Entscheidungsstichwort (Thema)
Überraschungsentscheidung zu einem Streitpunkt, hinsichtlich dessen das FA zuvor bereits nachgegeben hatte
Leitsatz (NV)
In den durch den Streitgegenstand gezogenen Grenzen kann das zur Ermittlung von Amts wegen berechtigte und verpflichtete FG Fragen nachgehen, über welche die Beteiligten nicht streiten. Es muß aber, wenn es hierüber entscheiden will, rechtliches Gehör gewähren. Entsprechendes gilt, wenn das FA seinen vormaligen Rechtsstandpunkt zugunsten des Klägers geändert hat.
Normenkette
GG Art. 103 Abs. 1; FGO §§ 76, 96 Abs. 2
Verfahrensgang
Tatbestand
Der Kläger und Revisionskläger (Kläger) war im Streitjahr 1985 als Bürovorsteher in einer Anwaltssozietät nichtselbständig tätig. In seiner Einkommensteuererklärung erklärte er einen Bruttoarbeitslohn in Höhe von 76 185 DM, den der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt -- FA --) in dieser Höhe ansetzte. Nach einer beim Arbeitgeber durchgeführten Lohnsteueraußenprüfung ging das FA davon aus, daß der Kläger weiteren Arbeitslohn bezogen habe. Für eine betriebliche Altersversorgung hat der Arbeitgeber an den Versorgungsverband V 14 231 DM gezahlt; insoweit ist Lohnsteuer nicht einbehalten worden. Das FA war der Auffassung, der steuerpflichtige Arbeitslohn -- nach Abzug eines Freibetrages für Zukunftssicherung in Höhe von 312 DM und eines nach § 40 b des Einkommensteuergesetzes (EStG) pauschal zu versteuernden Betrages von 2400 DM -- sei um 11 519 DM zu erhöhen. Ferner nahm es an, daß der Kläger vom Arbeitgeber Zuschüsse zur befreienden Lebensversicherung in Höhe von 6153 DM erhalten habe. Auch seien ihm Aufwendungen für Fahrten zwischen Wohnung und Arbeitsstätte in Höhe von 4380 DM erstattet worden. Außerdem habe er einen geldwerten Vorteil in Höhe von 942 DM bezogen, weil der Arbeitgeber für ihn Zeitungen und Zeitschriften abonniert habe.
In dem Änderungsbescheid vom 17. März 1989 erhöhte das FA den Bruttoarbeitslohn um die Beiträge an V zuzüglich der hierauf entfallenden Lohn- und Kirchensteuern, um 50 v. H. der durch die Arbeitgeber gezahlten Telefonkosten (989 DM) sowie um Kosten der für den Kläger bezogenen Zeitschriften (942 DM) auf insgesamt 98 299 DM. Es kürzte die bisher berücksichtigten Werbungskosten für Fahrten zwischen Wohnung und Arbeitsstätte um den Betrag von 4380 DM. Der hiergegen eingelegte Einspruch blieb ohne Erfolg.
Mit der Klage trug der Kläger u. a. vor, sein Arbeitgeber habe ihm in der Zeit von Februar 1985 bis Dezember 1985 lediglich 59 620 DM überwiesen. Fahrtkosten seien ihm nicht erstattet worden. Auch habe der Arbeitgeber ihm keinen steuerfreien Zuschuß zu einer befreienden Lebensversicherung gewährt. Einen Betrag in Höhe von 6153 DM habe er vor dem Arbeitsgericht eingeklagt. Geleistete Zahlungen seien auf die Gehaltsansprüche verrechnet worden; über die Zuordnung der Leistungen habe er nach § 366 des Bürgerlichen Gesetzbuches selbst befinden können.
Demgegenüber machte das FA u. a. geltend, der Kläger habe einen Bruttoarbeitslohn in Höhe von 76 185 DM bezogen. Es hatte zunächst vorgetragen, eine Kürzung des Vorwegabzugs der Sonderausgaben sei in Höhe von 6153 DM nach § 10 Abs. 3 Nr. 2 Buchst. a EStG geboten, da der Kläger steuerfreie Zuschüsse des Arbeitgebers zur befreienden Lebensversicherung erhalten habe. Mit Schriftsatz an das Finanzgericht (FG) vom 21. September 1992 hat es erklärt:"
Der Beklagte hält an seiner bisher vertretenen Auffassung, es sei eine Kürzung des Vorwegabzugs gemäß § 10 Abs. 3 Nr. 2 a EStG vorzunehmen, nicht mehr fest.
