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Auf einen Blick: Bei der Besteuerung muss häufiger auf Schätzungen zurückgegriffen werden. Sind etwa die Bemessungsgrundlagen der Steuer nicht exakt zu ermitteln, kann das FA schätzen. Dafür enthält § 162 AO Regeln, auch für das Lohnsteuerverfahren. Eine Schätzung entbindet den Stpfl nicht von der Verpflichtung zur Abgabe einer Steuererklärung (§ 149 Abs 1 Satz 4 AO). |
A. Allgemeine Hinweise
Rz. 1
Stand: EL 128 – ET: 11/2021
Bisweilen lassen sich exakte Zahlenwerte und sonstige Daten – aus unterschiedlichsten Gründen – nicht oder nur unter erheblichem und ggf unverhältnismäßigen Aufwand bestimmen. In solchen Fällen kommen auch im Rahmen der Besteuerung Schätzungen zum Einsatz (zB im Lohnsteuerverfahren, > Rz 9 ff). Man versteht darunter die genäherte Bestimmung von Werten, Größen oder Parametern durch Augenschein, Erfahrung oder statistisch-mathematische Methoden (> Rz 2 f). Teilweise wird oder muss von den Stpfl oder ihren Beratern auf Schätzungen zurückgegriffen werden, teilweise von der FinVerw. Der letztgenannte Fall ist abgabenrechtlich geregelt und nachfolgend dargestellt.
Rz. 1/1
Stand: EL 128 – ET: 11/2021
Kann das FA die Besteuerungsgrundlagen nicht ermitteln oder berechnen, hat es sie zu schätzen (§ 162 AO). Eine (eigene) Schätzung ist auch durch das FG zulässig (vgl § 96 Abs 1 Satz 1 FGO) und teils sogar obligatorisch, nicht jedoch durch den BFH (vgl T/K/Seer, zu § 162 AO Rz 9; > Rz 7). Gegenstand der Schätzung ist mithin die > Bemessungsgrundlage der Steuer, nicht die Steuer selbst. Zu schätzen ist besonders, wenn der Stpfl keine > Steuererklärung abgibt, die Unterlagen unvollständig oder unrichtig sind und der Stpfl keine ausreichenden Aufklärungen geben kann (BFH 169, 432 = BStBl 1993 II, 1179), weitere Auskunft oder eine Versicherung an Eides Statt verweigert oder in anderer Weise seine Mitwirkungspflicht (> Rz 2, 5) verletzt. Das Gleiche gilt, wenn der Stpfl Bücher oder Aufzeichnungen, die er nach den Steuergesetzen zu führen hat, nicht vorlegen kann, oder wenn die Buchführung oder die Aufzeichnungen nicht der Besteuerung zugrunde gelegt werden, weil ihre sachliche Richtigkeit zu beanstanden ist (§ 162 Abs 2 AO). Werden bei einer > Veranlagung von Arbeitnehmern zur ESt auch > Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit geschätzt, bei denen ein LSt-Abzug vorzunehmen war, sind grundsätzlich auch die einbehaltenen LSt-Abzugsbeträge zu schätzen. Dabei handelt es sich zwar nicht zum Besteuerungsgrundlagen iSv § 162 AO, die Verpflichtung ergibt sich jedoch in verfassungskonformer Auslegung aus § 88 Abs 2 AO. Durch eine Schätzung wird nicht die Pflicht zur Abgabe einer > Steuererklärung berührt (§ 149 Abs 1 Satz 4 AO). Diese kann weiterhin verlangt und durch > Zwangsmittel des FA erzwungen werden.
Rz. 2
Stand: EL 128 – ET: 11/2021
Mit der Schätzung sollen die Besteuerungsgrundlagen ermittelt werden, die die größte Wahrscheinlichkeit der Richtigkeit für sich haben. Wie das FA im Einzelnen unvollständige Erkenntnisquellen und Beweismittel auswertet und welche Schlüsse es aus fehlender Mitwirkung des Stpfl zieht (> Rz 4), liegt in seinem pflichtgemäßen > Ermessen (aber kein Rechtsfolgeermessen, vgl T/K/Seer, zu § 162 AO Rz 9). Kann eine Schätzung auf verschiedene Arten vorgenommen werden, obliegt es dem FA bzw FG zu entscheiden, welcher Schätzungsmethode es sich bedienen will, solange diese geeignet ist, ein vernünftiges und der Wirklichkeit entsprechendes Ergebnis zu erzielen. Es besteht keine Verpflichtung, ein aufgrund einer zulässigen Schätzungsmethode gewonnenes Ergebnis durch die Anwendung einer weiteren Schätzungsmethode zu überprüfen (BFH/NV 2016, 1747).
Rz. 3
Stand: EL 128 – ET: 11/2021
Um alle Beteiligten vor willkürlichem Vorgehen zu bewahren, bedarf die in freier Beweiswürdigung gewonnene Überzeugung aber der Objektivierung: Das Vorgehen bei der Schätzung muss deshalb im Einzelnen nachvollziehbar und überprüfbar sein. Es muss anerkannten Schätzungsmethoden (> Rz 4, 10), den allgemeinen Erfahrungssätzen sowie den Denkgesetzen entsprechen. Es sind alle Umstände zugunsten und zuungunsten des Stpfl zu berücksichtigen (§ 162 Abs 1 Satz 2 AO), auch solche, die dem FA noch nicht bekannt sind, deren Aufklärung (§ 88 AO) aber im Rahmen des Zumutbaren liegt (vgl BFH/NV 1997, 593). Der für die Aufklärung voraussichtliche Aufwand an Zeit und Arbeit und sein Verhältnis zum steuerlichen Erfolg sind zu beachten (BVerfG 35, 283 vom 20.06.1973 – 1 BvL 9/71, 1 BvL 10/71, BStBl 1973 II, 720 [723] mwN). Das FA kann seine Schätzung auch darauf stützen, dass entsprechende Schätzungen in den Vorjahren hingenommen wurden (EFG 1991, 166), muss aber gleichwohl aktenkundig machen, auf welchen Anhaltspunkten und Überlegungen seine Schätzung beruht (vgl BFH 188, 10 = BStBl 1999 II, 382). Zu Arten und Schätzungsmethoden vgl T/K/Seer, § 162 AO Rz 46 ff; K/v Wedelstädt, § 162 AO Rz 49ff. Zur Schätzung von Besteuerungsgrundlagen bei Steuerhinterziehung vgl BFH 107, 168 = BStBl 1973 II, 68. Auch die > Vorauszahlungen auf die Einkommensteuer beruhen auf eine...