Entscheidungsstichwort (Thema)
Erstattungsklage als allgemeine Leistungsklage; Bindungswirkung einer ablehnenden Entscheidung über die Bewilligung von Kindergeld im Erstattungsverfahren nach § 74 Abs. 5 EStG 1996
Leitsatz (NV)
- Die Klage, mit der der nachrangige Leistungsträger seinen (vermeintlichen) Erstattungsanspruch gemäß § 104 SGB X geltend macht, ist eine ohne Vorverfahren zulässige allgemeine Leistungsklage i.S. des § 40 Abs. 1 FGO.
- Nimmt der Träger der Sozialhilfe die Familienkasse auf Erstattung erbrachter Sozialleistungen nach § 74 Abs. 5 EStG 1996 (nunmehr: § 74 Abs. 2 EStG) i.V.m. § 104 SGB X in Anspruch, kann die Familienkasse einwenden, dass die Festsetzung von Kindergeld bestandskräftig abgelehnt worden sei. Im Erstattungsverfahren besteht jedenfalls dann eine Bindung an die bestandskräftige ablehnende Entscheidung, wenn diese nicht offensichtlich fehlerhaft ist.
Normenkette
EStG 1996 § 74 Abs. 5; EStG § 74 Abs. 2; SGB X § 104; FGO § 40 Abs. 1
Verfahrensgang
FG Düsseldorf (EFG 2001, 1561) |
Tatbestand
Kläger und Revisionskläger (Kläger) ist das Landratsamt als Träger der Sozialhilfe. Streitig ist, ob der Kläger gegen das Arbeitsamt ―Familienkasse―, den Beklagten und Revisionsbeklagten (Beklagter), einen Erstattungsanspruch gemäß § 74 Abs. 5 des Einkommensteuergesetzes (EStG) in der bis zum 31. Dezember 1999 gültigen Fassung des Jahressteuergesetzes 1996 (JStG 1996) vom 11. Oktober 1995 (BGBl I 1995, 1250, BStBl I 1995, 438) i.V.m. § 104 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) hat. Dem liegt der folgende Sachverhalt zugrunde:
Der Vater bezog für seine 1976 geborene Tochter Kindergeld. Mit Bescheid vom 11. März 1997 gewährte der Kläger der Tochter ab dem 1. März 1997 Hilfe zum Lebensunterhalt zuzüglich Wohngeld. Am 17. März 1997 machte der Kläger beim Beklagten einen Erstattungsanspruch nach § 104 SGB X mit der Begründung geltend, dass die Tochter von ihren Eltern keinen Unterhalt erhalte. Der Beklagte hob mit dem an den Vater gerichteten Bescheid vom 29. April 1997 die Festsetzung des Kindergeldes ab Januar 1997 wegen Überschreitens der Einkommensgrenze auf. Gegen diesen Aufhebungsbescheid legte der Kläger am 2. Juni 1997 Einspruch ein. Der Beklagte wies den Einspruch des Klägers gegen den Aufhebungsbescheid mit Entscheidung vom 30. Januar 1998 als unbegründet zurück.
Der Kläger erhob am 31. Juli 1998 Klage gegen den Beklagten, mit der er gemäß § 74 Abs. 5 EStG 1996 i.V.m. § 104 SGB X die Zahlung von Kindergeld für die Tochter in Höhe von 2 100 DM für die Monate März bis August 1997 begehrte.
Das Finanzgericht (FG) wies die Klage mit dem in Entscheidungen der Finanzgerichte (EFG) 2001, 1561 veröffentlichten Urteil vom 21. August 2001 als unbegründet ab. Es entschied, dass ein Erstattungsanspruch des Klägers nach § 104 Abs. 2 SGB X aufgrund der bestandskräftigen Einspruchsentscheidung vom 30. Januar 1998 ausgeschlossen sei. Darin habe der Beklagte entschieden, dass ein Kindergeldanspruch nicht bestehe. Zwar bestehe ein eigenständiger Erstattungsanspruch des Leistungsträgers. Nach der neueren Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG, Urteil vom 22. Mai 1985 1 RA 33/84, BSGE 58, 119) bedeute das jedoch nicht, dass der Leistungsbescheid des vorrangigen Leistungsträgers unbeachtlich sei, wenn der nachrangige Leistungsträger gegen ihn Einspruch eingelegt habe und ihm gegenüber die Einspruchsentscheidung ergangen sei. In diesem Fall müsse nicht noch einmal über Grund und Höhe der Leistung entschieden werden.