Soweit für den Nettolohnanteil von 6153 DM der frühere Arbeitgeber für den unterbliebenen Steuerabzug in Anspruch genommen werden kann und dem Kläger noch entsprechende Abzugsbeträge zuzurechnen sind, wird der Beklagte nach § 177 Abs. 2 AO verfahren und gegenrechnen."
Das FG hat die Klage im wesentlichen als unbegründet abgewiesen. Zutreffend habe das FA die geltend gemachten Aufwendungen für Fahrten zwischen Wohnung und Arbeitsstätte um den steuerfrei gezahlten Zuschuß des Arbeitgebers in Höhe von 4380 DM gekürzt. Es stehe u. a. aufgrund des Ergebnisses des erhobenen Zeugen beweises fest, daß dem Kläger in Erfüllung seines Arbeitsvertrages monatlich 365 DM erstattet worden seien. Die monatlichen Auszahlungsbeträge hätten zur Tilgung des Gehaltsanspruchs einschließlich des steuerfrei gezahlten Zuschusses ausgereicht. Hinsichtlich der geldwerten Vorteile aus dem Bezug von Zeitungen liege eine hinreichend deutlich vereinbarte Nettolohnabrede nicht vor.
Die Vorsorgeaufwendungen seien mit 9720 DM zutreffend berücksichtigt worden. Der Vorwegabzug sei in Höhe von 6000 DM "nach § 10 Abs. 3 Nr. 2 Buchst. a EStG" um die steuerfrei gezahlten Arbeitgeberzuschüsse zur befreienden Lebensversicherung in Höhe von 6153 DM zu kürzen.
Mit der Revision rügt der Kläger Verletzung materiellen und formellen Rechts.
Insbesondere habe das FG, indem es den Vorwegabzug gekürzt habe, eine Überraschungsentscheidung getroffen.
Der Kläger beantragt, das angefochtene Urteil aufzuheben und gemäß den zuletzt in der Vorinstanz am 20. Oktober 1992 zu Protokoll gegebenen Anträgen zu entscheiden.
Das FA beantragt, die Revision als unbegründet zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an das FG (§ 126 Abs. 3 Nr. 2 der Finanzgerichtsordnung -- FGO --).
1. Das angefochtene Urteil ist insofern rechtsfehlerhaft, als das FG einen Vorwegabzug auf der Grundlage des § 10 Abs. 3 Nr. 2 a EStG bejaht hat, obwohl das FA mit dem zitierten Schreiben vom 21. September 1992 diesen Punkt zuvor aus dem Streit genommen hatte. Der Kläger durfte die Bemerkung, das FA halte eine Kürzung des Vorwegabzugs nicht mehr für gerecht fertigt, auch im Hinblick auf die hierauf bezogene Einschränkung des Klageabweisungsantrags dahin verstehen, daß dieser Streitpunkt zuvor seine "Erledigung gefunden" hatte. Indem das FG zu einem Punkt entschieden hat, den das FA aus dem Streit genommen hatte, hat es gegen die Grundordnung des Verfahrens verstoßen.
Zwar ist das FG an die Antragstellung des Beklagten insofern nicht gebunden, als bei Anfechtungsklagen das Entscheidungsprogramm durch den Regelungsgehalt des angefochtenen Verwaltungsakts bestimmt wird. In diesen Grenzen kann das zur Ermittlung von Amts wegen berechtigte und verpflichtete FG (§ 76 Abs. 1 FGO) Fragen nachgehen, über welche die Parteien nicht streiten. Es muß aber, wenn es hierüber entscheiden will, rechtliches Gehör gewähren. Entsprechendes gilt, wenn der Beklagte wie vorliegend seinen vormaligen Rechtsstandpunkt zugunsten des Klägers ändert.
