Entscheidungsstichwort (Thema)
Zur Wirksamkeit einer Einspruchsentscheidung, deren ordnungsgemäße Zustellung nicht nachgewiesen werden kann
Leitsatz (NV)
1. Der Grundsatz, daß ein Mangel bei der Zustellung eines Verwaltungsakts - hier einer Einspruchsentscheidung - die Wirksamkeit des Verwaltungsakts nicht beeinträchtigt, wenn der Empfangsberechtigte den Verwaltungsakt erhalten hat, sondern lediglich den Eintritt des Fristablaufs für die in § 9 Abs. 2 VwZG bezeichneten Fristen verhindert, gilt auch, wenn mangels Vorliegens einer Postzustellungsurkunde nicht nachgewiesen werden kann, ob eine ordnungsgemäße Zustellung bewirkt worden ist.
2. Zum Erfordernis der Begründung von Einspruchsentscheidungen.
Normenkette
AO 1977 §§ 122, 366; VwZG § 9
Verfahrensgang
Tatbestand
Der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt - FA -) hat durch Einspruchsentscheidung vom 17. August 1979 den Einspruch des Klägers und Revisionsbeklagten (Kläger) teilweise zurückgewiesen. In den Einkommensteuerakten befindet sich kein Zustellungsnachweis. Während des Einspruchsverfahrens war der Kläger am 22. Juni 1979 von L nach M verzogen.
Mit seiner Klage begehrt der Kläger den Ansatz weiterer Aufwendungen als Werbungskosten und als außergewöhnliche Belastung. Zum fehlenden Zustellungsnachweis hatte das FA vor dem Finanzgericht (FG) ausgeführt, die Postzustellungsurkunde (PZU) sei zur Zeit nicht auffindbar.
Das FG hob die Einspruchsentscheidung des FA mit folgender Begründung auf: Nach § 366 Satz 1 der Abgabenordnung (AO 1977) sei die Einspruchsentscheidung förmlich zuzustellen. Wegen Fehlens einer PZU sei nicht nachprüfbar, ob die PZU mit dem vorgeschriebenen Inhalt überhaupt existiere. Daher seien die Zustellung der Einspruchsentscheidung und damit auch die Einspruchsentscheidung selbst unheilbar unwirksam. Denn § 124 Abs. 1 AO 1977 setze für die Wirksamkeit eines Verwaltungsaktes eine mangelfreie Bekanntgabe voraus. Im übrigen verstoße die Einspruchsentscheidung auch gegen den aus § 366 Satz 1 AO 1977 folgenden Begründungszwang, weil sie keine Ausführungen darüber enthalte, wieso sich das FA für örtlich zuständig gehalten habe, obwohl der Kläger seinen Wohnsitz in ein anderes Bundesland verlegt habe.
Das FA beantragt mit seiner Revision, die Vorentscheidung aufzuheben. Zur Begründung führt es im wesentlichen aus: Das FG habe zwar zutreffend entschieden, daß infolge Fehlens der PZU die Zustellung der Einspruchsentscheidung unheilbar unwirksam sei. Dieser Mangel führe aber nur dazu, daß die Klagefrist nicht in Lauf gesetzt werde. Zur Wirksamkeit der Einspruchsentscheidung gegenüber dem Kläger genüge die Bekanntgabe der Einspruchsentscheidung. Die Einspruchsentscheidung sei dem Kläger unzweifelhaft bekanntgegeben worden, denn er habe die Einspruchsentscheidung tatsächlich erhalten. Daher könne der Zustellungsmangel für die Wirksamkeit der Einspruchsentscheidung keine nachteiligen Folgen haben. Das FG habe auch zu Unrecht einen Verstoß gegen den Begründungszwang des § 366 Satz 1 AO 1977 angenommen. Da das FA in dem vorliegenden Fall einer typischen Arbeitnehmerveranlagung örtlich zuständig gewesen sei, sei eine Begründung insoweit gar nicht erforderlich gewesen. Aber selbst wenn vorliegend das FA M zuständig geworden sein sollte, sei die Einspruchsentscheidung nach § 125 Abs. 3 Nr. 1 AO 1977 nicht schon deshalb nichtig, weil Vorschriften über die örtliche Zuständigkeit nicht eingehalten worden seien. Weiterhin könne nach § 127 AO 1977 die Aufhebung eines Verwaltungsaktes nicht allein deshalb beansprucht werden, weil der Verwaltungsakt unter Verletzung von Vorschriften über das Verfahren, die Form oder die örtliche Zuständigkeit zustande gekommen sei, wenn keine andere Entscheidung in der Sache hätte getroffen werden können.
Der Kläger ist nicht vertreten.
Entscheidungsgründe
Die Revision des FA führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Zurückverweisung der Sache an das FG.
