Entscheidungsstichwort (Thema)
Mehrbedarfsrente: nicht einkommensteuerbar, beinhaltet keinen Zinsanteil, Begriff "Vermehrung der Bedürfnisse" - Zuständigkeit für die Entscheidung nach § 139 Abs.3 Satz 3 FGO - Kapitaleinkünfte bei Zahlungen für zurückliegende Zeiträume
Leitsatz (amtlich)
Schadensersatzrenten zum Ausgleich vermehrter Bedürfnisse (sog. Mehrbedarfsrenten nach § 843 Abs.1, 2.Alternative BGB) sind weder als Leibrente noch als sonstige wiederkehrende Bezüge einkommensteuerbar (Anschluß an BFH-Urteil vom 25. Oktober 1994 VIII R 79/91, BFHE 175, 439, BStBl II 1995, 121).
Orientierungssatz
1. NV: In den einzelnen Rentenleistungen ist ―anders als bei der Tilgung einer zum Privatvermögen gehörenden Forderung durch wiederkehrende Leistungen― kein steuerpflichtiger Zinsanteil enthalten.
2. NV: Der Begriff "Vermehrung der Bedürfnisse" in § 843 Abs.1, 2.Alternative BGB umfaßt den schadensbedingt vermehrten Bedarf für die persönliche Lebensführung. Das bedeutet, daß alle unfallbedingt ständig wiederkehrenden vermögenswerten Aufwendungen zu ersetzen sind, die dem Ausgleich derjenigen Nachteile dienen sollen, die dem Verletzten infolge der dauernden Störung seines körperlichen Wohlbefindens entstehen (vgl. BGH-Rechtsprechung).
3. NV: Die Entscheidung, die Zuziehung eines Bevollmächtigten für das Vorverfahren für notwendig zu erklären, gehört sachlich zum Kostenfestsetzungsverfahren; zuständig ist deshalb das Gericht des ersten Rechtszuges (vgl. BFH-Beschluß vom 18.7.1967 GrS 5-7/66).
4. NV: Soweit in Zahlungen für zurückliegende Zeiträume Verzugszinsen oder Prozeßzinsen enthalten sind, unterliegen diese als Einkünfte aus Kapitalvermögen der Einkommensteuer.
Normenkette
BGB § 843 Abs. 1 Alt. 2, Abs. 2; EStG § 2 Abs. 1, § 20 Abs. 1 Nr. 7, § 22 Nr. 1 Sätze 1, 3 Buchst. a; FGO § 139 Abs. 3 S. 3
Verfahrensgang
Tatbestand
Die Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin) ist infolge eines ärztlichen Kunstfehlers seit ihrer Geburt 1971 schwerstbehindert und ständig pflegebedürftig. Im Jahr 1981 erhielt sie von der Haftpflichtversicherung der Stadt X ―als Trägerin der Städtischen Krankenanstalten― zunächst einen Pflegekostenersatz bzw. -vorschuß in Höhe von 250 000 DM sowie Schmerzensgeld in Höhe von 100 000 DM. 1982 erhielt die Klägerin keine Zahlungen. Aufgrund des erstinstanzlichen Urteils in dem Schadensersatzprozeß gegen die Stadt und den behandelnden Arzt leistete die Haftpflichtversicherung an die Klägerin im Jahr 1983 insgesamt einen Betrag von 111 024 DM, darin enthalten rückständige Mehrbedarfsrente für die Zeit von Januar 1982 bis Mai 1983 einschließlich Zinsen in Höhe von 79 309 DM, sowie laufende Rentenzahlungen in Höhe von insgesamt 31 715 DM.
Der Schadensersatzprozeß endete durch Vergleich im Jahr 1984 vor dem Oberlandesgericht. Danach verpflichteten sich der behandelnde Arzt und die Stadt als Gesamtschuldner ab 1. Januar 1984 zur Zahlung einer monatlich im voraus zu entrichtenden Mehrbedarfsrente in Höhe von 90 v.H. des jeweiligen Tagespflegesatzes in den Y-Anstalten für Schwerst- und Mehrfachbehinderte, zu einer einmaligen Zahlung in Höhe von 105 760 DM für in der Vergangenheit angefallene Pflegekosten, sowie zum Ersatz der etwaigen steuerlichen Belastungen der Klägerin aufgrund dieser Zahlungen. Im Jahr 1984 erhielt die Klägerin danach insgesamt einen Betrag von 159 518 DM. 1985 betrugen die Rentenzahlungen insgesamt 53 611 DM und 1986 58 063 DM.