Der Kläger hatte im Erörterungstermin vom 3. Dezember 1991 vorgetragen, der Sonderausgabenvorwegabzug stehe ihm ungekürzt in Höhe von 6000 DM zu, da er "rentenversicherungspflichtig nach § 10 Abs. 3 Nr. 2 b aa EStG" gewesen sei. Mit Schriftsatz vom 18. Februar 1992 hat er ausgeführt, eine Kürzung nach § 10 Abs. 3 Nr. 2 Buchst. b Doppelbuchst. aa EStG komme nicht in Betracht, da er auf eigenen Antrag von der gesetzlichen Rentenversicherungspflicht befreit sei. Auch habe er keine steuerfreie Leistung i. S. von § 3 Nr. 62 EStG erhalten, sondern alle seine Vorsorgeaufwendungen -- die Beiträge an V -- aus versteuerten Mitteln gezahlt, die in voller Höhe als steuerpflichtiger Arbeitslohn behandelt worden seien. Durch Ver fügung vom 27. Februar 1992 hat die Berichterstatterin des FG die Beteiligten um Stellungnahme zu einer Kürzung des Vorwegabzugs "nach § 10 Abs. 3 Ziff. 2 b aa EStG" gebeten. Mit Schreiben vom 6. Juli 1992 hat das FA eine vom Steuerberater erstellte Ermittlung der Bezüge vorgelegt, in welcher unter dem Streitjahr 1985 vermerkt ist "Befreiung Rentenvers. 6153 DM". Hieraus ergebe sich, so das FA, daß der Kläger Zahlungen in Höhe von 6153 DM erhalten habe. Hierbei könne es sich nur um Zuschüsse zu Aufwendungen des Klägers für eine Altersversorgung handeln. Eine Kürzung des Vorwegabzugs sei daher "nach § 10 Ab. 3 Nr. 2 a EStG" geboten.
Unter dem 21. September 1992 erging das Schreiben des FA mit dem oben wiedergegebenen Inhalt. In der mündlichen Verhandlung vom 20. Oktober 1992 beantragte der Vertreter des FA, die Klage abzuweisen "mit Ausnahme der in den Schriftsätzen dargestellten zugesagten Änderungen". Ausweislich des FG-Urteils hat das FA beantragt, die Klage abzuweisen " ... bis auf diejenigen Streitpunkte, die im Verlaufe des Klageverfahrens ihre Erledigung gefunden haben".
Demgegenüber bezeichnet es das angefochtene Urteil einleitend als "noch streitig", "ob der Vorwegabzug nach § 10 Abs. 3 Nr. 2 a EStG um Zahlungen des Arbeitgebers zu befreienden Lebensversicherungen zu kürzen ist". Aufgrund dieser rechts fehlerhaften Annahme hat das FG den bisherigen Streitstand zu diesem Punkt ge würdigt, ohne dem Kläger Gelegenheit zu weiterem Vorbringen und einer abschließenden Stellungnahme zu belassen.
2. Hiernach war das angefochtene Urteil aufzuheben. Die nicht spruchreife Sache geht an das FG zurück.
Bei der erneuten Verhandlung und Entscheidung wird das FG zu berücksichtigen haben, daß das Vorbringen des Klägers gegen die steuerrechtliche Erfassung des Fahrtkostenersatzes und eines geldwerten Vorteils aus dem Bezug von Zeitschriften fehlgeht. Insoweit wendet sich der Kläger gegen die tatrichterliche Feststellung des FG. Die auf dem Gebiet der tatsächlichen Würdigung liegende Schlußfolgerung im angefochtenen Urteil verstößt weder gegen Denkgesetze noch gegen allgemeine Erfahrungssätze. Die Beweiswürdigung des FG ist möglich; zwingend braucht sie nicht zu sein. Sie ist daher revisionsrechtlich nicht zu beanstanden. Die Rüge, das FG habe in dieser Hinsicht seine Amtsermittlungspflicht verletzt, ist nicht ordnungsgemäß erhoben; der Senat sieht insoweit von einer Begründung ab (Art. 1 Nr. 8 des Gesetzes zur Entlastung des Bundesfinanzhofs). Zum geldwerten Vorteil aus dem Bezug von Zeitschriften hat das FG ausgeführt, eine einverständliche "verschleierte" Lohnzahlung könne nicht als Nettolohnvereinbarung gewertet werden, da es an einer diesbezüglichen eindeutigen Abrede fehle. Auch gegen diese rechtsfehlerfreie Würdigung des verfahrensfehlerfrei festgestellten Sachverhalts wendet sich die Revision ohne Erfolg.
Fundstellen