1. Gemäß § 366 AO 1977 ist die Einspruchsentscheidung den Beteiligten zuzustellen. Die Zustellung richtet sich nach den Vorschriften des Verwaltungszustellungsgesetzes - VwZG - (§ 122 Abs. 5 AO 1977). Läßt sich die formgerechte Zustellung eines Schriftstückes nicht nachweisen, so gilt es als in dem Zeitpunkt zugestellt, in dem es der Empfangsberechtigte nachweislich erhalten hat (§ 9 Abs. 1 VwZG). Diese Heilung eines Zustellungsmangels tritt nach § 9 Abs. 2 VwZG dann nicht ein, wenn mit der Zustellung eine Frist für die Erhebung einer Klage beginnt; in diesem Fall ist § 9 Abs. 1 VwZG nicht anzuwenden. Entgegen der Auffassung der Vorinstanz kann hieraus nicht abgeleitet werden, daß ein Zustellungsmangel zur Unwirksamkeit der Zustellung und damit zur Unwirksamkeit des fehlerhaft zugestellten Bescheides führt (Urteil des Bundesfinanzhofs - BFH - vom 10. Oktober 1978 VIII R 197/74, BFHE 126, 359, BStBl II 1979, 209). Vielmehr wirkt sich ein Zustellungsmangel nur auf den Lauf der Rechtsbehelfsfrist aus. Daher ist auch in den Fällen des § 9 Abs. 2 VwZG ein unter Verletzung von Zustellungsvorschriften zugestellter Bescheid als wirksam anzusehen, wenn ihn der Empfangsberechtigte trotz des Zustellungsmangels erhalten hat und er damit so gestellt ist, wie wenn die Zustellung ordnungsgemäß bewirkt worden wäre. § 9 Abs. 2 VwZG verhindert lediglich den Eintritt des Fristablaufs für die dort bezeichneten Fristen (Beschluß des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes vom 9. November 1976 GmS-OGB 2/75, BStBl II 1977, 275).
Die vorstehende Rechtsprechung, die zu Sachverhaltsgestaltungen ergangen ist, in denen eine Zustellung nicht ordnungsgemäß vollzogen worden ist, gilt auch in Fällen wie dem vorliegenden, in dem mangels Vorliegens einer PZU nicht sicher ist, ob die Einspruchsentscheidung tatsächlich mittels PZU zugestellt oder mit einfachem Brief übermittelt und damit nur i. S. von § 122 AO 1977 bekanntgegeben worden ist. § 9 VwZG hat den Zweck, Zustellungen nicht an formellen Fehlern scheitern zu lassen, wenn feststeht, daß der Empfänger die Sendung erhalten hat. In den Fällen des Absatzes 2 dieser Vorschrift soll lediglich der Eintritt des Fristablaufs verhindert werden. Die Interessenlage ist in den Fällen, in denen beim Vollzug der Zustellung Fehler vorgekommen sind, die gleiche wie auch in den Fällen, in denen mangels Vorliegens einer PZU nicht nachgewiesen werden kann, ob eine ordnungsgemäße Zustellung bewirkt worden ist, der Adressat aber den Verwaltungsakt erhalten hat.
Im Streitfall ist somit die Einspruchsentscheidung nicht unwirksam. Daß wegen des fehlenden Zustellungsnachweises die Klagefrist nicht in Lauf gesetzt werden konnte, ist im Streitfall ohne Bedeutung. Denn die vom Kläger am 2. Oktober 1979 gegen die am 13. September 1979 vom FA abgesandte Einspruchsentscheidung ist ohnehin rechtzeitig erhoben worden.
2. Entgegen der Auffassung der Vorinstanz leidet die Einspruchsentscheidung auch nicht an einem Begründungsmangel. Das FA hatte keine Veranlassung, näher darzulegen, daß und warum es zum Erlaß der Einspruchsentscheidung zuständig war. Der Senat hat im übrigen durch Urteil vom 1. August 1986 VI R 47/81, BFHE 147, 423 entschieden, daß die Zuständigkeitsregelung in § 46 Abs. 6 des Einkommensteuergesetzes (EStG) für alle Fälle gilt, in denen nach § 46 Abs. 1 und 2 EStG Veranlagungen durchzuführen sind. Mit dieser Entscheidung hat der Senat das Urteil des FG Rheinland-Pfalz vom 4. August 1980 V 64/78 aufgehoben, auf das sich das FG in der Vorentscheidung zur weiteren Begründung seiner Auffassung bezogen hatte.
3. Da das FG zu Unrecht von der Unwirksamkeit der Einspruchsentscheidung ausgegangen ist, war die Vorentscheidung aufzuheben und die Sache zur Entscheidung über die materiell-rechtlichen Fragen an das FG zurückzuverweisen.
Fundstellen