Der Kläger rügt mit seiner Revision eine Verletzung des § 74 Abs. 5 EStG 1996 i.V.m. § 104 SGB X.
Er beantragt, die Vorentscheidung aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, an ihn im Wege der Kostenerstattung Kindergeld in Höhe von 2 100 DM zu leisten.
Der Beklagte beantragt, die Revision als unbegründet zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
Die Revision des Klägers ist unbegründet und daher zurückzuweisen (§ 126 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung ―FGO―). Das FG hat rechtsfehlerfrei entschieden, dass die Klage zulässig, aber unbegründet ist, weil der Beklagte gegen den Erstattungsanspruch des Klägers gemäß § 104 Abs. 1 und 2 SGB X einwenden kann, dass die Festsetzung von Kindergeld für den Zeitraum, für den die Erstattung begehrt wird, bestandskräftig abgelehnt worden ist.
1. Das FG hat die auf Zahlung gerichtete Leistungsklage des Klägers zutreffend auch ohne Vorverfahren (§ 44 Abs. 1 FGO) als zulässig angesehen. Bei der Klage, mit der der nachrangige Leistungsträger seinen (vermeintlichen) Erstattungsanspruch gemäß § 104 SGB X geltend macht, handelt es sich um eine ohne Vorverfahren zulässige allgemeine Leistungsklage i.S. des § 40 Abs. 1 FGO, da zwischen den Leistungsträgern kein Über- und Unterordnungsverhältnis besteht, das zu einer Entscheidung durch Verwaltungsakt berechtigen würde (vgl. BSG-Urteile vom 25. Juli 1985 7 RAr 74/84, SozR 4100 § 105b AFG Nr. 4; vom 22. Januar 1998 B 14/10 KG 24/96 R, NVwZ-Rechtsprechungs-Report ―NVwZ-RR― 1998, 566). Die Erstattungsansprüche nach den §§ 102 bis 105 SGB X sind als eigenständige Ansprüche normiert, die selbständig neben einem Anspruch des Berechtigten gegen den zur Erstattung herangezogenen Leistungsträger entstehen und (nur) von der Erfüllung der in §§ 102 ff. SGB X geregelten Tatbestandsvoraussetzungen abhängig sind (vgl. BSG-Urteile vom 1. Dezember 1983 4 RJ 91/82, BSGE 56, 69; vom 23. Juni 1993 9/9a RV 35/91, SozR 3-1300 § 112 SGB X Nr. 2; vom 28. April 1999 B 9 V 8/98 R, BSGE 84, 61).
2. Das FG hat die zulässige Klage zu Recht als unbegründet abgewiesen, weil sich der Beklagte entgegen der Auffassung der Revision auf die Bestandskraft seines Aufhebungsbescheides vom 29. April 1997 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 30. Januar 1998 berufen kann.
a) Nach § 74 Abs. 5 EStG 1996 (nunmehr: § 74 Abs. 2 EStG) gelten für die Erstattungsansprüche der Träger von Sozialleistungen gegen die Familienkasse die §§ 102 bis 109 und 111 bis 113 SGB X entsprechend. Gemäß § 104 Abs. 1 SGB X ist dann, wenn ein nachrangig verpflichteter Leistungsträger Sozialleistungen erbracht hat, bei Vorliegen bestimmter weiterer Voraussetzungen der Leistungsträger erstattungspflichtig, gegen den der Berechtigte vorrangig einen Anspruch hat. Nachrangig verpflichtet ist ein Leistungsträger, soweit dieser bei rechtzeitiger Erfüllung der Leistungsverpflichtung eines anderen Leistungsträgers selbst nicht zur Leistung verpflichtet gewesen wäre. Nach § 104 Abs. 2 SGB X gilt Abs. 1 der Vorschrift auch dann, wenn von einem nachrangig verpflichteten Leistungsträger für einen Angehörigen Sozialleistungen erbracht worden sind und ein anderer mit Rücksicht auf diesen Angehörigen einen Anspruch auf Sozialleistungen gegenüber einem vorrangig verpflichteten Leistungsträger hat.
