Entscheidungsstichwort (Thema)
Verpflichtung zur Aussetzung des Verfahrens bei Anhängigkeit eines Musterverfahrens beim BVerfG
Leitsatz (NV)
Ist vor dem BVerfG ein nicht als aussichtslos erscheinendes Musterverfahren gegen eine im Streitfall anzuwendende Norm anhängig, liegen den FG zahlreiche Parallelverfahren (Massenverfahren) vor und hat keiner der Beteiligten ein besonderes berechtigtes Interesse an einer Entscheidung des FG über die Verfassungsmäßigkeit der umstrittenen Regelung (hier: beschränkte Abziehbarkeit von Vorsorgeaufwendungen), ist das Klageverfahren nach § 74 FGO auszusetzen (Anschluß an BFH-Beschluß vom 27. November 1992 III B 133/91, BFHE 169, 498, BStBl II 1993, 240).
Normenkette
FGO § 74
Verfahrensgang
Tatbestand
Die Beteiligten streiten um die Frage, ob Beiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung vorweggenommene Werbungskosten bei den Einkünften gemäß § 22 Nr. 1 Satz 3 Buchst. a des Einkommensteuergesetzes (EStG) sind und ob ggf. die Höchstbetragsregelung des § 10 Abs. 3 EStG verfassungsgemäß ist.
Die Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin) war im Streitjahr 1984 als Optikermeisterin nichtselbständig tätig. In ihrer Einkommensteuererklärung beantragte sie den unbeschränkten Abzug von Sozialversicherungsbeiträgen in Höhe von 6 839 DM und Krankenversicherungsbeiträgen in Höhe von 2 310 DM (hierin enthalten 5 477 DM Arbeitnehmeranteil). Der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt -- FA --) berücksichtigte diese Vorsorgeaufwendungen im Rahmen der Höchstbeträge nach § 10 Abs. 3 EStG. Der Einspruch blieb ohne Erfolg. Mit der Klage hat die Klägerin ihr Begehren weiterverfolgt, die Vorsorgeaufwendungen als vorab entstandene Werbungskosten bei den Einkünften aus § 22 Nr. 1 Satz 3 Buchst. a EStG zu behandeln, hilfsweise als unbeschränkt abziehbare Sonderausgaben zu berücksichtigen. Gegenstand des Verfahrens ist der geänderte Bescheid vom 7. August 1991, der "im Hinblick auf den Beschluß des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom 12. Juni 1990 zum Kinderlastenausgleich und auf die Anhängigkeit weiterer Verfassungsbeschwerden zum Grundfreibetrag" für vorläufig erklärt worden ist. Die Klägerin hat im Verfahren vor dem Finanzgericht (FG) beantragt, das Klageverfahren bis zur Entscheidung über die Verfassungsbeschwerden 1 BvR 1220/88 und 1 BvR 1300/89 ruhen zu lassen (§ 74 der Finanzgerichtsordnung -- FGO --).
Das FG hat die Klage abgewiesen. Es sei nicht "sachdienlich", das Verfahren auszusetzen. Das Klageverfahren sei bereits seit über vier Jahren anhängig. Beim FG seien gleichgelagerte Sachverhalte nur in Einzelfällen bekannt; "Massenverfahren" seien beim Bundesfinanzhof (BFH) und beim BVerfG insoweit nicht zu erwarten. Das FA habe sich gegen die Aussetzung des Verfahrens ausgesprochen und ausgeführt, die Rechtslage sei durch das BFH-Urteil vom 29. Juli 1986 IX R 206/84 (BFHE 147, 176, BStBl II 1986, 747) und durch den Beschluß des BVerfG vom 28. Dezember 1984 1 BvR 1472/84, 1 BvR 1473/84 (Höchstrichterliche Finanzrechtsprechung -- HFR -- 1985, 337) geklärt. Die Beiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung seien keine Werbungskosten, sondern kraft gesetzlicher Wertung Sonderausgaben, deren beschränkte Abziehbarkeit mit dem Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 des Grundgesetzes -- GG --) vereinbar sei. Die Ausführungen des BVerfG zur Rechtslage für die Veranlagungszeiträume 1977 und 1980 gälten auch für das Streitjahr 1984, zumal der Gesetzgeber der Erhöhung der Sozialversicherungsbeiträge durch eine Erhöhung der Höchstbeträge Rechnung getragen habe.
Mit der Revision rügt die Klägerin Verletzung des § 74 FGO. Das FG habe gegen die Grundordnung des Verfahrens verstoßen. Es habe eine Sachentscheidung getroffen, obwohl eine Aussetzung nach § 74 FGO geboten gewesen wäre.
