Normenkette
AO § 116; AO 1977 § 75; StAnpG § 8 Abs. 1; AO 1977 § 45 Abs. 1; EStG 1971 § 4 Abs. 2, 4
Verfahrensgang
Tatbestand
Die Kläger und Revisionskläger (Kläger) sind Eheleute, die zur Einkommensteuer zusammenveranlagt wurden.
Der Kläger unterhielt bis 1971 einen Großhandel mit Baustoffen. Da der Gewerbebetrieb überschuldet war, meldete er ihn 1971 beim zuständigen Ordnungsamt ab. Im zeitlichen Zusammenhang damit meldete die Klägerin ab Oktober 1971 einen gleichartigen Gewerbebetrieb an. Sie übernahm die Arbeitnehmer, die Geschäftsadresse und den Fernsprechanschluß. Der Kläger überließ ihr die Anschriften der Lieferanten und Kunden. Die Klägerin stellte diesen Betrieb am 31. Mai 1973 ein.
Der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt - FA -) ging davon aus, daß die Klägerin den Betrieb vom Kläger übernommen habe. Er nahm sie deshalb durch Haftungsbescheid vom 6. Dezember 1971 wegen rückständiger Lohn- und Umsatzsteuer des Klägers gemäß § 116 der Reichsabgabenordnung (AO) als Haftungschuldnerin in Anspruch. Die nach erfolglosem Einspruch erhobene Klage wurde zurückgenommen.
Der von der Stadt G wegen rückständiger Gewerbesteuer gemäß § 116 AO erlassene Haftungsbescheid vom 8. Januar 1975 ist rechtskräftig. Das Finanzgericht (FG) wies die gegen diesen Bescheid erhobene Klage ab.
Im Einspruchsverfahren gegen den endgültigen Einkommensteuerbescheid 1973 machten die Kläger erfolglos geltend, die Haftungsschulden seien bei Ermittlung des Gewinns aus dem Gewerbebetrieb der Klägerin gewinnmindernd zu berücksichtigen.
Die Klage hatte keinen Erfolg. Das FG vertrat die Meinung, der Gewinn der Klägerin aus Gewerbebetrieb sei weder um die Haftungsschulden noch um die auf diese Schulden etwa geleisteten Zahlungen zu mindern. Mit den Haftungsbescheiden sei der Klägerin keine neue zusätzliche Schuld erwachsen, denn die diesen Bescheiden zugrunde liegenden Schulden hätten bereits in der Eröffnungsbilanz der Klägerin ausgewiesen werden müssen. Sie seien deshalb im Wege der Berichtigung erfolgsneutral in diese Bilanz einzubuchen. Die Klägerin habe den Betrieb als Ganzes vom Kläger übernommen und ihn somit belastet mit den streitigen Schulden erworben.
Mit ihrer Revision rügen die Kläger die Verletzung materiellen Rechts.
Sie beantragen, unter Aufhebung der Vorentscheidung und der Einspruchsentscheidung des FA die Einkommensteuer 1973 auf null DM herabzusetzen.
Das FA beantragt, die Revision als unbegründet zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Zurückverweisung an das FG (§ 126 Abs. 3 Nr. 2 der Finanzgerichtsordnung - FGO -), weil sich aus dem angefochtenen Urteil nicht ergibt, ob die Klägerin die streitigen betrieblichen Steuerschulden des Klägers vertraglich übernommen hat.
Beim Übergang eines Betriebs auf einen anderen kann sich für den Betriebserwerber eine Verpflichtung zur Bezahlung von Betriebsschulden einschließlich betrieblicher Steuerschulden des bisherigen Betriebsinhabers durch Schuldübergang infolge Gesamtrechtsnachfolge, durch vertragliche Schuldübernahme oder aufgrund einer sich aus dem Gesetz ergebenden Haftung ergeben.
1. Ein Schuldübergang infolge Gesamtrechtsnachfolge liegt im Streitfall nicht vor, da die Klägerin den Betrieb von dem Kläger nicht durch Erbgang oder eine andere Form des gesetzlichen Vermögensübergangs (s. Tipke/Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, 11. Aufl., § 45 AO 1977 Tz. 3) erworben hat.
2. Liegt keine vertragliche Schuldübernahme vor, sondern haftet die Klägerin für die betrieblichen Steuerschulden des Klägers allein aufgrund der Haftungsbescheide des FA, so ist die Klage begründet, weil die Klägerin die Haftungsschulden in ihrer Schlußbilanz 1973 erstmals ausweisen darf.
