Entscheidungsstichwort (Thema)
Grundsatz der Meistbegünstigung; Verurteilung zur Zahlung von Prozeßzinsen im Anfechtungsprozeß nach Abhilfe des Anfechtungsbegehrens; Kostenentscheidung bei teilweiser Erledigung der Hauptsache
Leitsatz (NV)
1. Nach dem Grundsatz der Meistbegünstigung kann Beschwerde auch dann eingelegt werden, wenn die Entscheidung des FG richtigerweise nicht in Form eines Beschlusses, sondern als Urteil hätte ergehen müssen.
2. Über die - nach § 100 Abs. 3 FGO mit der Anfechtungsklage verbundene - Klage auf Zahlung von Prozeßzinsen kann auch dann noch entschieden werden, wenn das FA dem Anfechtungsbegehren stattgegeben hat.
3. Ist der Rechtsstreit in der Hauptsache teilweise erledigt, muß im Schlußurteil über die Kosten des gesamten Rechtsstreits einheitlich entschieden werden.
4. Für eine Klage auf Zahlung von Prozeßzinsen besteht besonderer Anlaß zur Prüfung des Rechtsschutzbedürfnisses.
Normenkette
AO 1977 § 236 Abs. 2 Nr. 1; FGO §§ 128, 100 Abs. 3
Verfahrensgang
Tatbestand
Der Kläger und Beschwerdeführer (Kläger) klagte beim Finanzgericht (FG) gegen die Einkommensteuerbescheide 1971 bis 1977. Er beantragte, diese seiner Rechtsauffassung entsprechend zu berichtigen und außerdem, dem Beklagten und Beschwerdegegner (Finanzamt - FA -) die Prozeßzinsen aufzuerlegen. Nachdem das FA für die Streitjahre 1972 bis 1976 dem Begehren auf Änderung der Steuerbescheide teilweise abgeholfen hatte, erklärte der Kläger mit Schriftsatz vom 29. Juni 1987 die Rücknahme seiner gegen die Steuerbescheide gerichteten Klage, soweit seinem Begehren nicht schon durch das FA entsprochen worden war, und ,,im übrigen die Erledigung der Hauptsache". Gleichzeitig beantragte er, durch Beschluß u. a. dahin zu entscheiden, daß ,,der Beklagte die Zinsen auf die nunmehr erstatteten Steuern ab Rechtshängigkeit zu leisten hat".
Das FG wies unter Hinweis auf den Beschluß des Bundesfinanzhofs (BFH) vom 24. November 1982 II R 172/80 (BFHE 137, 6, BStBl II 1983, 237) die Klage durch Vorbescheid als unzulässig ab. Daraufhin stellte der Kläger Antrag auf mündliche Verhandlung, wobei er ausdrücklich auch auf seine Anträge im Schriftsatz vom 29. Juni 1987 Bezug nahm.
Daraufhin erließ das FG einen Beschluß, in dem es unter Hinweis auf die Erledigung des Rechtsstreits in der Hauptsache über die Kosten des Verfahrens befand und außerdem - unter Ziffer 3 - den Antrag des Klägers, Prozeßzinsen festzusetzen, ablehnte. Zur Begründung der Ablehnung führte es aus, dem Antrag könne im gegenwärtigen Verfahrensstand nicht entsprochen werden, selbst wenn man das ursprüngliche Begehren des Klägers auf gerichtliche Festsetzung von Prozeßzinsen im Sinne der Auslegung des § 100 Abs. 3 der Finanzgerichtsordnung (FGO) entsprechend den Rechtsgrundsätzen des BFH in den Urteilen vom 29. Juni 1971 VII K 31/67 (BFHE 103, 28, BStBl II 1971, 740) und vom 28. November 1974 V R 98/70 (BFHE 114, 323, BStBl II 1975, 300) als Teil der Hauptsache des Verfahrens ansehe. Die Vorschriften des § 100 Abs. 3 FGO sähen nicht die isolierte Festsetzung der Prozeßzinsen durch das Gericht vor, sondern gestatteten eine solche Entscheidung nur im Zusammenhang mit der - hier ausgeschlossenen - Entscheidung über den angefochtenen Verwaltungsakt.
Mit der Beschwerde verfolgt der Kläger sein Begehren auf Festsetzung von Prozeßzinsen weiter.
Der Kläger beantragt, den Beschluß des FG aufzuheben, durch den sein Antrag auf Festsetzung von Prozeßzinsen abgelehnt worden sei und diese antragsgemäß festzusetzen.
Entscheidungsgründe
Die Beschwerde, der das FG nicht abgeholfen hat, ist zulässig und begründet.
Die Beschwerde ist zulässig.
Nach § 128 Abs. 1 FGO steht den Beteiligten gegen Beschlüsse des FG grundsätzlich die Beschwerde an den BFH zu. Beschwerde kann auch dann eingelegt werden, wenn die Entscheidung des FG richtigerweise nicht in Form eines Beschlusses, sondern als Urteil hätte ergehen müssen (Grundsatz der Meistbegünstigung; BFH-Urteil vom 12. August 1981 I B 72/80, BFHE 134, 216, BStBl II 1982, 128). Dies ist für den Streitfall von Bedeutung, weil über den Antrag des Klägers, dem FA die Prozeßzinsen aufzuerlegen, nicht durch Beschluß, sondern durch Urteil zu befinden gewesen wäre und gegen Urteile nicht die Beschwerde, sondern die Revision gegeben ist (§ 115 FGO). Der Kläger hat von vornherein mit seiner Anfechtungsklage eine Klage auf Zahlung von Prozeßzinsen verbunden.
