossenen Steuererstattungen zur Tilgung von Krediten. Es standen ihm somit in den einzelnen Streitjahren -- neben dem erzielten Nettoarbeitslohn -- zusätzliche aus Kreditaufnahmen stammende Mittel (etwa) in Höhe der ihm zugeflossenen Steuererstattungen zur Verfügung. Die von der OFD in der Beschwerdeentscheidung dargestellte Berechnung der dem Antragsteller zur Deckung des notwendigen Grundbedarfs des täglichen Lebens zur Verfügung stehenden Mittel durch Hinzurechnung der Steuererstattung des Vorjahres zu dem im jeweiligen Jahr erzielten Nettoarbeitslohn ist sonach für die hier vorzunehmende Prüfung, ob eine Existenzgefährdung vorlag, nicht zu beanstanden. Weitere besondere Umstände, die auf eine Existenzgefährdung durch die Steuerentrichtung (aus der Sicht der Verhältnisse im Zeitpunkt der Beschwerdeentscheidung) schließen lassen könnten, sind weder vom Antragsteller vorgetragen worden noch aus den Akten ersichtlich.
Fundstellen
Haufe-Index 420281 |
BFH/NV 1995, 370 |