Entscheidungsstichwort (Thema)
Aufhebung eines Bescheides bei widerstreitender Steuerfestsetzung; Treu und Glauben; Rechtskraft
Leitsatz (NV)
Weder die Grundsätze von Treu und Glauben noch § 110 FGO stehen der Aufhebung eines Bescheides im Hinblick auf eine Änderung der Rechtsprechung entgegen, obwohl ein früheres rechtskräftiges FG-Urteil, das den nachfolgenden Besteuerungszeitraum betraf, den streitigen Umsatz dem vorgehenden Zeitraum (dem Streitjahr) zugeordnet hatte.
Normenkette
AO 1977 § 174; FGO § 110
Verfahrensgang
Tatbestand
Der Kläger und Revisionskläger (Kläger) ist Konkursverwalter über das Vermögen der W-GmbH. Diese hatte der Volksbank R mehrere Busse sicherungshalber übereignet. Nach Eröffnung des Konkursverfahrens gab der Kläger die Busse im Streitjahr (1982) frei. Die Sicherungsnehmerin verwertete die Busse im Jahr 1983. Der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt -- FA --) erfaßte den Umsatz im Besteuerungszeitraum 1983. Der Kläger focht den Bescheid mit Einspruch und Klage an. Im Verlauf des Klageverfahrens gelangten die Beteiligten übereinstimmend zu der Auffassung, daß dieser Umsatz im Zeitraum 1982 zu erfassen sei. Das Finanzgericht (FG) folgte dieser Beurteilung. In dem Urteil heißt es dazu:
"Im Laufe des Klageverfahrens ist zwischen den Beteiligten unstreitig geworden, daß die im angefochtenen Bescheid festgesetzte Umsatzsteuer zu ermäßigen ist um Umsatzsteuer in Höhe von ... DM, die aus der Verwertung durch die Volksbank ... angefallen ist. Die Herausgabe der sicherungsübereigneten Busse ... ist insoweit bereits im Jahr 1982 erfolgt, so daß die Umsatzsteuer in diesem Jahr anzusetzen ist. Die Beteiligten sind sich ferner darüber einig, daß durch weitere ... Verwertungshandlungen ... Mehrwertsteuer in Höhe von ... DM in 1983 angefallen ist."
Das FG setzte die Umsatzsteuer 1983 auf ... DM fest. Das Urteil wurde rechtskräftig.
Bereits vor dem Abschluß des Klageverfahrens hatte das FA im Anschluß an eine Umsatzsteuer-Sonderprüfung die Freigabe der Busse durch den Kläger als Umsatz des Streitjahres erfaßt. Auch dieser Bescheid wurde angefochten. Der Kläger vertritt nunmehr im Anschluß an das Urteil des Bundesfinanzhofs (BFH) vom 21. Juli 1994 V R 114/91 (BFHE 175, 164, BStBl II 1994, 878) die Auffassung, daß der Umsatz nun doch im Jahr 1983 zu erfassen sei. Das FG wies die Klage ab (Entscheidungen der Finanzgerichte -- EFG -- 1996, 638) und führte im wesentlichen aus: Nach Treu und Glauben sei der Kläger an die von ihm erstrittene Zuordnung des Vorgangs zum Streitjahr gebunden. Es sei nicht sachgerecht, durch einen Wechsel des Vortrags eine tatsächlich ge botene Besteuerung zu verhindern. Dem Umstand, daß für die Änderung des Rechtsstandpunkts die neuere höchstrichterliche Rechtsprechung eine wesentliche Rolle gespielt haben möge, könne keine entscheidende Bedeutung beigemessen werden. Vor diesem Hintergrund könnte die Klage nur Erfolg haben, wenn der Umsatzsteuerbescheid 1983 noch geändert werden könnte. Das sei nicht der Fall. Zwar sei bei isolierender Betrachtung des § 174 der Abgabenordnung (AO 1977) eine Änderung möglich, doch sei zu beachten, daß ein Bescheid dann nicht nach § 174 AO 1977 geändert werden könne, wenn die Finanzbehörde sich mit der Änderung über eine seinerzeit erfolgte gerichtliche Beurteilung hinwegsetzen würde. Insoweit bestehe ein Vorrang der Rechtskraft, und zwar in dem Sinn, daß sich keiner der Beteiligten auf die Unrichtigkeit der rechtskräftig gewordenen Entscheidung berufen könne. Ob die Zuordnung des Umsatzes materiell-rechtlich zutreffe, brauche nicht entschieden zu werden.
Mit der vom FG zugelassenen Revision rügt der Kläger Verletzung materiellen Rechts. Die jetzige Situation sei dadurch entstanden, daß der BFH seine Rechtsauffassung geändert habe. Es sei nicht einzusehen, warum diese Änderung nach Treu und Glauben zu Lasten des Klägers gehen solle. Der wesentliche Unterschied zu den vom FA herangezogenen Entscheidungen bestehe darin, daß nicht der Steuerpflichtige je nach Bedarf seine Rechtsauffassung geändert, sondern daß sich die Rechtsprechung des BFH gewandelt habe.
