Entscheidungsstichwort (Thema)
Hemmung der Festsetzungsfrist durch gesetzliche Pflicht zur Abgabe einer Steuererklärung
Leitsatz (NV)
1. Die Pflicht zur Abgabe der Steuererklärung beruht nicht nur dann auf Gesetz, wenn sich die Pflicht zur Abgabe der Steuererklärung unmittelbar aus Gesetz oder Rechtsverordnung, d.h. allein aus objektiver gesetzlicher Grundlage unabhängig vom Verhalten der Finanzbehörde ergibt, sondern auch dann, wenn das Steuergesetz den zur Abgabe der Steuererklärung verpflichteten Personenkreis generell umschreibt und lediglich das Entstehen der Erklärungspflicht im Sinne eines Vorbehalts oder einer Bedingung an eine Konkretisierungshandlung (Auswahlermessen) des Finanzamts, nämlich die Aufforderung zur Abgabe der Steuererklärung durch die Finanzbehörde knüpft.
2. In diesem Sinne aufgrund gesetzlicher Vorschrift zur Abgabe einer Erbschaftsteuererklärung verpflichtet ist derjenige am Erbfall Beteiligte, der gemäß § 31 Abs. 1 ErbStG 1974 vom Finanzamt zur Abgabe der Erbschaftsteuererklärung aufgefordert wird.
Normenkette
AO 1977 § 169 Abs. 1 S. 1, § 170 Abs. 1-2, § 149 Abs. 1 Sätze 1-2; ErbStG 1974 § 31 Abs. 1
Verfahrensgang
Tatbestand
Die Klägerin und Revisionsbeklagte (Klägerin) ist auf Grund eines Erbvertrages vom 17. Januar 1978 Vermächtnisnehmerin und Erbin zu 1/2 des Nachlasses ihres am ... 1978 verstorbenen Ehemannes. Am 17. August 1978 wurden dem Beklagten und Revisionskläger (Finanzamt - FA -) vom Nachlaßgericht eine Abschrift des Erbvertrages nach Eröffnung am 20. März 1978 sowie eine Abschrift des Teilerbscheines zugesandt. Eine Anzeige der Klägerin über ihren Erwerb erfolgte nicht. Mit Schreiben vom 1. März 1979 forderte das FA die Klägerin zur Abgabe einer Erbschaftsteuererklärung auf und verlängerte antragsgemäß wegen langwieriger Rechtsstreitigkeiten unter den Erben die Abgabefrist mehrfach. Am 15. November 1983 gab der Testamentsvollstrecker die Steuererklärung ab.
Das FA setzte durch Bescheid vom 16. Januar 1984 gegen die Klägerin Erbschaftsteuer in Höhe von ... DM unter dem Vorbehalt der Nachprüfung fest und erhöhte die Steuer mit der Einspruchsentscheidung auf ... DM.
Mit Einspruch und Klage berief sich die Klägerin auf den Ablauf der Festsetzungsfrist.
Das Finanzgericht (FG) hob Bescheid und Einspruchsentscheidung auf. Hinsichtlich des Erbschaftsteueranspruchs sei die Festsetzungsfrist abgelaufen. Die vierjährige Festsetzungsfrist für den im Jahre 1978 entstandenen Erbschaftsteueranspruch habe mit Ablauf des Jahres 1978 begonnen und mit Ablauf des Jahres 1982 geendet. Eine Anlaufhemmung komme weder nach § 170 Abs. 5 Nr. 1 der Abgabenordnung (AO 1977) noch nach § 170 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AO 1977 in Betracht. Die Voraussetzungen des § 170 Abs. 5 Nr. 1 AO 1977 lägen nicht vor, weil die Klägerin schon im Jahre 1978 Kenntnis von ihrem Erwerb gehabt habe. § 170 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AO 1977 erfordere eine Anzeige- bzw. eine Steuererklärungspflicht auf Grund gesetzlicher Vorschrift. Eine solche liege hier nicht vor, weil die Pflicht der Klägerin zur Abgabe einer Steuererklärung erst auf Grund einer entsprechenden Aufforderung durch das FA gemäß § 31 Abs. 1 des Erbschaftsteuergesetzes (ErbStG) 1974 entstanden sei. Auch sei die Klägerin gemäß § 30 Abs. 1 ErbStG 1974 nicht zur Anzeige verpflichtet gewesen, weil ihr Erwerb auf einer von einem deutschen Gericht eröffneten Verfügung von Todes wegen beruhe und sich hieraus das Verhältnis der Klägerin zum Erblasser unzweifelhaft ergebe (§ 30 Abs. 3 ErbStG 1974).