Sie beantragt sinngemäß, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache an das FG zurückzuverweisen.
Das FA beantragt, die Revision als unzulässig zu verwerfen.
Es trägt vor, die Klägerin habe innerhalb der Revisionsfrist keinen bestimmten Antrag gestellt.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Revision ist begründet, weil das FG den Antrag der Klägerin auf Aussetzung des Verfahrens (§ 74 FGO) zu Unrecht abgelehnt hat. Die Revision führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an das FG.
1. Zwar hat die Klägerin einen förmlichen Antrag erst mit dem am 15. Dezember 1993 -- mithin außerhalb der Revisionsbegründungsfrist -- beim BFH eingegangenen Schriftsatz gestellt. Indes enthält die innerhalb der Frist des § 120 Abs. 1 Satz 1 FGO eingegangene Revisionsschrift einen ausreichend bestimmten Antrag (§ 120 Abs. 2 Satz 2 FGO). Auf einen förmlich gestellten Antrag kann verzichtet werden, wenn sich aus der Revisionsbegründung das Prozeßbegehren des Revisionsklägers unzweideutig ergibt (BFH-Urteil vom 11. November 1983 III R 25/77, BFHE 140, 289, 292, BStBl II 1984, 187). Das von der Klägerin verfolgte Ziele ergibt sich bereits aus ihrer Revisionsschrift.
2. Nach der Rechtsprechung des BFH ist das Klageverfahren nach § 74 FGO auszusetzen, wenn vor dem BVerfG ein nicht als aussichtslos erscheinendes Musterverfahren gegen eine im Streitfall anzuwendende Norm anhängig ist, den FG zahlreiche Parallelverfahren (Massenverfahren) vorliegen und keiner der Beteiligten des Klageverfahrens ein besonderes berechtigtes Interesse an einer Entscheidung des FG über die Verfassungsmäßigkeit der umstrittenen Regelung hat (BFH-Beschluß vom 27. November 1992 III B 133/91, BFHE 169, 498, BStBl II 1993, 240, m. w. N.).
Diese Voraussetzung ist im Streitfall erfüllt. Vor dem BVerfG sind Verfassungs beschwerden anhängig, die sich gegen die beschränkte Abziehbarkeit von Vorsorgeaufwendungen richten. Den FG liegen nach Kenntnis des erkennenden Senats eine Vielzahl gleichartiger Fälle zur Entscheidung vor. Unerheblich ist, daß -- möglicherweise -- bei dem zur Entscheidung berufenen FG nur einige Klagen dieser Art erhoben worden sind. Bei Verfahren, mit denen die Verfassungswidrigkeit der Sonderausgabenhöchstbeträge geltend gemacht wird, handelt es sich um Massenverfahren im Sinne der vorstehend zitierten Rechtsprechung des III. Senats. Die dem BVerfG vorliegenden Verfassungsbeschwerden sind auch nicht offensichtlich aussichtslos. Wegen der Begründung im einzelnen wird auf den Senatsbeschluß vom 25. August 1993 X B 32/93 (BFHE 171, 412, BStBl II 1993, 797) Bezug genommen. Dort ist auch ausgeführt, daß der BFH bei der Frage, ob § 74 FGO anzuwenden ist, sein eigenes Ermessen auszuüben hat und daß er in Fällen wie dem vorliegenden die Aussetzung des Verfahrens für geboten hält (vgl. ferner Senatsbeschlüsse vom 10. November 1993 X B 69/93, BFH/NV 1994, 630, betreffend den Sonderausgabenhöchstbetrag für 1984; vom 9. August 1994 X B 26/94, BFHE 174, 498, BStBl II 1994, 803, unter II. 1.). Ein Fall, daß die Einkommensteuer hinsichtlich der verfassungsrechtlich umstrittenen Besteuerungsgrundlagen vorläufig festgesetzt und die Klage deswegen grundsätzlich unzulässig ist, liegt hier nicht vor; in dieser Hinsicht hatte der Senat im Beschluß in BFHE 174, 498, BStBl II 1994, 803 eine andere verfahrensrechtliche Situation zu beurteilen.
3. Im Hinblick auf diesen Verfahrensverstoß war das angefochtene Urteil aufzuheben. Die Sache ist an das FG zurückzuverweisen. Dieses wird das Verfahren bis zur Entscheidung des BVerfG über die anhängigen Verfassungsbeschwerden (vgl. hierzu Senatsbeschluß in BFHE 171, 412, 415, BStBl II 1993, 797) aussetzen.
Fundstellen
Haufe-Index 420409 |
BFH/NV 1995, 794 |