Insoweit hat der Kläger sein Klagebegehren nicht dadurch aufgegeben, daß er nach Änderung der angefochtenen Steuerbescheide durch das FA im Rahmen seiner Erledigungserklärung nunmehr eine Entscheidung über seinen Antrag ausdrücklich durch Beschluß begehrt hat. Der Kläger hat mit diesem Antrag lediglich sein ursprüngliches Klagebegehren eingeschränkt, und zwar nunmehr auf Verzinsung der nach Erlaß der Änderungsbescheide zu erstattenden Steuern. Über diesen Antrag konnte nur durch Urteil entschieden werden.
Die Beschwerde ist auch begründet. Sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Zurückverweisung der Sache an das FG.
1. Entgegen der Auffassung des FG konnte die Verpflichtung zur Zahlung von Prozeßzinsen auch ausgesprochen werden, nachdem das FA die angefochtenen Bescheide geändert und damit dem Anfechtungsbegehren stattgegeben hatte. Zwar geht § 100 Abs. 3 FGO seinem Wortlaut und seiner Stellung im Gesetz nach vom Fall der Aufhebung des Steuerbescheids durch Urteil aus. Nach Auffassung des Senats ist die Vorschrift aber auch dann entsprechend anzuwenden, wenn die Leistung, hier die Zahlung von Prozeßzinsen, begehrt wird, nachdem dem Anfechtungsbegehren abgeholfen worden ist. Die Vorschrift des § 100 Abs. 3 FGO dient der Prozeßökonomie. Es ist prozeßwirtschaftlich sinnvoll, den Streit um die sich aus der Aufhebung eines Bescheids ergebenden Ansprüche im bisherigen Verfahren austragen zu lassen, da der Prozeßstoff dem Gericht bekannt ist und den Beteiligten sowie dem Gericht Kosten und Aufwand eines neuen Rechtsstreits erspart bleiben. Diese Überlegungen greifen auch im Falle der behördlichen Aufhebung des angefochtenen Bescheids Platz. Davon ist auch das Urteil in BFHE 103, 28, BStBl II 1971, 740 ausgegangen; auch nachdem die Beteiligten die Hauptsache bis auf den geltend gemachten Zinsanspruch für erledigt erklärt hatten, hat der BFH über das Zinsbegehren in der Sache entschieden. Im Urteil in BFHE 114, 323, BStBl II 1975, 300 hat der BFH sogar die - nach Aufhebung des angefochtenen Steuerbescheids und Erstattung der Steuern - von vornherein gegen die Ablehnung der Zahlung von Prozeßzinsen gerichtete Klage in Anwendung des § 100 Abs. 3 FGO als zulässig erachtet.
2. Der Beschluß des FG, der mit diesen Rechtsgrundsätzen nicht im Einklang steht, muß danach aufgehoben werden. Dabei kann die Aufhebung nicht auf den die Prozeßzinsen betreffenden Teil des Beschlusses beschränkt bleiben. Die Kostenentscheidung hinsichtlich des erledigten Teils des Verfahrens kann nicht für sich bestehen bleiben. Vielmehr kann über die Kosten des gesamten Rechtsstreits nur einheitlich im Schlußurteil, in dem nunmehr über das Begehren auf Zahlung von Prozeßzinsen zu befinden sein wird, entschieden werden (vgl. BFH-Beschluß vom 18. Dezember 1972 VIII B 4/69, BFHE 108, 150, BStBl II 1973, 455).
3. Die Sache wird an das FG zurückverwiesen. Eine Zurückverweisung an das FG ist auch im Beschwerdeverfahren zulässig (vgl. Gräber / Ruban, Finanzgerichtsordnung, § 132 Anm. 10, mit Rechtsprechungsnachweisen) und insbesondere dann zweckmäßig, wenn das FG, wie hier, einen Antrag aus formellen Gründen zurückgewiesen hat.
Bei seiner erneuten Entscheidung wird das FG insbesondere das Rechtsschutzbedürfnis für das auf Zahlung von Prozeßzinsen gerichtete Leistungsbegehren zu prüfen haben. Da die FÄ ihrer Verpflichtung zur Zahlung von Prozeßzinsen nach § 236 der Abgabenordnung (AO 1977) im allgemeinen von sich aus nachkommen, besteht diesbezüglich besonderer Anlaß zur Prüfung (vgl. auch BFH-Urteil vom 16. Juli 1980 VII R 24/77, BFHE 131, 158, BStBl II 1980, 632, betreffend den Antrag auf Folgenbeseitigung nach § 100 Abs. 1 Satz 2 FGO). Vom Kläger müßte insoweit dargelegt werden, daß und aus welchen Gründen das FA seiner sich aus § 236 Abs. 2 Nr. 1 AO 1977 ergebenden Zinszahlungspflicht nicht nachkommen wollte. Es ist nicht ersichtlich, ob der Kläger sich mit seinem Anspruch an das FA gewandt und dieses daraufhin die Zahlung verweigert hat. Nur unter dieser Voraussetzung könnte aber das Rechtsschutzbedürfnis bejaht werden (vgl. Gräber /von Groll, Finanzgerichtsordnung, 2. Aufl., Rdnr. 48 zu § 100).
4. Der Senat entscheidet in der Besetzung von fünf Richtern (vgl. Urteil in BFHE 134, 216, BStBl II 1982, 128) durch Vorbescheid.
Fundstellen