Mit der vom FG zugelassenen Revision rügt das FA unrichtige Anwendung des § 170 Abs. 2 Nr. 1 AO 1977. Es beantragt, das Urteil des FG aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Abweisung der Klage (§ 126 Abs. 3 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung - FGO -).
1. Gemäß § 169 Abs. 1 Satz 1 AO 1977 ist eine Steuerfestsetzung unzulässig, wenn die - im Streitfall vierjährige (vgl. § 169 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AO 1977) - Festsetzungsfrist abgelaufen ist. Die Festsetzungsfrist beginnt im Regelfall gemäß § 170 Abs. 1 AO 1977 mit Ablauf des Kalenderjahres, in dem die Steuer entstanden ist. Abweichend hiervon beginnt die Festsetzungsfrist jedoch nach § 170 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AO 1977 in den Fällen, in denen auf Grund gesetzlicher Vorschrift eine Steuererklärung oder eine Steueranmeldung einzureichen oder eine Anzeige zu erstatten ist, mit dem Ablauf des Kalenderjahres, in dem die Steuererklärung, die Steueranmeldung oder die Anzeige eingereicht wird, spätestens jedoch mit Ablauf des dritten Kalenderjahres, das auf das Kalenderjahr folgt, in dem die Steuer entstanden ist.
Soweit das FG in seinem Urteil die Auffassung vertritt, eine Hemmung des Beginns der Festsetzungsfrist gemäß § 170 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AO 1977 sei nicht eingetreten, weil die Klägerin im Streitfall nicht auf Grund gesetzlicher Vorschrift zur Abgabe einer Erbschaftsteuererklärung verpflichtet gewesen sei, vermag dem der Senat nicht zu folgen.
Auf Grund gesetzlicher Vorschrift besteht die Pflicht zur Abgabe einer Steuererklärung, wenn diese gesetzlich, d.h. durch förmliches Gesetz oder auch durch Rechtsverordnung (vgl. Urteil des Bundesfinanzhofs - BFH - vom 8. November 1984 IV R 19/82, BFHE 142, 363, BStBl II 1985, 199f.) vorgeschrieben ist. Die Verpflichtung, eine Steuererklärung abzugeben, kann sich zum einen unmittelbar aus den (Einzel-)Steuergesetzen ergeben (§ 149 Abs. 1 Satz 1 AO 1977; z.B. § 56 der Einkommensteuer-Durchführungsverordnung - EStDV -) oder dann entstehen, wenn das FA - ohne daß eine ausdrückliche Regelung im Einzelsteuergesetz vorliegt - zur Abgabe einer Steuererklärung auffordert (§ 149 Abs. 1 Satz 2 AO 1977).
Der Senat läßt offen, ob er der Rechtsauffassung des I.Senates des BFH in seinem Urteil vom 28. November 1990 I R 71/89 (BFHE 163, 414, BStBl II 1991, 440) folgen könnte, auch in den Fällen des § 149 Abs. 1 Satz 2 AO 1977 lasse die bloße Aufforderung des FA eine gesetzliche Steuererklärungspflicht mit den sich aus § 170 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AO 1977 ergebenden Rechtsfolgen entstehen. Denn ein solcher Fall liegt hier bereits deshalb nicht vor, weil § 31 ErbStG 1974 eine Regelung enthält, aus der sich ergibt, wer zur Abgabe einer Steuererklärung jedenfalls potentiell verpflichtet ist (§ 149 Abs. 1 Satz 1 AO 1977).