Die Sozialhilfe als Hilfe zum Lebensunterhalt (§§ 1 Abs. 1, 11 ff. des Bundessozialhilfegesetzes ―BSHG―) ist gegenüber dem Anspruch auf Kindergeld gemäß §§ 62 ff. EStG insoweit eine nachrangige Leistung, als das Kindergeld der Förderung der Familie dient (§ 31 Satz 2 EStG).
aa) § 2 Abs. 1 BSHG bestimmt, dass Sozialhilfe u.a. nicht erhält, wer die erforderliche Hilfe von anderen, insbesondere von Trägern anderer Sozialleistungen erhält (sog. Systemsubsidiarität). Für das Kindergeld nach dem Bundeskindergeldgesetz (BKGG) ist in der Rechtsprechung des BSG und des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG) anerkannt, dass es sich um eine gegenüber der Hilfe zum Lebensunterhalt vorrangige Sozialleistung i.S. des § 104 SGB X handelt; das Kindergeld sei eine mit der Hilfe zum Lebensunterhalt zweckidentische Leistung und damit anrechenbares Einkommen i.S. von §§ 76, 77 BSHG, das anspruchsmindernd auf die Sozialhilfe anzurechnen sei (vgl. BVerwG-Urteil vom 25. November 1993 5 C 8.90, BVerwGE 94, 326, m.w.N.; BSG-Urteil vom 28. August 1997 14/10 Rkg 11/96, SozR 3-1300 § 104 SGB X Nr. 12, m.w.N.).
bb) Der Gesetzgeber hat durch das JStG 1996 das Kindergeld im X. Abschnitt des EStG (§§ 62 bis 78) neu geregelt und es gemäß § 31 Satz 3 EStG als Steuervergütung (§ 37 Abs. 1 der Abgabenordnung ―AO 1977―) ausgestaltet. Er hat das bisherige duale System von Kindergeld und Kinderfreibetrag mit Wirkung ab dem 1. Januar 1996 dahin geändert, dass nach § 31 Satz 1 EStG die steuerliche Freistellung des Einkommensbetrages der Eltern in Höhe des Existenzminimums eines Kindes durch den Kinderfreibetrag nach § 32 EStG oder durch das Kindergeld nach dem X. Abschnitt des EStG bewirkt wird. Soweit das Kindergeld für die (verfassungsrechtlich) gebotene steuerliche Freistellung nicht erforderlich ist, dient es gemäß § 31 Satz 2 EStG der Förderung der Familie.
Der Teil des Kindergeldes gemäß §§ 62 ff. EStG, der der Förderung der Familie dient, stellt zwar keine Sozialleistung im formellen Sinne, sondern eine einkommensteuerliche Förderung der Familie durch eine Sozialzwecknorm dar (Urteil des Bundesfinanzhofs ―BFH― vom 23. November 2000 VI R 165/99, BFHE 193, 569, BStBl II 2001, 279). Dies ändert aber nichts daran, dass das Kindergeld insoweit, als es der Förderung der Familie dient, wie bisher gegenüber der Hilfe zum Lebensunterhalt als vorrangige Leistung i.S. des § 104 SGB X anzusehen ist. Die in § 74 Abs. 5 EStG 1996 angeordnete entsprechende Anwendung u.a. des 104 SGB X ergäbe keinen Sinn, wenn der Teil der Kindergeldes, der der Förderung der Familie dient, nicht ebenso wie bisher das Kindergeld nach dem BKGG als vorrangige Leistung anzusehen wäre. Nach der Gesetzesbegründung sollte durch § 74 Abs. 5 EStG 1996 sichergestellt werden, dass die aufgeführten Vorschriften des SGB X "weiterhin" anwendbar bleiben (BTDrucks 13/1558, S. 162). Das ist aber nur der Fall, wenn ungeachtet der formalrechtlichen Ausgestaltung des Kindergeldes als Steuervergütung (§ 31 Satz 3 EStG) der Teil des Kindergeldes, der der Familienförderung dient (vgl. § 31 Satz 2 EStG), weiterhin als vorrangige Sozialleistung behandelt wird. Darüber besteht zwischen den Beteiligten auch kein Streit.