Der Kläger beantragt sinngemäß, die Vorentscheidungen aufzuheben.
Das FA beantragt, die Revision zurückzuweisen und trägt vor: Die Änderung der eigenen Rechtsposition sei treuwidrig, wenn durch die Äußerung der zunächst vertretenen Auffassung für die Finanzbehörde ein Vertrauenstatbestand geschaffen worden sei und diese ihr eigenes Verhalten hierauf eingestellt habe.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist begründet; sie führt gem. § 126 Abs. 3 Nr. 2 der Finanzgerichtsordnung (FGO) zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an das FG. Das angefochtene Urteil verletzt die Grundsätze von Treu und Glauben.
1. Das FG sieht sich zu Unrecht an einer Aufhebung des angefochtenen Bescheides durch Treu und Glauben gehindert.
Treu und Glauben verlangen die Rücksichtnahme auf die berechtigten Interessen des anderen Beteiligten. Treu und Glauben verdrängen das gesetzte Recht, wenn das Vertrauen eines Beteiligten in ein bestimmtes Verhalten des anderen nach allgemeinem Rechtsgefühl in einem so hohen Maße schutzwürdig ist, daß demgegenüber der Grundsatz der Gesetzmäßigkeit zurücktreten muß (Tipke/Kruse, Abgabenordnung -- Finanzgerichtsordnung, 16. Aufl., Stand März 1992, § 4 AO 1977, Tz. 51, m. w. N.). Mit Treu und Glauben nicht zu vereinbaren ist ein widersprüchliches Verhalten; das Verbot des "venire contra factum proprium" gilt auch im Steuerrecht (Tipke/Kruse, a.a.O., Tz. 57).
Im Streitfall sind die Voraussetzungen, die nach Treu und Glauben eine Änderung des angefochtenen Bescheides verhindern könnten, nicht gegeben. Der Antrag des Klägers, den fraglichen Umsatz nun doch im Zeitraum 1983 zu erfassen, verletzt keinen von ihm selbst gesetzten Vertrauenstatbestand. Der Kläger weist zu Recht darauf hin, daß er seine Auffassung nicht der jeweiligen Prozeßsituation angepaßt habe, sondern daß er mit seinem Antrag lediglich der Rechtsprechung des BFH in BFHE 175, 164, BStBl II 1994, 878 gefolgt sei. Die Ursache für den Antrag des Klägers ist mithin nicht in einem widersprüchlichen und damit treuwidrigen Verhalten begründet, sondern in der Klarstellung der Rechtslage durch ein BFH-Urteil.
2. Auch § 110 FGO, der in bestimmten Grenzen die Bindungswirkung rechtskräftiger Urteile anordnet, steht einer Änderung des angefochtenen Bescheides nicht entgegen. Die Rechtskraft erstreckt sich nur auf den Streitgegenstand. Streitgegenstand der damaligen FG-Entscheidung war nicht die Rechtmäßigkeit des Umsatzsteuerbescheids des Streitjahres 1982, sondern die Rechtmäßigkeit des Umsatzsteuerbescheids 1983 (vgl. BFH-Urteil vom 21. Oktober 1993 IV R 42/93, BFHE 173, 285, BStBl II 1994, 385).
So können auch für einen späteren Veranlagungszeitraum die steuerlichen Konsequenzen gemäß § 174 Abs. 4 AO 1977 aus einem rechtskräftigen Urteil gezogen werden, ohne daß das Finanzamt oder sonst jemand an die in dem Urteil geäußerte Rechtsansicht gebunden wäre (BFH-Urteil in BFHE 173, 285, BStBl II 1994, 385).
3. Selbst wenn eine Änderung nach § 174 AO 1977 für das Folgejahr nicht möglich sein sollte (vgl. aber BFH-Urteil vom 18. Januar 1979 IV R 51/75, nicht ver öffentlicht, S. 10 a. E.), müßte der angefochtene Bescheid im Streitjahr bei Rechtswidrigkeit geändert werden. § 174 AO 1977 betrifft allein die Änderung der widerstreitenden Steuerfestsetzung als Folge der zuvor unzutreffenden Erfassung eines bestimmten Sachverhalts; § 174 AO 1977 kann indes nicht die zutreffende, der materiell-rechtlichen Lage entsprechenden Festsetzung verhindern.
4. Das FG hat die Frage, ob der fragliche Umsatz tatsächlich im Streitjahr zu erfassen ist, ausdrücklich offengelassen und insoweit keine Feststellungen getroffen. Die Sache muß daher an das FG zurückverwiesen werden.
Fundstellen