Der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt ―FA―) erfaßte die der Klägerin zugeflossenen Zahlungen mit Ausnahme des Schmerzensgeldes (100 000 DM) bei den Einkommensteuerveranlagungen der Streitjahre als in vollem Umfang steuerpflichtige wiederkehrende Bezüge (§ 22 Nr.1 Satz 1 des Einkommensteuergesetzes ―EStG―). Entsprechend dem Antrag der Klägerin behandelte das FA dabei die Beträge, die 90 v.H. der jeweiligen Pflegesätze der Y-Anstalten überstiegen, als außerordentliche Einkünfte im Sinne des § 34 Abs.3 EStG in der in den Streitjahren geltenden Fassung. In den Nachzahlungen der Jahre 1981, 1983 und 1984 enthaltene Zinsen berücksichtigte das FA mit Rücksicht auf die Subsidiarität der sonstigen Einkünfte gegenüber den Einkünften aus Kapitalvermögen aus Vereinfachungsgründen lediglich in Höhe von 400 DM als Einkünfte aus Kapitalvermögen. Die für die Streitjahre festgesetzte Einkommensteuer betrug danach … DM (1981), … DM (1983), … DM (1984), … DM (1985) und … DM (1986).
Die Klägerin machte nach erfolglosem Einspruch mit der Klage geltend, die Mehrbedarfsrente gleiche nur den ihr durch den Schaden bereits entstandenen Vermögensverlust aus. Sie dürfe deshalb ungeachtet dessen, daß ihr die Leistungen "wiederkehrend" zuflössen, nicht besteuert werden.
Das Finanzgericht (FG) hat die Klage abgewiesen. Sein Urteil ist in Entscheidungen der Finanzgerichte (EFG) 1993, 81 abgedruckt.
Mit der Revision rügt die Klägerin Verletzung des § 22 Nr.1 EStG.Sie beantragt,1. die Vorentscheidung und die Einspruchsentscheidung des FA aufzuheben und unter Abänderung der Einkommensteuerbescheide vom 4. Januar 1988 (für 1981 und 1984), vom 13. November 1987 (für 1983), vom 30. Oktober 1987 (für 1985) und vom 27. Juli 1988 (für 1986) die Einkommensteuer auf 0 DM festzusetzen, sowie 2. die Hinzuziehung eines Bevollmächtigten für das Vorverfahren für notwendig zu erklären.
Das FA beantragt, die Revision als unbegründet zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Zurückverweisung der Sache an das FG. Schadensersatzrenten zum Ausgleich vermehrter Bedürfnisse (sog. Mehrbedarfsrenten nach § 843 Abs.1, 2.Alternative des Bürgerlichen Gesetzbuches ―BGB―) sind nicht als sonstige Einkünfte i.S. des § 22 Nr.1 EStG steuerbar.
1. Sonstige Einkünfte sind nach § 22 Nr.1 Satz 1 EStG Einkünfte aus wiederkehrenden Bezügen, soweit sie nicht zu den in § 2 Abs.1 Nr.1 bis 6 EStG bezeichneten Einkünften gehören.
a) Schadensersatz nach § 843 Abs.1 2.Alternative BGB durch Entrichtung einer Geldrente steht dem Verletzten zu, wenn infolge der Verletzung des Körpers oder der Gesundheit eine Vermehrung der Bedürfnisse eintritt (sog. Mehrbedarfsrente). Die Geldrente ist ihrer Natur nach kein Unterhalt, sondern Schadensersatz (Palandt, Bürgerliches Gesetzbuch, Kommentar 54.Aufl., § 843, Rdnr.4). Zivilrechtlich entsteht der Anspruch als ganzes bereits mit der verursachenden Schädigung; lediglich die Fälligkeit der einzelnen Rentenbeträge, deren Höhe jeweils von den konkreten Bedürfnissen abhängt und ggf. angepaßt werden muß, ist hinausgeschoben (Palandt, a.a.O., § 843 Rdnr.4). Der Begriff "Vermehrung der Bedürfnisse" in § 843 Abs.1, 2.Alternative BGB umfaßt den schadensbedingt vermehrten Bedarf für die persönliche Lebensführung. Das bedeutet: Zu ersetzen sind alle unfallbedingt ständig wiederkehrenden vermögenswerten Aufwendungen, die dem Ausgleich derjenigen Nachteile dienen sollen, die dem Verletzten infolge der dauernden Störung seines körperlichen Wohlbefindens entstehen (Urteile des Bundesgerichtshofs ―BGH― vom 25. September 1973 IV ZR 49/72, Neue Juristische Wochenschrift ―NJW― 1974, 41; vom 11. Februar 1992 VI ZR 103/91, NJW-Rechtsprechungs-Report Zivilrecht ―NJW-RR― 1992, 791).