a) Haftung i. S. des § 97 Abs. 2 AO bedeutet Einstehenmüssen für fremde Steuerschuld (vgl. Tipke/Kruse, Reichsabgabenordnung/Finanzgerichtsordnung, Kommentar, 7. Aufl., § 97 AO Anm. 6, 8, m. w. N.). Dabei ist die Haftungsschuld gegenüber der Steuerschuld weitgehend verselbständigt, so daß die Betriebssteuerschuld des bisherigen Inhabers von der Haftungsschuld des Übernehmers nach § 116 Abs. 1 AO streng geschieden werden muß. Gleiches gilt für die mit diesen Schulden korrespondierenden Ansprüche des FA. Es geht somit keine Steuerschuld auf den Erwerber über, denn dies wäre nur möglich, wenn § 116 AO einen Fall der Gesamtrechtsnachfolge i. S. des § 8 Abs. 1 des Steueranpassungsgesetzes (StAnpG) darstellte, was aber verneint werden muß (s. Urteil des Bundesfinanzhofs - BFH - vom 28. Mai 1963 V 224/60 U, BFHE 77, 148, BStBl III 1963, 371; Hübschmann/Hepp/Spitaler, Kommentar zur Reichsabgabenordnung/Finanzgerichtsordnung, 1. bis 6. Aufl., § 116 AO Anm. 6, § 119 AO Anm. 22; Tipke/Kruse, 7. Aufl., § 119 AO Anm. 2).
b) Das FG ist zu dem zutreffenden Ergebnis gelangt, daß die gegen die Klägerin festgesetzten Haftungsschulden Betriebsschulden sind, denn sowohl die Steuerschuld, für die sie einstehen muß, als auch der Tatbestand, der ihre Haftung begründet, beruhen auf betrieblichen Vorgängen (vgl. auch die von den Klägern zitierte Kommentarstelle, Herrmann/Heuer/Raupach, Einkommensteuer- und Körperschaftsteuergesetz mit Nebengesetzen, Kommentar, § 5 EStG Anm. 61 Stichwort: "Haftpflicht"). Jedoch kommt es aufgrund seiner Konstruktion vom wirtschaftlichen Übergang der Steuerschuld des Klägers auf die Klägerin zu der Auffassung, diese hätte die Haftungsschulden bereits in die Eröffnungsbilanz, und zwar erfolgsneutral, einbuchen müssen. Dem kann nicht gefolgt werden.
Zwar ist die Pflicht zum Ausweis der Schulden in der Eröffnungsbilanz nicht schon deswegen zu verneinen, weil es zur Geltendmachung der Haftung eines Haftungsbescheids nach § 118 AO bedarf. Noch weniger kann es darauf ankommen, ob der Haftungsbescheid mangels Einspruchseinlegung bestandskräftig oder gar durch ein rechtskräftiges Urteil bestätigt wird. Das FG unterliegt aber insoweit einem Rechtsirrtum, als es im Ergebnis den Haftungsschulden den Charakter von Betriebsausgaben i. S. des § 4 Abs. 4 des Einkommensteuergesetzes (EStG) abspricht. Denn dies folgt aus seiner Annahme, daß die Klägerin lediglich fremde Schulden, nämlich die ihres Ehemannes, nach Grundsätzen der Bilanzkontinuität fortzuführen habe, wodurch sie sich dann wegen § 4 Abs. 1 Satz 1 EStG zwangsläufig nicht auswirken. Dies widerspricht dem Wesen der Haftungsschuld, die den Haftungsschuldner originär und von der Steuerschuld weitgehend unabhängig belastet.
c) Die Haftungsschulden entstanden gemäß § 3 Abs. 2 i. V. m. Abs. 1 StAnpG bereits mit dem Erwerb des Unternehmens des Klägers durch die Klägerin, ohne daß Haftungsbescheide hätten erlassen oder gar bestandskräftig werden müssen (vgl. Tipke/Kruse, a. a. O., § 3 StAnpG Anm. 16, § 97 AO Anm. 8). Mit dem Entstehen der Haftungsschuld ist freilich nicht stets eine Inanspruchnahme des Haftenden verbunden, da gemäß § 118 AO der Erlaß eines Haftungsbescheids im Ermessen des FA steht. Ist aber die Sachlage wie hier, daß der bisherige Betriebsinhaber vermögenslos ist, dann steht die Inanspruchnahme für den Übernehmer des Betriebs ernsthaft zu befürchten und dieser muß in der Bilanz, die dem Zeitpunkt der Betriebsübereignung folgt, eine Rückstellung für die drohende Inanspruchnahme oder, soweit diese bereits - wie im Streitfall durch Erlaß des Haftungsbescheids über Lohn- und Umsatzsteuer - erfolgt ist, einen entsprechenden Schuldposten ausweisen (vgl. die BFH-Urteile vom 17. Januar 1963 IV 165/59 S, BFHE 76, 651, BStBl III 1963, 237; vom 12. März 1964 IV 95/63 S, BFHE 79, 471, BStBl III 1964, 404, und vom 26. April 1966 I 18/64, BFHE 86, 114 betreffend Haftpflichtverbindlichkeiten; siehe auch das BFH-Urteil vom 16. Juli 1969 I R 81/66, BFHE 96, 510, BStBl II 1970, 15 betreffend Schadensersatzverpflichtung; Herrmann/Heuer/Raupach, a. a. O., § 5 EStG Anm. 61 Stichworte: "Haftpflicht" und "Schadensersatzverpflichtung").
