Rz. 1
Stand: EL 111 – ET: 01/2017
Der aus dem Zivilrecht (§ 242 BGB) stammende Grundsatz von Treu und Glauben gilt auch für das öffentliche Recht. Er besagt, dass alle Beteiligten, also das FA, der Stpfl und als Haftende in Betracht kommende Personen wie zB der ArbG und selbst die Gerichte (vgl BFH 241, 206 = BStBl 2013 II, 669) sich so verhalten müssen, wie es die billige Rücksichtnahme auf andere Beteiligte gebietet. Jeder hat auf die berechtigten Belange des anderen Teils angemessen Rücksicht zu nehmen. Keiner darf sich mit seinem eigenen früheren (nachhaltigen) Verhalten in Widerspruch setzen, auf das der andere vertraut und auf Grund dessen er unwiderruflich disponiert hat (BFH 206, 292 = BStBl 2004 II, 975 mwN; BFH 233, 18 = BStBl 2011 II, 613 mwN). Auch gegenüber dem Gesetzgeber wird ein von diesem geschaffener Vertrauenstatbestand geschützt (BFH/NV 2001, 703 = BStBl 2001 II, 405). Treu und Glauben gehören deshalb zu den > Rechtsquellen des Lohnsteuerrechts.
Rz. 2
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Die Beteiligten sind also zu einem "konsequenten Verhalten" verpflichtet (vgl BGH NJW 1960, 2334). Das kann dazu führen, dass das FA an eine im Einspruchsverfahren vertretene Rechtsauffassung gebunden bleibt (BFH 148, 551 = BStBl 1987 II, 313; EFG 2000, 1090). An der Verwirklichung eines auf Gesetz beruhenden Steueranspruches ist das FA vor allem dann gehindert, wenn das Vertrauen des Stpfl in eine zugesagte steuerliche Behandlung oder einen anderweitig geschaffenen Vertrauenstatbestand nach allgemeinem Rechtsgefühl so schutzwürdig ist, dass demgegenüber der Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung zurücktreten muss (BFH 233, 18 Tz 29 – aaO). Unter diesen Voraussetzungen kann der Grundsatz von Treu und Glauben auch eine spätere Änderung wegen neuer Tatsachen ausschließen (BFH 196, 195 = BStBl 2002 II, 2; > Aufhebung und Änderung von Verwaltungsakten Rz 19). Voraussetzung für eine Bindung des FA ist aber außerdem, dass der vom Stpfl mitgeteilte Sachverhalt in allen wesentlichen Punkten richtig und vollständig ist (BFH/NV 2001, 296).
Rz. 2/1
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Die Änderung einer Steuerfestsetzung soll grundsätzlich ausgeschlossen sein, wenn die Unrichtigkeit bei gehöriger Erfüllung der > Ermittlungspflicht des Finanzamts schon vorher hätte festgestellt werden können (vgl zB BFH/NV 2012, 1575). Gleichwohl ist das FA durch Treu und Glauben nicht an der Korrektur eines offensichtlichen Fehlers gehindert, obwohl es dem Stpfl vorher mitgeteilt hatte, sein Steuerfall sei abschließend geklärt (BFH/NV 2012, 550). Macht der Stpfl Altersvorsorgeaufwendungen in doppelter Höhe geltend, darf das FA später den Steuerbescheid nach § 173 Abs 1 Nr 1 AO ohne Verstoß gegen Treu und Glauben ändern, obwohl es versäumt hat, die unklare Bescheinigung des Versorgungswerks zu hinterfragen (BFH 241, 9 = BStBl 2013 II, 997). Bei einer ausschließlich automationsgestützten Steuerfestsetzung (vgl § 155 Abs 4 AO idF des StModG vom 18.07.2016) werden die Ermittlungspflichten des FA gesetzlich eingeschränkt. UE kann sich der Stpfl in solchen Fällen nur dann auf Treu und Glauben berufen, wenn er selbst auf Unklarheiten hingewiesen und damit die bearbeiterlose Steuerfestsetzung ausgeschlossen hat (vgl § 150 Abs 7 AO).
Rz. 3
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Eine Bindung an eine Rechtsauffassung kann nur für sich in Anspruch nehmen, wem das Verhalten des anderen bekannt geworden ist. Deshalb kann sich zB der persönlich in Anspruch genommene ArbN nicht darauf berufen, dass die Haftung des ArbG wegen Verstoßes gegen Treu und Glauben ausgeschlossen wäre (vgl BFH 164, 266 = BStBl 1991 II, 720). Auch das Verhalten einer ZALSt oder einer OFD kann keinen Vertrauenstatbestand schaffen, an den das FA gebunden ist (BFH 232, 5 Tz 26 = BStBl 2011 II, 479).
Rz. 4
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Kindergeld kann die Familienkasse auch dann zurückfordern, wenn sie in Kenntnis der Umstände, die zum Wegfall des Kindergeldanspruchs führen, zunächst weiterhin Leistungen erbringt. Treu und Glauben stehen dem erst dann entgegen, wenn besondere Umstände die Rückforderung als illoyale Rechtsausübung erscheinen lassen (BFH 203, 472 = BStBl 2004 II, 123; BFH/NV 2012, 944; ergänzend > Kindergeld Rz 60 ff).
Rz. 5
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Treu und Glauben wirken idR im Steuerrecht rechtsbegrenzend. Die Regel lässt keine Ansprüche und Rechte erlöschen, sondern hindert das FA lediglich, gesetzlich entstandene Steuer- oder Haftungsansprüche zu realisieren (vgl T/K, § 4 AO Tz 166). Dem Grundsatz von Treu und Glauben entspricht es auch, dass sich die Beteiligten an einer zulässigen und wirksamen ‚tatsächlichen Verständigung’ festhalten lassen müssen (BFH 181, 105 = BStBl 1996 II, 625). Ergänzend > Auskünfte und Zusagen des Finanzamts Rz 4, 29 ff, > Außenprüfung Rz 56, > Vereinbarungen mit dem Finanzamt. Der > Vorbehalt der Nachprüfung verhindert idR aber die Entstehung eines auf Treu und Glauben gestützten Vertrauensschutzes (BFH/NV 2009, 716).
Rz. 6
Stand: EL 111 – ET: 01/2017
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