b) Bei der Anwendung und Auslegung des § 22 Nr.1 EStG sind die normativen Grundaussagen des § 2 Abs.1 EStG zu beachten (Urteil des Bundesfinanzhofs ―BFH― vom 26. November 1992 X R 187/87, BFHE 170, 98, 101, BStBl II 1993, 298). Diese Vorschrift gestaltet das Objekt "Einkommen" in der Weise aus, daß die Erwerbsgrundlage unvermindert erhalten bleibt; erfaßt wird von der Einkommensteuer grundsätzlich nur ein "erzielter" Zuwachs an wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit (vgl. z.B. BFH in BFHE 170, 98, 101, BStBl II 1993, 298; Kirchhof in Kirchhof/ Söhn, Einkommensteuergesetz, § 2 Anm. A, 53 ff.; Fischer in Kirchhof/Söhn, a.a.O., § 22 Anm. A 16 f.; Tipke/Lang, Steuerrecht, 14.Aufl., Rz.580, jeweils m.w.N.). Daran fehlt es bei Schadensersatzrenten zum Ausgleich der durch die Verletzung höchstpersönlicher Güter entstandenen vermehrten Bedürfnisse. Der erkennende Senat schließt sich insoweit dem Urteil des VIII.Senats vom 25. Oktober 1994 VIII R 79/91 (BFHE 175, 439) an und verweist zur Vermeidung von Wiederholungen auf die Gründe dieses Urteils.
c) In den einzelnen Rentenleistungen ist ―anders als bei der Tilgung einer zum Privatvermögen gehörenden Forderung durch wiederkehrende Leistungen (hierzu BFH in BFHE 170, 98, 100, BStBl II 1993, 298)― kein steuerpflichtiger Zinsanteil enthalten (BFH-Urteil vom 25. Oktober 1994 VIII R 79/91; vgl. hierzu Fischer in Wiederkehrende Bezüge und Leistungen, 1994, Anm.201). Bei der Mehrbedarfsrente wird nicht ein zunächst auf einen bestimmten Stichtag ermittelter einheitlicher Anspruch ―etwa ein nach statistischen Werten typisierend ermittelter Ausgangswert― anschließend verrentet. Die einzelne Rentenleistung wird konkret nach dem unfallbedingten dauerhaft vermehrten Bedarf des Verletzten berechnet und ist den veränderten Bedürfnissen anzupassen (vgl. z.B. Mertens in Münchener Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch ―MünchKomm― 2.Aufl., § 843 Anm.34, 37 m.w.N.; BGH in NJW-RR 1992, 791). Der Schadensersatz wird von Anfang an als Geldrente geschuldet; der Anspruchsberechtigte kann eine Kapitalabfindung nur verlangen, wenn ein wichtiger Grund vorliegt (§ 843 Abs.3 BGB). Das FG ist von anderen Grundsätzen ausgegangen; das Urteil war deshalb aufzuheben.
2. Die Sache ist nicht spruchreif. Die Klägerin hat zusätzlich zu den ―wie unter I. ausgeführt― nicht steuerbaren laufenden Rentenbezügen auch Zahlungen für zurückliegende Zeiträume erhalten. Soweit darin Verzugs- oder Prozeßzinsen enthalten sind, unterliegen diese nach ständiger Rechtsprechung (ausführlich zuletzt BFH-Urteil vom 25. Oktober 1994 VIII R 79/91 m.w.N.) als Einkünfte aus Kapitalvermögen (§ 20 Abs.1 Nr.7 EStG) der Einkommensteuer. Das FG hat ―von seinem Standpunkt aus zu Recht― keine Feststellungen dazu getroffen, in welcher Höhe die in den Jahren 1981, 1983 und 1984 bezogenen Nachzahlungen Zinsen enthalten. Die Sache war deshalb zur Nachholung entsprechender Feststellungen an das FG zurückzuverweisen.
3. Der Antrag der Klägerin, die Zuziehung eines Bevollmächtigten für das Vorverfahren für notwendig zu erklären (§ 139 Abs.3 Satz 3 der Finanzgerichtsordnung ―FGO―), ist im Revisionsverfahren unzulässig. Die Entscheidung nach § 139 Abs.3 Satz 3 FGO gehört sachlich zum Kostenfestsetzungsverfahren; zuständig ist deshalb das Gericht des ersten Rechtszuges (BFH-Beschluß vom 18. Juli 1967 GrS 5-7/66, BFHE 90, 150, BStBl II 1968, 56; Gräber/Ruban, Finanzgerichtsordnung, 3.Aufl., §139 Anm.32).
Fundstellen
Haufe-Index 613345 |
BFH/NV 1995, 1050 |
BFH/NV 1995, 43 |
BStBl II 1995, 410 |
BFHE 176, 402 |
BFHE 1995, 402 |
BB 1995, 866 (Leitsatz) |
DB 1995, 1010 (Leitsatz) |
DStZ 1995, 408 (Kurzwiedergabe) |
HFR 1995, 398 (Leitsatz) |
StE 1995, 266 (Kurzwiedergabe) |