Entgegen der Auffassung der Vorinstanz beruht die Pflicht zur Abgabe der Steuererklärung nicht nur dann auf Gesetz, wenn sich die Pflicht zur Abgabe der Steuererklärung unmittelbar aus Gesetz oder Rechtsverordnung, d.h. allein aus objektiver gesetzlicher Grundlage unabhängig vom Verhalten der Finanzbehörde ergibt (so: Tipke/Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, 14. Aufl., § 170 AO 1977 Tz. 2a; Orlopp in Klein/Orlopp, Abgabenordnung, Kommentar, 4. Aufl. 1989, § 170 Anm. 3a; Kühn/Kutter/Hofmann, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, 16. Aufl. 1990, § 170 Anm. 3; Ruban in Hübschmann/Hepp/Spitaler, Kommentar zur Abgabenordnung und Finanzgerichtsordnung, 9. Aufl., § 170 Rdnr. 24; Moench, Erbschaftsteuer, Kommentar, 6. Aufl. 1991, § 9 Rndr.53a, am Ende; Kapp, Kommentar zum Erbschaftsteuer- und Schenkungsteuergesetz, § 31 Anm. 4; Schwarz/Frotscher, Abgabenordnung, Kommentar, § 170 Rdnr. 3; Urteil des FG Baden-Württemberg vom 15. Oktober 1987 III K 301/85, Entscheidungen der Finanzgerichte - EFG - 1988, 278; Urteil des FG Hamburg vom 19. Juni 1990 II 141/88, EFG 1991, 131), sondern auch dann, wenn das Steuergesetz den zur Abgabe der Steuererklärung verpflichteten Personenkreis generell umschreibt und lediglich das Entstehen der Erklärungspflicht im Sinne eines Vorbehaltes oder einer Bedingung an eine Konkretisierungshandlung (Auswahlermessen) des FA, nämlich die Aufforderung zur Abgabe der Steuererklärung durch die Finanzbehörde knüpft (so: BFH-Entscheidungen vom 24. Juli 1990 IX B 138/89, BFH/NV 1991, 159 unter Abschn. I.2., und vom 17. August 1989 IX R 76/88, BFHE 159, 398, BStBl II 1990, 411, 414; Trzaskalik in Hübschmann/Hepp/Spitaler, a.a.O., 9. Aufl., § 149 Anm. 22; Troll, Erbschaftsteuer- und Schenkungsteuergesetz, Kommentar, Anh. I Tz. 28; Sosnitza in Umsatzsteuer- und Verkehrsteuer-Recht 1990, 171ff.).
Nach der hier maßgebenden Vorschrift des § 31 Abs. 1 ErbStG 1974 kann das FA von jedem an einem Erbfall Beteiligten ohne Rücksicht darauf, ob er selbst steuerpflichtig ist, die Abgabe einer Erklärung verlangen. Alle am Erbfall Beteiligten sind nach dieser gesetzlichen Regelung potentiell steuererklärungspflichtig. Die gesetzliche Pflicht zur Abgabe der Erbschaftsteuererklärung entsteht jedoch erst in dem Zeitpunkt, in dem das FA einen oder mehrere aus dem im Gesetz umschriebenen Kreis der (potentiell) Verpflichteten auffordert, die Steuererklärung abzugeben.
Das auf anderen rechtlichen Grundsätzen beruhende Urteil des FG ist aufzuheben.
2. Die Sache ist spruchreif.
Im Streifall wurde die als Vermächtnisnehmerin und Erbin zu 1/2 am Erbfall beteiligte Klägerin mit Schreiben des FA vom 1. März 1979 zur Abgabe einer Steuererklärung aufgefordert. Damit war die Klägerin nach § 31 Abs. 1 ErbStG 1974 verpflichtet, eine Erbschaftsteuererklärung abzugeben. Diese Verpflichtung beruht - wie oben dargelegt - unabhängig davon, daß sie erst durch die Konkretisierungshandlung des FA, nämlich die Aufforderung zur Abgabe der Steuererklärung, entstand, auf gesetzlicher Vorschrift, nämlich auf § 31 Abs. 1 ErbStG.
Mit dem Entstehen der auf Gesetz beruhenden Steuererklärungspflicht der Klägerin traten auch die Rechtswirkungen des § 170 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AO 1977 ein, die zu einem von § 170 Abs. 1 AO 1977 abweichenden Beginn der Festsetzungsfrist führten. Danach begann die Festsetzungsfrist im Streitfall erst mit Ablauf des Jahres 1981 (Ablauf des dritten Kalenderjahres, das auf das Kalenderjahr folgt, in dem die Steuer entstanden ist), weil die Klägerin erst 1983 ihrer Steuererklärungspflicht nachkam. Die vierjährige Festsetzungsfrist war somit im Zeitpunkt des Erlasses des Erbschaftsteuerbescheides am 16. Januar 1984 noch nicht abgelaufen.
Da der Steueranspruch ansonsten weder dem Grunde noch der Höhe nach umstritten ist und auch sonst Rechtsfehler des FA nicht erkennbar sind, ist die Klage abzuweisen.
Fundstellen