b) In der Rechtsprechung des BSG ist in neuerer Zeit ungeachtet der formalen Eigenständigkeit der Erstattungsansprüche nach den §§ 103 bis 105 SGB X der Gedanke betont worden, dass diese Ansprüche inhaltlich von dem Anspruch des (vermeintlich) Leistungsberechtigten abhängig und mit diesem untrennbar verbunden seien. Deshalb führe die (formale) Selbständigkeit der Erstattungsansprüche nicht dazu, dass der Leistungsbescheid des vorrangig leistungspflichtigen Trägers für die Erstattung unbeachtlich wäre; vielmehr bestehe eine wechselseitige Abhängigkeit und Verknüpfung hinsichtlich Grund und Höhe mit der Folge, dass der auf Erstattung in Anspruch genommene Leistungsträger grundsätzlich diejenigen Einwendungen, die ihm gegenüber dem Leistungsberechtigten zustünden, auch gegenüber dem Erstattungsanspruch erheben könne (vgl. BSG-Urteile vom 13. September 1984 4 RJ 37/83, BSGE 57, 146; in BSGE 58, 119; s. aber auch noch das BSG-Urteil vom 27. August 1987 2 RU 49/86, BSGE 62, 118; vgl. zu dieser Problematik ausführlich Kater in Kasseler Kommentar, Sozialversicherungsrecht, § 103 SGB X Rdnr. 44 ff. und § 104 SGB X Rdnr. 38). So könne er nicht nur einwenden, dass über den Sozialleistungsanspruch bereits rechtskräftig ablehnend entschieden worden sei (BSG-Urteil in BSGE 58, 119), sondern auch geltend machen, dass eine Leistung bestandskräftig abgelehnt worden sei (BSG-Urteil vom 12. Mai 1999 B 7 AL 74/98 R, BSGE 84, 80) oder erst ab einem bestimmten Zeitpunkt zu gewähren sei (BSG-Urteil vom 1. September 1999 B 13 RJ 49/98 R, SozR 3-1300 § 86 SGB X Nr. 3). Die Leistungspflicht des auf Erstattung in Anspruch genommenen Leistungsträgers sei grundsätzlich durch die gegenüber dem Leistungsempfänger ergangenen Bescheide begrenzt; als Rechtsgrund für dieses "Akzeptierenmüssen" der ablehnenden Leistungsbescheide sei das im geltenden Recht vorgesehene gegliederte und auf dem Prinzip der Aufgabenteilung beruhende Sozialleistungssystem und letztlich die auf diesem System beruhende Verpflichtung der Sozialleistungsträger zur engen Zusammenarbeit gemäß § 86 SGB X anzusehen (BSG-Urteil in BSGE 84, 80).
Allerdings ist nach der Rechtsprechung des BSG der die Erstattung begehrende Leistungsträger ausnahmsweise dann nicht verpflichtet, die bindende Versagung der Leistung durch den anderen Leistungsträger zu respektieren, wenn sich diese Entscheidung als offensichtlich fehlerhaft erweist und ihm zum Nachteil gereicht (vgl. BSG-Urteile in BSGE 57, 146; vom 25. Januar 1994 7 RAr 42/93, BSGE 74, 36; in BSGE 84, 80).
Der erkennende Senat schließt sich der dargestellten Rechtsauffassung des BSG aus den von diesem angeführten überzeugenden Gründen an.
c) Wendet man die vom BSG aufgestellten Grundsätze auf den Streitfall an, dann steht dem Kläger kein Erstattungsanspruch gemäß § 104 Abs. 1 und 2 SGB X zu. Der Beklagte kann dem Kläger ebenso wie dem Vater als dem bisherigen Kindergeldberechtigten entgegenhalten, dass er in der bestandskräftig gewordenen Einspruchsentscheidung vom 30. Januar 1998 entschieden hat, dass ein Anspruch auf Kindergeld für die Tochter seit dem 1. Januar 1997 und damit auch in dem streitigen Zeitraum von März bis August 1997 nicht bestanden hat. Der Kläger hat weder geltend gemacht noch ist erkennbar, dass diese Entscheidung offensichtlich fehlerhaft war.
Fundstellen
Haufe-Index 775521 |
BFH/NV 2002, 1156 |
HFR 2002, 1027 |