Rz. 37
Stand: EL 128 – ET: 11/2021
Hat das FA in einem Steuerbescheid einen Sachverhalt rechtlich unzutreffend beurteilt und wird dieser Bescheid vom Stpfl (vgl BFH 230, 203 = BStBl 2010 II, 953) mit Erfolg angefochten oder einem Antrag des Stpfl entsprochen, so muss (kein > Ermessen; BFH 237, 391 = BStBl 2012 II, 653) das FA aus dem Sachverhalt durch Erlass oder Änderung eines Steuerbescheids nachträglich die zutreffenden Folgerungen ziehen (§ 174 Abs 4 AO). Dem liegt der Gedanke zugrunde, dass wer erfolgreich für seine Rechtsauffassung gestritten hat, die damit verbundenen Nachteile hinnehmen muss (zB BFH 188, 409 = BStBl 1999 II, 475; BFH 224, 15 = BStBl 2009 II, 620; BFH 251, 389 = BFH/NV 2016, 603). Das gilt auch, wenn das FA bei Erlass des ursprünglichen Bescheids wissentlich fehlerhaft gehandelt hat (BFH 255, 399 = BStBl 2017 II, 287). Dies gilt jedoch nur für die Berücksichtigung desselben Sachverhalts bei einer anderen Steuerart, in einem anderen VZ oder bei einem anderen Stpfl, nicht jedoch für die weitergehende Änderung eines durch Gerichtsentscheidung geänderten Steuerbescheids mit dem Ziel, Folgerungen zu ziehen, die das Gericht wegen des Verböserungsverbots nicht ziehen durfte (BFH 168, 231 = BStBl 1992 II, 867; zur Abgrenzung vgl BFH 237, 302 = BStBl 2013 II, 139). Auf die Erkennbarkeit der unrichtigen Beurteilung kommt es nicht an. Es genügt, wenn der Mangel in einem idR späteren Steuerbescheid beseitigt wird. Ein Irrtum in der Beurteilung kann allerdings nur dann vorliegen, wenn das FA den Sachverhalt kannte (BFH/NV 2017, 1039). Beim Erlass des Änderungsbescheids ist das FA weder an die im vorausgehenden Änderungsbescheid vertretene Rechtsauffassung noch an ein in dieser Sache ergangenes Urteil gebunden (BFH 173, 285 = BStBl 1994 II, 385). Das gilt auch, wenn zwei sich widersprechende Urteile ergangen sind (BFH 205, 402 = BStBl 2004 II, 763). "Irrige Beurteilung" eines Sachverhalts bedeutet, dass sich die Beurteilung eines bestimmten Sachverhalts, den das FA sowohl der Besteuerung in dem zugunsten des Stpfl geänderten als auch in einem anderen Steuerbescheid zugrunde gelegt hat, nachträglich als unrichtig erweist (vgl BFH 183, 6 = BStBl 1997 II, 647 mwN). Nach § 174 Abs 4 AO kann das FA auch dann ändern, wenn zudem andere Vorschriften eine Änderung erlauben würden (BFH/NV 2003, 1535).
Beispiel 3:
Im ESt-Bescheid des D hat das FA unter Hinweis auf den gleichzeitig ergehenden Schenkungsteuerbescheid von der Erfassung eines geldwerten Vorteils aus dem Dienstverhältnis abgesehen, weil es zunächst annahm, es handele sich um eine Zuwendung, die ihre Ursache nicht im Dienstverhältnis des D habe. Gegen den Schenkungsteuerbescheid macht D mit Erfolg geltend, es handele sich um einen Vorteil aus dem Dienstverhältnis. Der Einkommensteuerbescheid kann nach § 174 Abs 4 AO geändert werden.
Beispiel 4:
Das FA hat irrtümlich Einnahmen des E, die diesem im Jahre 2020 zugeflossen sind, bei der Veranlagung für das Jahr 2021 erfasst. Der Bescheid für das Jahr 2020 ist unanfechtbar. E wendet sich erfolgreich gegen die Steuerfestsetzung für das Jahr 2021. Das FA darf in der Folge den Steuerbescheid für 2020 ändern (§ 174 Abs 4 AO).
Rz. 38
Stand: EL 128 – ET: 11/2021
§ 174 Abs 4 Satz 1 AO verlangt nicht, dass die richtigen steuerlichen Folgerungen aus einem Sachverhalt nur in einem Steuerbescheid gezogen werden dürfen. Die irrige Beurteilung des Sachverhalts kann sich in mehreren Besteuerungsabschnitten auswirken und dementsprechend die Änderung der Steuerbescheide für mehrere VZ – zugunsten oder zu Lasten ein und desselben Stpfl – erforderlich machen (BFH 183, 6 = BStBl 1997 II, 647).
Das FA darf einen Steuerbescheid wegen des Vertrauensschutzes aus > Treu und Glauben (> Rz 48 ff) nicht zu Lasten des Stpfl ändern, wenn es bisher seiner Entscheidung eine für den Stpfl günstige Auffassung zugrunde gelegt hat, diese aber von der Rechtsprechung verworfen worden ist und die FinVerw daraufhin eine begünstigende Übergangsregelung getroffen hat (BFH 187, 193 = BStBl 1998 II, 46; zu solchen Regelungen > Rechtsquellen des Lohnsteuerrechts Rz 8).
Rz. 39
Stand: EL 128 – ET: 11/2021
Wirken sich die aus der Aufhebung oder Änderung des fehlerhaften Bescheids zu ziehenden zutreffenden Folgerungen zuungunsten eines Dritten aus, so kann der bisher unrichtig behandelte Sachverhalt gegenüber dem Dritten nur berücksichtigt werden, wenn er an dem Verfahren beteiligt war, das zur Aufhebung oder Änderung des fehlerhaften Bescheids geführt hat (§ 174 Abs 5 AO), zB weil ihn das FA hinzugezogen hat (vgl § 360 AO). Zu > Treu und Glauben bei versäumter Beteiligung des Dritten am Verfahren vgl BFH 227, 354 = BStBl 2010 II, 720 iVm > Rz 33. Der Dritte muss zudem vor Eintritt der Festsetzungsverjährung beteiligt worden sein (BFH aaO).
Beispiel 5:
Das ArbN-Ehepaar F ist für 2020 bestandskräftig zur ESt veranlagt. Bei der > Außenprüfung des ArbG der in Teilzeit beschäftigten Frau F stellt das FA fest, dass ein Teil ihres Lohns nicht nach § 40a EStG pauscha...