d) Die Passivierung der Haftungsschuld ist auch nicht durch einen Aktivposten in Gestalt einer Ausgleichsforderung nach § 426 Abs. 1 Satz 1 des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) oder eines Rückgriffsanspruchs nach § 426 Abs. 2 Satz 1 BGB für den Fall der Tilgung der Haftungsforderung ganz oder teilweise zu neutralisieren; denn, wie das FG zutreffend ausführt, sind diese Ansprüche wegen der Überschuldung des Klägers nicht realisierbar und damit ohne wirtschaftlichen Wert. Eine Aktivierung in der Schlußbilanz 1971 wäre unzulässig.
e) Die Haftungsschulden hätten somit in die Schlußbilanz 1971 - und zwar nach dem oben (Tz. 2 a) Gesagten teilweise als Schuld, teilweise als Rückstellung (für die Gewerbesteuerrückstände) - eingestellt und als Betriebsausgaben dieses Jahres erfaßt werden müssen.
Da aber eine Berichtigung der Bilanz 1971 gemäß § 4 Abs. 2 Satz 1 EStG nicht mehr möglich ist, weil die Veranlagung 1971 wegen Verjährung des Steueranspruchs und mangels einer Berichtigungsvorschrift nicht mehr geändert werden kann, ist der Bilanzierungsfehler in der Schlußbilanz des ersten Jahres, für das eine Berichtigung noch möglich ist, erfolgswirksam zu korrigieren; d. h. hier im Streitjahr 1973.
Dies entspricht seit dem Beschluß des Großen Senats vom 29. November 1965 GrS 1/65 S (BFHE 84, 392, BStBl III 1966, 142) der ständigen Rechtsprechung des BFH.
Der BFH hat die nachträgliche Einbuchung von Forderungen mit Gewinnauswirkung zugelassen (s. Urteile vom 14. Januar 1960 IV 108/58 U, BFHE 70, 365, BStBl III 1960, 137; vom 27. März 1962 I 136/60 S, BFHE 75, 10, BStBl III 1962, 273, und vom 14. Dezember 1982 VIII R 53/81, BFHE 137, 339, BStBl II 1983, 303). In dem nicht zur Veröffentlichung bestimmten Urteil vom 9. Dezember 1976 IV R 14/71 ist entschieden worden, daß überhöhte Steuerrückstellungen erfolgswirksam im ersten Jahr, dessen Veranlagung noch geändert werden kann, aufzulösen sind.
Diese vor allem zuungunsten des Steuerpflichtigen ergangene Rechtsprechung muß in gleicher Weise gelten, wenn der Steuerpflichtige einen Schuldposten, der seinen Gewinn gemindert hätte, außer Ansatz gelassen hat und eine Berichtigung an der Fehlerquelle aus den erwähnten Gründen nicht mehr möglich ist (vgl. Schmidt/Heinicke, Einkommensteuergesetz, 2. Aufl., § 4 Anm. 143 a; übereinstimmend insoweit auch Charlier, Steuerberater-Jahrbuch 1977/1978, 387, 389). So liegt der Fall hier. Die Klägerin hat es versäumt, die Haftungsschulden im Jahr ihrer Entstehung bei der Gewinnermittlung zu berücksichtigen. Da weder eine Änderung der Veranlagung 1971 noch der Veranlagung 1972 möglich ist, sind die Haftungsschulden zu Lasten des Gewinns in die Schlußbilanz des Jahres 1973 einzustellen.
Diesem Ergebnis steht Treu und Glauben nicht entgegen (s. Schmidt/Heinicke, a. a. O., § 4 Anm. 137 d, 143 a, m. w. N.): Die Klägerin unterließ die Bilanzierung der Haftungsschulden nicht bewußt rechtswidrig und willkürlich, sondern infolge der irrigen Annahme, eine Passivierung habe erst zu erfolgen, wenn die Haftung endgültig feststehe.
3. Anders ist die Rechtslage dann, wenn die Klägerin die betrieblichen Steuerschulden des Klägers vertraglich übernommen hat. In diesem Fall hätten die Steuerschulden (erfolgsneutral) in der Eröffnungsbilanz der Klägerin ausgewiesen werden müssen. Die Haftungsschulden dürfen in diesem Fall nicht zusätzlich in der auf die Eröffnungsbilanz folgenden Schlußbilanz ausgewiesen werden, da sie wirtschaftlich mit der übernommenen Schuld identisch sind. Die Klage wäre in diesem Fall abzuweisen.
Die Sache ist nicht spruchreif, weil das FG keine tatsächlichen Feststellungen zu der Frage getroffen hat, ob die Klägerin die Steuerschulden des Klägers vertraglich übernommen hat. Es gibt lediglich das von ihm nicht überprüfte Parteivorbringen wieder. Das FG wird die fehlenden Feststellungen nachholen müssen.
Fundstellen
Haufe-Index 75070 |
BStBl II 1984, 695 |
BFHE 1985, 312 |